Jacques Brel: Ne me quitte pas – Geh nicht fort

Kann man Poesie übersetzen? Ja, bestimmt. Kann man übersetzte Poesie auch geniessen? Nicht unbedingt. Eine originalgetreue Übersetzung von Poesie ist oft keine Poesie, sondern wenig mehr als die Inhaltsangabe zum ursprünglich poetischen Text. Grad so, als würde man ein gackerndes Huhn neben einen tirilierenden Paradiesvogel stellen.

Erst die Nachdichtung macht aus Poesie eine geniessbare Übersetzung. Das ist dann allerdings das Werk von zwei Autoren.

Ich habe mich an Jacques Brels Ne me quitte pas versucht, ein wunderschönes Liebeslied aus einer anderen Zeit. Doch hört und seht selbst:

Ne me quitte pas

Geh nicht fort

Ne me quitte pas
Il faut oublier
Tout peut s’oublier
Qui s’enfuit déjà,
Oublier le temps
Des malentendus
Et le temps perdu
A savoir comment
Oublier ces heures
Qui tuaient parfois
A coups de pourquoi
Le cœur du bonheur
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas

Moi je t’offrirai
Des perles de pluie
Venues de pays
Où il ne pleut pas
Je creuserai la terre
Jusqu’après ma mort
Pour couvrir ton corps
D’or et de lumière
Je ferai un domaine
Où l’amour sera roi
Où l’amour sera loi
Où tu seras reine
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas

Ne me quitte pas
Je t’inventerai
Des mots insensés
Que tu comprendras
Je te parlerai
De ces amants là
Qui ont vu deux fois
Leurs cœurs s’embraser

Je te raconterai
L’histoire de ce roi
Mort de n’avoir pas
Pu te rencontrer
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas

On a vu souvent
Rejaillir le feu
de l´ancien volcan
Qu’on croyait trop vieux
Il est paraît-il
Des terres brûlées
Donnant plus de blé
Qu’un meilleur avril,
Et quand vient le soir
Pour qu’un ciel flamboie
Le rouge et le noir
Ne s’épousent-ils pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas

Ne me quitte pas
Je ne vais plus pleurer
Je ne vais plus parler
Je me cacherai là
A te regarder
Danser et sourire
Et à t’écouter
Chanter et puis rire
Laisse-moi devenir
L’ombre de ton ombre
L’ombre de ta main
L’ombre de ton chien
mais, Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas

Geh nicht fort.
Lass uns vergessen,
all das vergessen,
was nicht zu ändern ist.
Lass uns vergessen
die Zeit der Missverständnisse
und all die vergeudete Zeit,
bis wir wussten,
wie man die Stunden vergisst,
die mit ihren Fragen nach dem Warum
das Herz des Glücks zerstörten.
Geh nicht fort.
Geh nicht fort von mir.
Geh nicht.



Ich werde dir schenken
Regenperlen
aus einem Land,
das keinen Regen kennt.
Bis über meinen Tod hinaus
werde ich die Erde aufgraben,
um deinen Leib
mit Gold und Licht zu überhäufen.
Ich werde einen Ort erschaffen,
wo die Liebe herrscht,
wo die Liebe Gesetz wird,
wo du Königin sein wirst.
Geh nicht fort.
Geh nicht fort von mir.
Geh nicht.


Geh nicht fort.
Ich werde unsinnige Worte erfinden,
die nur du verstehst.
Ich werde dir erzählen
von jenen Liebenden,
deren Herzen
zweimal lichterloh brannten.


Ich werde dir
die Geschichte jenes Königs erzählen,
der verstarb,
weil er nicht mit dir zusammenkommen konnte.
Geh nicht fort.
Geh nicht fort von mir.
Geh nicht.

Oft schon
brach ein Vulkan,
den man längst erloschen glaubte,
von neuem aus.
Es gibt, sagt man,
verbrannte Erde,
die mehr Korn hervorbringe
als der beste April.
Und wenn der Abend naht,
schmiegt sich nicht
Rot an Schwarz,
Damit der Himmel sich entflamme?
Geh nicht fort.
Geh nicht fort von mir.
Geh nicht.


