Postkarte aus dem boomenden Chennai

Wie ein gewaltiges Drachenskelett aus Beton thront hoch über der Strasse eine Metrostation. Sie gebiert eine Schlange auf Stelzen, nicht minder monströs, die sich zur nächsten Station windet, von Stadtteil zu Stadtteil: die Hochbahn, die für das moderne Chennai steht. Wärend der frühere Name Madras noch zum Träumen einlädt, steht Chennai für ungezügelten Bauboom, für eine Orgie in Beton, mit unzähligen Server-Farmen mitten in der Stadt etwa: fensterlos, gigantisch, unnahbar, unmenschlich. Nachts um drei wirkt Chennai, als stünde die Apokalypse kurz bevor.

Trotzdem bekomme ich jedesmal vor Freude Herzklopfen, wenn ich das Flughafengebäude verlasse und in das frühmorgendliches Chaos der Grosstadt eintauche. Es ist warm und feucht. Alles riecht üppig, das Betörende ebenso wie das Verstörende, Jasmin ebenso wie der Kadavergeruch aus der nahen Rabatte. Chennai ist in Aufruhr – auch morgens um drei. Wie schön ist es dann, von Freunden herzlich empfangen zu werden, ins Taxi einsteigen zu können und dank der Ortskenntnisse des Fahrers nochmals der Apokalypse entkommen zu sein.

Zügig geht die Fahrt durch schlaftrunkene Quartiere. Die ersten Garküchen haben geöffnet, Nester aus Licht in einer sonst dunklen städtischen Welt. Noch ruhen die Kühe, am Strassenrand oder auch mitten auf der Strasse, so dass die Autofahrer um sie herumfahren müssen, auch die Lastwagenfahrer, die alles andere einfach weghupen, nicht aber die Kühe. Nichts bringt diese aus ihrer verdauungsseligen Ruhe.

Bald liegt das boomende Chennai hinter uns und ist bloss noch eine beunruhigende Erinnerung.

Indiens neurotisches Verhältnis zum Lichtschalter

Andere Länder, andere Sitten. Und die Sitten anderer Länder erschliessen sich dem Fremden vielleicht nicht auf den ersten Blick. Oft auch nicht auf den zweiten. Sie dann allerdings kurzerhand für krankhaft zu erklären, für neurotisch, mag anmassend erscheinen, ja von postkolonialer Arroganz zeugen, wenn es sich um ein Land wie Indien handelt. Der Fremde muss sich mit Argumenten gut wappnen, will er auf seiner Diagnose beharren.

Das ist der Versuch, ein Phänomen zu deuten, das der Fremde nur in Indien angetroffen hat: der exzessive Einsatz von Lichtschaltern. Ausser in einfachen Hütten prangen an den Wänden fast sämtlicher Räume, in Wohnräumen, Ladenlokalen, Küchen oder Hotelzimmern, ganze Batterien von Lichtschaltern. Gleich neben der Eingangstür sind sie oft in mehreren Reihen und in verwirrender Übersichtlichkeit angebracht.

Betätigt der Fremde einen Schalter, geschieht zunächst nichts. Erst beim dritten Versuch beginnt irgendwo im Raum ein Ventilator zu surren. Und erst nach weiteren Versuchen wird es doch noch hell im Raum. Blickt sich der Fremde nun um, so durchzuckt ihn ein leiser Schauer, als er an der Wand gegenüber ein Tableau mit gefühlten zwanzig weiteren Schaltern entdeckt.

Wozu braucht es gegen dreissig Schalter, um einen gewöhnlichen Raum elektrotechnisch zu erschliessen? Worin mag dieser exzessive Einsatz von Lichtschaltern begründet sein? Ist er Ausdruck einer bis hin zur absoluten Perfektion fehlgeleiteten Ingenieurskunst? Oder haben wir es mit einer Überschusshandlung zu tun? Ist die manische Installation von Lichtschaltern in der Tiefenpsychologie begründet? Etwa in diesem Sinne: Um sich des zivilisatorischen Fortschritts der Elektrifizierung ganz sicher sein zu können, installiert man lieber ein paar Schalter und Stromkreise zuviel als einen zuwenig, was ja den Rückfall in vorzivilisatorische Zeiten bedeuten könnte.

