Vor über zehn Jahren sorgte ein schmales Büchlein in Europa für Furore: Stéphane Hessels Essay «Empört euch!» kam zur selben Zeit heraus, als rund um die Welt langanhaltende Proteste ausbrachen, beginnend mit dem «Arabischen Frühling» in Tunesien und bald weiteren Staaten im Maghreb und dem Nahen Osten, dann Europa erfassend mit der Protestbewegung der «Empörten» in Spanien und anderen Ländern. Schliesslich bis nach den Vereinigten Staaten überschwappend mit «Occupy Wall Street».
Wie wir wissen, ist dem «Arabischen Frühling» statt ein Sommer tiefster Winter gefolgt. Die Empörten sind in die Politik eingezogen und empören nun ihrerseits. Und Wall Street ist wieder fest in den Händen der Finanzindustrie. Alles beim Alten also? Nein, schlimmer noch: Das Alte dreht durch wie ein Berserker im Todeskampf und droht die ganze Welt mitzureissen.
Das Alte will nicht weichen
Vielleicht ist das ein Signum unserer Gegenwart. Die Welt schreit nach Erneuerung, nach neuen Lebensgrundlagen und Denkansätzen – und das Alte rastet aus. Eigentlich logisch – aber mit unendlich viel Leid verbunden. In Burma, im Iran, in Tunesien und Ägypten, in China, Russland – wo eigentlich nicht? – klammert sich eine rückwärtsgewandte Elite an die Macht und hält seine Gegner mit Gewalt in Schach – oder eliminiert sie. Andernorts streben populistische Kräfte mit alten Konzepten an die Macht, Rattenfänger der Postmoderne, die mit ihren betörenden, aber falsch klingenden Melodien das verunsicherte Volk zurück in die Finsternis des Mittelalters führen wollen.
Auch in unserer Nähe geschieht solches, etwa die Abschottungspolitik Europas gegen Flüchtlinge und MigrantInnen, inspiriert von rechtsbürgerlichen bis rechtsextremen Kreisen, welche die Angst vor dem Fremden seit je her bewirtschaften und die Politik vor sich hertreiben. Seit vielen Jahren nimmt man schulterzuckend in Kauf, dass an den Gestaden Europas Tausende ertrinken, womöglich mit einem lapidaren «selber schuld». Oder man baut Zäune, um sich vor Menschen – wie vor wilden Tiere – zu schützen, vor Menschen, denen man in ihrer Heimat seit Jahrhunderten systematisch die Lebensgrundlagen entzogen hat und es bis zum heutigen Tag tut, zum Beispiel in Form von (post-)kolonialen Handelsbeziehungen.
Empörung als zweischneidiges Schwert
Es gibt allen Grund, uns zu empören. Doch Empörung ist ein zweischneidiges Schwert. Sie führt via Hass und Fanatismus in den Abgrund. Anderseits stösst Empörung auch den Wandel hin zum Besseren an, indem die dadurch freigesetzte Energie für eine Sache eingesetzt wird, die den Missstand lindert oder gar beendet. Vielenorts begehrt die Zivilgesellschaft in diesem Sinne auf und lässt sich nicht mehr zum Schweigen bringen, zum Beispiel in Iran, wo die Menschen trotz brutaler Repression immer wieder auf die Strasse gehen und dabei unglaublichen Opfermut beweisen, um den Wandel anzustossen. Ebenso in Burma, wo die Bevölkerung sich gegen ein gnadenloses Militärregime zur Wehr setzt und einen hohen Blutzoll zahlen muss. Oder jüngst in Israel. Hier stemmt sich die Zivilgesellschaft quer durch alle Schichten und alle politischen Haltungen gegen die Unterhöhlung der Demokratie durch die neugewählte Regierung. Zu Zehnttausenden gehen die Menschen immer wieder auf die Strasse und lassen nicht zu, dass die Justiz von der Politik in Geiselhaft genommen wird.
Entscheidend ist, dass die Empörung überhaupt zum Ausdruck kommt, so dass sie nicht zu Gift gerinnt, zum Gift der Apathie und Gleichgültigkeit. Entscheidend ist auch, dass sie auf eine Art zum Ausdruck kommt, die auf eine lebenswerte Zukunft zielt und nicht allein auf die zu überwindende Vergangenheit. So werden zwar in Iran auch Parolen wie «Nieder mit der Islamischen Republik» laut. Doch der zentrale Leitspruch, der auch am besten zu mobilisieren vermag, lautet: «Frau, Leben, Freiheit». Empörung und Verzweiflung bekommen so eine Perspektive, für die sich zu kämpfen lohnt. Das setzt andere kollektive Kräfte frei als der reine Kampf gegen das Böse, der oft genug im Blut ertrinkt. Ohne eine affirmative Vision, ohne Zukunftstraum scheint mir Empörung sinnlos.
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