Geh nicht fort.
Ich werde nicht mehr weinen.
Ich werde verstummen.
Auf der Stelle werde ich mich verbergen,
Um anzuschauen,
wie du tanzt und lächelst,
um dich singen zu hören,
um dich lachen zu hören.
Lass mich sein
der Schatten deines Schattens,
der Schatten deiner Hand,
der Schatten deines Hundes.
Aber geh nicht fort.
Geh nicht fort von mir.
Geh nicht.

Im Luftschiff – Eine Parabel

Für Details aufs Bild klicken!

Unterwegs in einem verlotterten Luftschiff aus dem letzten Jahrhundert. Der Motor hustet und faucht, stösst dicke Rauchschwaden von sich, so dass wir Passagiere schon allein vom Atmen krank werden. Hinzu kommt die Dünung des Schiffs. Der steife Wind von rechts spielt uns übel mit. Manche krallen sich an die Reling, grün im Gesicht, und entlassen ihren Mageninhalt in die Tiefe, gekrümmt vor Schmerz und Verzweiflung. Andere beten in Richtung düsterem Himmel. Vielleicht das erste Mal in ihrem Leben. Allein die Vorstellung einer höheren Macht bietet ihnen Trost in diesen Zeiten.

Man müsste aussteigen können. Doch zweitausend Meter über dem Boden tun das nur jene, die mit ihrem Leben praktisch abgeschlossen haben. Sie packen einen der verwitterten Fallschirme, schnallen sich ihn auf den Rücken und stürzen sich mit Geheul in die Tiefe. Die anderen vertrauen darauf, dass der Kapitän sie in einen sicheren Hafen führt.

Nun fliegen wir über Kriegsgebiet. Die Welt liegt in Trümmern. Wir hoffen auf eine bessere Gegend und auf bessere Zeiten. Wir hoffen auf ein Land, wo das Leben blüht und wir getrost landen und das Gefährt des Grauens endlich verlassen können. Doch auch der Kapitän ist längst machtlos. Das Ruder des Schiffes ist unwiderruflich verklemmt. So driften wir steuerlos über den Kontinent in Richtung Wüste, wo uns der Hafen unserer Bestimmung erwartet, der Schrottplatz der Geschichte. Wenn die Landung nur gut geht!

Für Details aufs Bild klicken!


Danke Roy Snyder für die Bilder, die mich zur düsteren Parabel inspiriert haben!

Wohin mit der Empörung?

Vor über zehn Jahren sorgte ein schmales Büchlein in Europa für Furore: Stéphane Hessels Essay «Empört euch!» kam zur selben Zeit heraus, als rund um die Welt langanhaltende Proteste ausbrachen, beginnend mit dem «Arabischen Frühling» in Tunesien und bald weiteren Staaten im Maghreb und dem Nahen Osten, dann Europa erfassend mit der Protestbewegung der «Empörten» in Spanien und anderen Ländern. Schliesslich bis nach den Vereinigten Staaten überschwappend mit «Occupy Wall Street».

Wie wir wissen, ist dem «Arabischen Frühling» statt ein Sommer tiefster Winter gefolgt. Die Empörten sind in die Politik eingezogen und empören nun ihrerseits. Und Wall Street ist wieder fest in den Händen der Finanzindustrie. Alles beim Alten also? Nein, schlimmer noch: Das Alte dreht durch wie ein Berserker im Todeskampf und droht die ganze Welt mitzureissen.

Das Alte will nicht weichen

Vielleicht ist das ein Signum unserer Gegenwart. Die Welt schreit nach Erneuerung, nach neuen Lebensgrundlagen und Denkansätzen – und das Alte rastet aus. Eigentlich logisch – aber mit unendlich viel Leid verbunden. In Burma, im Iran, in Tunesien und Ägypten, in China, Russland – wo eigentlich nicht? – klammert sich eine rückwärtsgewandte Elite an die Macht und hält seine Gegner mit Gewalt in Schach – oder eliminiert sie. Andernorts streben populistische Kräfte mit alten Konzepten an die Macht, Rattenfänger der Postmoderne, die mit ihren betörenden, aber falsch klingenden Melodien das verunsicherte Volk zurück in die Finsternis des Mittelalters führen wollen.