Allzu viele Schalter bergen allerdings die Gefahr, dass es plötzlich dunkel wird im Raum, wo man doch eigentlich mehr Licht haben wollte, weil man den falschen Schalter betätigt hat.

Und steht das nicht bildhaft für ein Indien, wo die Herren an den Hebeln der Macht keine Ahnung zu haben scheinen, welche Schalter zu betätigen sind, welche Massnahmen zu ergreifen sind, damit die Gegenwart endlich heller wird für die vielen Menschen des Subkontinents? Statt dessen geht an vielen Orten das Licht aus. Einzig die Glut des Hasses leuchtet dort ungesund. Und es ist ausgerechnet der oberste Captain der nationalen Feuerwehr, der, statt diese Glutnester zu löschen, Unmengen Benzin bereit hält, um nach eigenem Gutdünken neue Brandherde zu schüren oder die bestehenden neu zu entfachen.

Der Fremde hat inzwischen den Umgang mit der Klaviatur der Lichtschalter gelernt. Sie sind für ihn ein Spiel geworden im Sinne eines Gedächtnistrainings, Schon nach wenigen Tagen am selben Ort kennt er die Funktion jedes einzelnen Schalters auswendig und weiss auch, welcher Schalter ohne Funktion ist.

Wenn nur an den Schalthebeln der Macht auch der Wille vorhanden wäre, Glutnester zu löschen und Licht zu machen, wo es dunkel ist! Oder ist tatsächlich die Übersicht über die richtigen Hebel und Schalter verloren gegangen?

Anreise mit Unbill

Wer eine Reise tut, der kann was erzählen. Erst recht, wenn der Wurm drin war. Doch keine Angst! Ich bin glücklich in Auroville, Tamil Nadu, angekommen – mit lächerlichen drei Stunden Verspätung. Da hätte leicht mehr draus werden können.

Es begann schon in Basel: Der Zug nach Frankfurt Flughafen fiel aus, beziehungsweise fuhr nur bis zum Badischen Bahnhof, keine fünf Kilometer von Basel SBB entfernt, da er schon etwas spät dran war … Ich hatte in diesem Zug einen Rollstuhlplatz reserviert und die Ein- und Austieghilfe organisiert. Nun ist es mit einigem organisatorischen Aufwand verbunden, die Einstieghilfe mit Hebelift statt in Basel SBB im Badischen Bahnhof stattfinden zu lassen. Erschwerend kam hinzu, dass das länderübergreifend und innerhalb einer Viertelstunde zu geschehen hatte. Zudem musste ich ja noch vom einen zum anderen Bahnhof gelangen – innerhalb derselben Viertelstunde, versteht sich. Als ich mir auf dem Bahnsteig – in Basel SBB – diese Unmöglichkeit durch den Kopf gehen liess und nach Alternativen suchte – zum Glück war der Flug von Frankfurt nach Chennai erst am anderen Morgen –, kam der Bahnangestellte, der bestimmt mit eben dieser meiner Einstieghilfe betraut und vielleicht ebenso überrascht wie ich gewesen war, auf mich zu und fragte, ob ich nicht in den Zug Richtung Kiel gleich gegenüber einsteigen und im Badischen Bahnhof umsteigen wolle. Natürlich wollte ich – und er erledigte ebenso informell wie verlässlich die organisatorische Feinarbeit. So sass ich schliesslich doch noch im richtigen Zug, der mit lächerlichen drei Minuten Verspätung vom Badischen Bahnhof Richtung Frankfurt Flughafen losfuhr. Der Kieler Zug musste lange warten, bis die vorsindtflutliche Hebebühne dort angelangt war, wo ich darum bangte, dass mich tatsächlich jemand auslud.

Unvergessen das Bild, wie wir, mit dem scheppernden Ungetüm im Schlepptau den leeren Bahnsteig entlang krochen, während praktisch am vorderen Ende der ICE-Doppelkomposition ein kleines Männchen auf uns wartete, unmöglich auszumachen, ob mit oder ohne rote Schirmmütze.

Erneute Schwierigkeiten mit der Einstieghilfe bekam ich kurz vor dem Abflug: Obschon ich meine besonderen Bedürfnisse als Rollstuhlfahrer beim Einsteigen ins Flugzeug pflichtgemäss und in allen Details angemeldet hatte, war, als es denn soweit war, niemand vor Ort, der mir dabei hätte behilflich sein können. Wieder musste die Hilfe ad hoc organisiert werden. Ich war der letzte, der ins Flugzeug kam. Lächerliche zehn Minuten gingen durch das unvorhergesehene Manöver verloren.

Man kommt auch nicht auf die Idee, mit dem Rollstuhl so entfernte Länder besuchen zu wollen.

Der Rest des Unbills ist schnell erzählt: Der Pilot musste in Frankfurt den Start abbrechen, weil die Bremsen des rechten Fahrwerks nicht richtig funktionierten. Ad hoc wurden diese ausgewechselt, während wir Passagiere auf den Sitzen ausharrten und hofften, dass die Mechaniker trotz des Zeitdrucks zuverlässig arbeiteten. Anschliessend musste die Boeing nochmals aufgetankt werden, da sie beim misslungenen Start drei Tonnen Flugbenzin (!) verbrannt hatte.

Mit lächerlichen drei Stunden Verspätung flogen wir schliesslich in den Himmel Richtung Chennai und landeten dort sicher. Die anschliessende Taxifahrt nach Auroville verlief problemlos.

Wiederbegegnung mit Goupy

Goupy lebt heute im Home Marika, einem kleinen Altersheim unweit von Sharnga Guest House, wo ich wohne. Mitten in einem gepflegten Garten voller Blumen, mit romantischen Kieswegen und einem Lotusteich steht ein beschauliches Haus, in dem vielleicht fünf, sechs Menschen wohnen, die wegen ihres Alters Unterstützung und Pflege brauchen. Nachdem ich erfahren hatte, dass Goupy seit Jahren dort lebt, wuchs in mir der Wunsch, diesen Menschen wiederzusehen.

Ein einziges Mal vor zehn Jahren war ich ihm begegnet. Der gebürtige Franzose war einer der Pioniere Aurovilles und übte – neben der Aufbauarbeit – den Beruf, ja die Berufung des Masseurs aus, eines Masseurs, dem der Ruf vorausging, ein wahrer Heiler zu sein. Ich liess mich von ihm massieren, weniger vielleicht weil ich Heilung suchte, sondern weil ich diesen Menschen kennenlernen wollte. Vor mir stand damals ein durchgeistigtes kleines Männchen, ganz Aufmerksamkeit, ganz Ehrerbietung. Er brachte meinem Körper eine solche Achtung entgegen, wie ich es selbst bis zu jenem Zeitpunkt niemals vermochte. Als er mich nach eineinhalb Stunden entliess, mein Körper butterweich und wie von einem Summen durchdrungen, fragte ich ihn, was die Massage kosten würde. Gott und the Mother würden für sein Fortkommen sorgen. Er brauche nichts. Ich könne aber, wenn ich durchaus wolle, in eines jener Bücher – und er zeigte auf ein Gestell mit etlichen Büchern – einen Schein hineinlegen, was ich auch tat.

Diesem hingebungsvollen, verklärten Menschen bin ich heute also im Home Marika wiederbegegnet. Man sagte mir, er sei dort in Pflege, weil er völlig der Trunksucht erlegen war und dement geworden sei. Zudem habe er sein Gedächtnis verloren. Ich solle ihm bloss kein Geld geben, da er einzig versuchen würde, damit Alkohol zu kaufen. Als ich ankam und nach ihm fragte, bat mich eine junge Tamilin hinters Haus und rief Goupy, der auf einem Balkon im oberen Stockwerk sass. Ein fröhliches Gesicht voller Schalk blickte über die Brüstung und rief «Om! Om! Everything is Om! What a beautiful world!» Danach sang es leise vor sich hin. Ich erinnerte ihn an unsere Begegnung vor zehn Jahren und wie dankbar ich sei, dass er mich gelernt habe, mehr Achtung vor meinem Körper zu haben. Zuerst wollte er gar nicht herunterkommen. Doch die Pflegerin führte ihn sanft zu dem Ort hinter dem Haus, wo ich sass. In der Hand hielt er ein überquellendes Notizbuch, das er mir zeigte. «Mein Gedächtnis», sagte er lachend und sang wieder leise, ganz offensichtlich glücklich und zufrieden. Als ich ihn fragte, ob er noch immer zwischendurch Leute massiere, antwortete er: «Ja, tue ich, wenn jemand kommt und seinen Körper mitbringt. Wenn er ihn nicht mitbringt, massiere ich natürlich nicht.» Und sang weiter sein Loblied auf die schöne Welt.

Murugan

Seit gut sechs Jahren kennen wir uns. Und in dieser Zeit hat sich zwischen Murugan und mir eine Freundschaft entwickelt, die anders ist als andere Freundschaften – nicht besser, nicht weniger gut, eben anders. Murugan ist Tamile, Steinmetz (stonecarver = Stein«schnitzer»), tiefgläubiger Hindu und lebt in einem der Dörfer rund um Auroville im indischen Bundesstaat Tamil Nadu. Es ist also eine Freundschaft über manche Welten und Klippen hinweg, Klippen der Herkunft, der Kultur, der Weltanschauung, des Menschenbildes, auch des wirtschaftlichen Status und der Bildung. Trotzdem funktioniert sie bis heute, obschon selbst die sprachliche Verständigung schwierig ist, da Murugans Englisch eher schlecht denn recht ist und mein Tamilisch nicht einmal das.

Murugan und seine Frau, Muthulakshmi, haben zwei Söhne im Erwachsenenalter und eine Tochter, die eben 18 Jahre alt geworden ist. Aufgewachsen sind die Kinder in einem Häuschen, bestehend aus einem einzigen Raum von vielleicht 15 Quadratmetern mit festen Wänden aus Lehm und einem Dach aus kunstvoll ineinandergeschichteten Palmwedeln. Eher Hütte denn Haus, galt dieser Wohnsitz schon als ganz komfortabel, hatte er doch feste Wände und ein Dach, das während der Monsunzeit einigermassen dicht war, zumindest die ersten Jahre seiner Lebenszeit. Zudem hatte die Familie Strom im Haus, fast schon ein Luxus, allerdings kein fliessendes Wasser. Gekocht wurde vor dem Häuschen auf einer kleinen Feuerstelle. Später konnte die Familie sich einen Gaskocher leisten. Die Feuerstelle wurde noch benutzt, wenn das Gas aufgebraucht war und erst im nächsten Monat neues gekauft werden konnte. Denn der Staat von Tamil Nadu subventioniert armen Familien die Güter des täglichen Bedarfs bis zu einer gewissen Menge, je nach Anzahl Kinder.

Murugan selbst hatte eine schwere Kindheit. Sein Vater war Alkoholiker und äusserst brutal, wenn er betrunken war. Als Murugan neun Jahre alt war, starb seine Mutter infolge der Misshandlungen durch ihren Ehemann. Dieser heiratete bald wieder und verstiess seinen Sohn, der von nun an bei der Grossmutter aufwuchs. Das sollte sich als sein Glück erweisen. Denn seine Grossmutter sorgte dafür, dass er weiterhin zur Schule ging und nicht schon als Junge Geld verdienen musste. Später, als Jugendlicher beobachtete er eines Tages einen Steinbildhauer bei seiner Arbeit und entdeckte seine Liebe zu diesem Handwerk. Allerdings wurde er zunächst nicht zur entsprechenden Schule in Tiruvannamalay zugelassen, da er zu alt war – ein Jahr zu alt, um genau zu sein. Nur seiner eigenen Hartnäckigkeit und der Fürsprache eines älteren Steinmetzes war es zu verdanken, dass er schliesslich doch aufgenommen wurde und bald zum Vorzeigeschüler der Schule wurde. Später nahm ihn sein Fürsprecher unter seine Fittiche, bis Murugan selbst ein Meister seines Fachs wurde.

Nun darf man sich nicht vorstellen, dass Murugan ein Künstler wäre. Vielmehr ist er ein Kunsthandwerker, der seine traditionellen Motive – meist Götterfiguren in festgelegter Darstellungsweise – in kürzester Zeit aus dem Stein bricht und so täglich eine ansehnliche Produktion zustande bringt. Meist sind es höchstens faustgrosse Figuren aus Speckstein oder Marmor, die in einer kleinen Auslage vor Ort zu verkaufen sucht. Die meisten seiner Kunden sind Touristen, die Auroville besuchen. Gerade mal vier Monate im Jahr läuft das Geschäft. Wobei auch in diesen vier Monaten die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Täglich werden vielleicht im Durchschnitt 400 Rupien umgesetzt, das sind nicht ganz sechs Schweizer Franken.

Ein Handwerk, über Jahrzehnte ausgeübt, hinterlässt körperliche Spuren. Das ist in Indien nicht anders als irgendwo auf der Welt. Doch in Indien ist das Handwerkzeug oft deutlich schlichter und die ergonomischen Bedingungen sind nicht die besten: Murugan sitzt zum Arbeiten meist am Boden oder auf einem niedrigen Schemel, wobei ihm die beiden grossen Zehen als eine Art Schraubstock dienen. Allerdings, so betont Murugan, ist dieser Schraubstock aus Fleisch und Blut sehr viel geschmeidiger und anpassungsfähiger als ein gewöhnlicher Schraubstock aus Stahl. Manche Feinheiten im Stein sind nur so zu bewältigen, weil das Werkstück in einem üblichen Schraubstock brechen würde. Das erkauft sich Murugan allerdings mit Schmerzen in den Knien und dem Rücken. Kein Wunder bei einer Arbeitswoche von sechs bis sieben Tagen!

Muthulakshmi, Murugans Frau, arbeitet in einer Soya-Manufaktur in Auroville. Beide Einkünfte zusammen ermöglichen der Familie einen bescheidenen Wohlstand, so dass sie in ein besseres Haus umziehen konnten. Die Hütte dient nunmehr als Werkstatt und Shop.

Unsere Verbindung begann vor sechs Jahren. Gut erinnere ich mich, als ich Murugan zum ersten Mal sah, wie er, vor seinem einfachen Häuschen in Kuilappallayam sitzend, an einer Figur arbeitete. Mit freundlicher Geste und einem hellen Lachen im Gesicht rief er mich zu sich und zeigte mir sein Tageswerk. Wir kamen ins Gespräch, er in gebrochenem Englisch, ich in gebrochenem Englisch – ein Wunder, dass eine tiefere Verständigung überhaupt zustande kam. Später besuchte ich ihn immer wieder, weil ein ungezwungenes Zusammensein möglich war. Nicht als Kunde, vielmehr als Gast fühlte ich mich. Er werkelte jeweils an seinen Figuren, und ich erfuhr viel über sein Leben, über das Leben der TamilInnen in den Dörfern und über seine Familie. Erst Wochen später, als ich bereits wieder in der Schweiz war, schrieb Murugan – beziehungsweise einer seiner Söhne, unterschrieben mit Murugan – mir eine Mail, in der er mich für die Ausbildung seines jüngeren Sohnes um Unterstützung bat. Nach Abklärungen und einer plausiblen Aufstellung der Kosten willigte ich ein. Und seither fliesst halbjährlich ein immer wieder neu ausgehandelter Betrag aufs Bankkonto seiner Frau. Bei einem späteren Wiedersehen schlug ich vor, dass auch die Tochter ihre Schule fortführen und eine Ausbildung machen solle. Ich würde die zusätzlichen Kosten, allerdings immer plausibilisiert, übernehmen.

Kann zwischen einem Mäzen, der ich inzwischen tatsächlich geworden bin – allerdings in bescheidenem Mass, wenn man die fragliche Summe betrachtet –, und den Empfängern dieses Geldes tatsächlich eine Freundschaft entstehen? Oder gibt es zwischen den beiden unterschiedlichen Rollen ein Gefälle, eine Kluft, die eine echte Freundschaft verhindert, zumal ja noch weitere Klippen – der Kultur, des Menschenbildes, des wirtschaftlichen Status – hinzukommen? Ich glaube, wir haben da eine passende Lösung gefunden. Murugan nämlich betrachtet mich in gewisser Weise als seinen Vater, vielleicht sogar als später Ersatz für das, was er als Kind verloren hat. Er betrachtet mich, und das hat er auch schon so ausgesprochen, als Vater der ganzen Familie. So bin ich denn unverhofft doch noch Vater, ja Grossvater geworden … Und wer will bestreiten, dass zwischen Vater und Sohn auch ein freundschaftliches Verhältnis herrschen kann – ein freundschaftliches Verhältnis der anderen Art eben?