Auch in unserer Nähe geschieht solches, etwa die Abschottungspolitik Europas gegen Flüchtlinge und MigrantInnen, inspiriert von rechtsbürgerlichen bis rechtsextremen Kreisen, welche die Angst vor dem Fremden seit je her bewirtschaften und die Politik vor sich hertreiben. Seit vielen Jahren nimmt man schulterzuckend in Kauf, dass an den Gestaden Europas Tausende ertrinken, womöglich mit einem lapidaren «selber schuld». Oder man baut Zäune, um sich vor Menschen – wie vor wilden Tiere – zu schützen, vor Menschen, denen man in ihrer Heimat seit Jahrhunderten systematisch die Lebensgrundlagen entzogen hat und es bis zum heutigen Tag tut, zum Beispiel in Form von (post-)kolonialen Handelsbeziehungen.

Empörung als zweischneidiges Schwert

Es gibt allen Grund, uns zu empören. Doch Empörung ist ein zweischneidiges Schwert. Sie führt via Hass und Fanatismus in den Abgrund. Anderseits stösst Empörung auch den Wandel hin zum Besseren an, indem die dadurch freigesetzte Energie für eine Sache eingesetzt wird, die den Missstand lindert oder gar beendet. Vielenorts begehrt die Zivilgesellschaft in diesem Sinne auf und lässt sich nicht mehr zum Schweigen bringen, zum Beispiel in Iran, wo die Menschen trotz brutaler Repression immer wieder auf die Strasse gehen und dabei unglaublichen Opfermut beweisen, um den Wandel anzustossen. Ebenso in Burma, wo die Bevölkerung sich gegen ein gnadenloses Militärregime zur Wehr setzt und einen hohen Blutzoll zahlen muss. Oder jüngst in Israel. Hier stemmt sich die Zivilgesellschaft quer durch alle Schichten und alle politischen Haltungen gegen die Unterhöhlung der Demokratie durch die neugewählte Regierung. Zu Zehnttausenden gehen die Menschen immer wieder auf die Strasse und lassen nicht zu, dass die Justiz von der Politik in Geiselhaft genommen wird.

Entscheidend ist, dass die Empörung überhaupt zum Ausdruck kommt, so dass sie nicht zu Gift gerinnt, zum Gift der Apathie und Gleichgültigkeit. Entscheidend ist auch, dass sie auf eine Art zum Ausdruck kommt, die auf eine lebenswerte Zukunft zielt und nicht allein auf die zu überwindende Vergangenheit. So werden zwar in Iran auch Parolen wie «Nieder mit der Islamischen Republik» laut. Doch der zentrale Leitspruch, der auch am besten zu mobilisieren vermag, lautet: «Frau, Leben, Freiheit». Empörung und Verzweiflung bekommen so eine Perspektive, für die sich zu kämpfen lohnt. Das setzt andere kollektive Kräfte frei als der reine Kampf gegen das Böse, der oft genug im Blut ertrinkt. Ohne eine affirmative Vision, ohne Zukunftstraum scheint mir Empörung sinnlos.

Beim Lesen von Erich Frieds Gedichten

Letzthin liess ich mich von einer erstaunlichen Geschichte aus des Dichters Kindheit dazu verführen, das Gesamtwerk von Erich Fried zu kaufen, vier schön gebundene Bände in einem Sammelschuber, erschienen beim Verlag Klaus Wagenbach. Seither stöbere und wühle ich mich durch seine Gedichte und lasse mich zunehmend faszinieren. Am Anfang stand, wie gesagt, die Begebenheit aus Erich Frieds Kindheit, die ich zunächst für eine Legende hielt, so fantastisch schien sie mir.

Im Wien der 1920er Jahre geboren, wurde er schon als Kind mit den Turbulenzen jener Zeit zwischen den beiden Weltkriegen konfrontiert. Mit seiner Mutter war er just an dem Freitag in der Inneren Stadt unterwegs, der später als «Blutiger Freitag» in die Geschichte Wiens eingehen würde. Eine Demonstration von Arbeitern lief aus dem Ruder, so dass am Ende ein Polizist tot und 86 Arbeiter erschossen waren. Erich und seine Mutter hatten im Laden von Bekannten Zuflucht gefunden und mussten ansehen, wie Verwundete und Tote auf Bahren vorbeigetragen wurden.

An Weihnachten desselben Jahres sollte Fried als Erstklässler im Festsaal der Schule ein Gedicht vortragen. Als er unmittelbar vor dem Auftritt erfuhr, dass Polizeipräsident Schober, der Verantwortliche für das Massaker an den Arbeitern, unter den Gästen war, sagte er zu den Versammelten: «Meine Damen und Herren! Ich kann leider mein Weihnachtsgedicht nicht aufsagen. Ich habe gerade gehört, Herr Polizeipräsident Doktor Schober ist unter den Festgästen. Ich war am Blutigen Freitag in der Inneren Stadt und habe die Bahren mit Toten und Verwundeten gesehen, und ich kann vor Herrn Doktor Schober kein Gedicht aufsagen.» Der Polizeipräsident sei wütend aufgesprungen und habe mit seinen Begleitern den Saal verlassen, so dass der Erstklässler Fried erneut vortrat und sprach: «Jetzt kann ich mein Weihnachtsgedicht aufsagen.»[1]

Was für eine Beherztheit, was für eine Zivilcourage eines siebenjährigen Kindes! Aus ihm sollte ein ausgesprochen engagierter politischer Dichter werden, der auch der Heine des zwanzigsten Jahrhunderts genannt wird. Fried stellt seine dichterischen Fähigkeiten weitgehend in den Dienst des politischen Kampfs gegen Faschismus, Rassismus und Unterdrückung. Mein Interesse war geweckt und Frieds Gesamtwerk schnell erstanden.

Prosagedichte der besonderen Art

Beim ersten Stöbern war ich enttäuscht. Keine Gedichte im herkömmlichen Sinn begegneten mir, sondern Prosatexte in gebrochenen Zeilen. Zum Beispiel:

Die Jungen
werfen
zum Spaß
mit Steinen
nach Fröschen

Die Frösche
sterben im Ernst[2]

Nur seine ersten Gedichte weisen Reime auf und sind rhythmisiert. Die weiteren – an die zweitausend – sind Prosagedichte ohne Rhythmus und ohne Reim.

Geht das? fragte ich mich. Ist das eine redliche sprachliche Form? Oder wird da der Leser, die Leserin veräppelt, nicht zuletzt, weil jegliche Satzzeichen fehlen. Satzzeichen sind aber – neben der Tatsache, dass sie in der Schule wie eine Heimsuchung erlebt werden können – eine Lesehilfe, die den Text gliedert und übersichtlicher gestaltet. Ich war also skeptisch und bereute schon, mich voreilig in Ausgaben gestürzt zu haben …

Erst mit der Zeit entdeckte ich die Vorzüge dieser Art des sprachlichen Ausdrucks: Er ist in dieser Form eben doch verdichtet, indem jeder Wort mehr Gewicht erhält als in einem gewöhnlichen Prosatext. Die Form der gebrochenen Zeilen fordert auch ohne Sprachrhythmus und Reim ein genaueres Hinschauen – beim Schreiben ebenso wie beim Lesen.

Höre, Israel!

Das äussert sich deutlich in seinem Gedichtzyklus Höre, Israel!, in dem er – als Jude, der durch den Naziterror seinen Vater, Verwandte und Freunde verlor und nach England ins Exil fliehen musste – mit Israel und dem Zionismus hart ins Gericht geht, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, seine Kritik sei antisemitisch motiviert. Unter anderem zerlegt er in diesem Gedichtband Zitate zionistischer Originaltexte, etwa von Theodor Herzl, in Verszeilen, «um so die Einzelheiten ihrer Sätze, vor allem auch ihrer Wortwahl deutlicher hervorzuheben».[3] [Read more…]

It’s more than the climate, stupid!

Die Klimakrise ist in aller Munde. Zu Recht, stellt sie doch für die Menschheit eine Bedrohung nie gekannten Ausmasses dar. Schon heute sind ihre Auswirkungen erschreckend. Doch wer glaubt, mit einer beherzten CO2-Reduktion weltweit sei das Problem gelöst, hat nicht verstanden, worum es geht. Nicht weniger als ein neues Verhältnis des Menschen zur Natur und zu unserem Planeten ist gefordert. Unsere Zukunft hängt davon ab, ob dies gelingt.

Inzwischen wollen alle das Klimagas CO2 reduzieren, selbst jene, die sich noch bis vor kurzem gegen den Klimaschutz gesperrt haben. Der neue Konsens ist allerdings nicht nur eine gute Nachricht. Er ist auch Ausdruck eines Tunnelblicks, der übersieht, was alles sonst noch zu tun ist, um unsere Gesellschaft enkeltauglich zu machen. Als ob die Erde eine Maschine wäre, an der man ein paar Stellschrauben justieren kann, damit sie weiterrattert wie bisher – und wir weiterwursteln können!

Der Tunnelblick führt etwa dazu, dass in der Schweiz die Produktion erneuerbarer Energien nun plötzlich auf Teufel komm raus vorangetrieben werden soll, indem in schützenswerten Berglandschaften Solarparks gebaut und, um das zu erleichtern, der Natur- und Landschaftsschutz weitgehend ausgehebelt wird. Dasselbe mit der Wasserkraft. Perfid ist die Argumentation der bürgerlichen PolitikerInnen: Sie, die langjährigen Bremser in Sachen Erneuerbare, werfen nun den Naturschutzorganisationen Verhinderungspolitik vor, weil sie den rücksichtslosen Ausbau der erneuerbaren Energie in dieser Form nicht akzeptieren wollen.

Denn ein solcher Ausbau geschähe auf Kosten der Biodiversität: Weitgehend naturbelassene Landschaften würden grossflächig zerstört und zu Industrieparks für Erneuerbare umfunktioniert. Was für eine Pervertierung des Umweltschutzgedankens! Es ist Ausdruck des Unwillens weiter Kreise in der Politik, den nötigen Wandel in seiner ganzen Tiefe zu vollziehen. Stattdessen müssen technologische Lösungen her, zumal diese auch neue Profite versprechen. Der Bär lässt sich aber nicht waschen, ohne sein Fell nass zu machen.

Zivilisationskrise

Unser Konzept von Umwelt- und Naturschutz hatte schon immer Schlagseite. Man dachte sich, man könne einzelne Schutzgebiete – möglichst weit draussen in den Bergen – ausscheiden, in denen der Mensch allenfalls auf ausgeschilderten Wegen etwas zu suchen hat. Und über die Natur ausserhalb der Schutzgebiete könnten wir wie bisher verfügen, sie also mit beruhigtem Gewissen ausbeuten und zerstören. Doch das ist zu kurz gedacht. Jede kleine Wiese, jede Kiesfläche, jede Rabatte am Strassenrand ist Hort des Lebens und fordert im Grunde unseren sorgfältigen Umgang.

Wie konnte es so weit kommen, dass wir derart gedankenlos und rabiat mit unserer Umwelt umgehen? Scheinbar blauäugig sind wir ins Anthropozän gestolpert, und nun haben wir den Salat … Die Klimakrise und die CO2-Problematik sind Teil einer viel umfassenderen Zivilisationskrise. An allen Ecken und Enden knirscht es im Gebälk. Weder das Justieren von Stellschrauben noch technologische Lösungen allein führen weiter. Es braucht ein grundsätzliches Umdenken, das ja an den Rändern der Gesellschaft längst im Gang ist.

Und machen wir uns nichts vor: Die Zeitenwende kann nur zu einem Zivilisationssprung werden, wenn wir anders wirtschaften. Der Kapitalismus in der heutigen Form hat sein Ablaufdatum überschritten, weil er dysfunktional geworden ist. Er dient längst nicht mehr den Bedürfnissen der Menschheit, sondern zerstört deren Lebensgrundlage. Man muss den Kapitalismus nicht auf den Misthaufen der Geschichte werfen. Er hat auch seine zweckmässigen Seiten. Doch seine zerstörerischen Seiten zurückzudrängen, ist ebenso wichtig wie die weltweite Reduktion des CO2-Ausstosses.

Erst wenn wir aufhören, die Natur auszubeuten, und sie stattdessen hegen und im besten Sinne kultivieren, erst wenn wir als Hauptakteure des Anthropozäns die volle Verantwortung übernehmen, haben wir eine Zukunft. Wie noch nie liegt sie in unseren Händen.

%d Bloggern gefällt das: