Der maschinenlesbare Mensch

Der maschinenlesbare Mensch wird immer mehr zur Tatsache. Dass dabei die Einwilligung der Betroffenen zunehmend überflüssig wird, zeigt ein Artikel in der deutschsprachigen Ausgabe von LE MONDE diplomatique. Eine Leseempfehlung.

In ihrem Text „Big Brother war gestern“ lenkt die Diplominformatikerin Constanze Kurz die Aufmerksamkeit der Leserin, des Lesers auf ein Thema, das noch wenig bekannt ist und der Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung zusätzliche Brisanz verleiht. Denn der Mensch ist heute nicht mehr nur in seinen körperlichen Merkmalen vermessbar (Biometrie), auch sein Verhalten – etwa sein charakteristischer Gang oder seine Stimme – kann automatisiert erfasst und analysiert werden.

Biometrie

Symbol für biometrische Pässe

Mit dem biometrischen Reisepass trat die Biometrie erstmals ins Bewusstsein breiter Bevölkerungskreise. Zwar ist die Skepsis einem solchen Pass gegenüber immer noch gross, doch unter dem Label Sicherheit lässt sich heute vieles verkaufen, was noch bis vor kurzem undenkbar gewesen wäre. Beim biometrischen Pass wird mindestens ein Fingerabdruck in elektronischer Form auf einem Chip hinterlegt, so dass bei einer Passkontrolle dieser gespeicherte Fingerabdruck mit dem effektiven Fingerabdruck des Passbesitzers vor Ort abgeglichen werden kann und so eine eindeutige Identifizierung möglich ist.

Auch kommerzielle Anwendungen der automatisierten Biometrie sind bereits im Einsatz. In einigen Einkaufszentren kann inzwischen per Fingerabdruck bezahlt werden: Nach seiner Registrierung lässt der Kunde an der Kasse einfach die Kuppe seines Fingers scannen, und schon können die Kosten des Einkaufs automatisiert seinem Konto belastet werden. So weit, so praktisch und bequem!

Softwaregestützte Analyse des Verhaltens

Doch nicht nur der Fingerabdruck, auch die Form des Gesichts und der Gestalt, ja sogar der Klang der Sprache, der menschliche Gang oder etwa die Art und Weise der Bedienung einer Tastatur können heute weitgehend eindeutig und automatisiert einer Person zugeordnet werden, sofern vorgängig entsprechende Daten gesammelt wurden. Längst existieren Computerprogramme, die eine solche Analyse in kürzester Zeit vornehmen – und diese kommen auch zum Einsatz. So ist es zum Beispiel möglich, dass eine Person im Aufnahmebereich einer Überwachungskamera – sagen wir in einem öffentlichen Parkhaus – über eine benachbarte Kamera weiter hinten automatisch aufgrund ihrer Gestalt und der Kleider wiedererkannt wird. Dies geschieht wie gesagt automatisch, softwaregesteuert und nicht durch die Aufmerksamkeit eines Menschen, der sich die Bilder anschaut.

Bewältigung der Bilderflut

Denn ein Mensch – oder auch ein ganzes Team – ist durch die Bilderflut, die täglich durch eine oder mehrere Überwachungskameras anfällt, heillos überfordert. Noch bis vor kurzem hatte das etwas Tröstliches: Mögen die sammeln, was sie wollen! Sie können die Sintflut an Daten ja doch nicht umfassend auswerten. Doch inzwischen ist das anders. Die Auswertung geschieht heute softwaregestützt. Die Überwacher werden duch die Software auf Auffälligkeiten aufmerksam gemacht. So wird etwa angezeigt, wenn ein Mann im Bereich einer Überwachungskamera – zum Beispiel in einer U-Bahn-Station – lange stehen bleibt oder atypische Laufmuster zeigt. Und im Gegensatz zum Menschen, der an der Kasse per Fingerabdruck zahlt, wird hier nicht nach dessen Einwilligung gefragt. Man weiss nie, ob die Bilder einer Überwachungskamera bloss einen Wachmann langweilen oder nach Strich und Faden ausgewertet werden.

Was können wir tun?

Wichtige Voraussetzung für die softwaregestützte Auswertung von Aufzeichnungen ist ihre Vernetzung, also die Umstellung der Überwachungskameras auf Internetprotokolle. Die Videosignale können dadurch zur Auswertung an einem beliebigen Ort zusammengeführt werden. Wichtige Voraussetzung ist auch, dass Speicherkapazitäten immer billiger zu haben sind.

Der Mensch ist auch in seinem Verhalten maschinenlesbar geworden. Die technischen Voraussetzungen sind vorhanden und werden perfektioniert, nicht zuletzt auch indem die verschiedenen Analysemethoden kombiniert werden. Ob kommerziell oder im Interesse der Überwachung – die Instrumente zur umfassenden Durchleuchtung des Menschen und seines Verhaltens stehen bereit und werden nur durch gesetzliche Bestimmungen und soziale Normen beschränkt. Hier besteht inzwischen die einzige Möglichkeit unserer Einflussnahme.

Weiterführender Link: Chaos Computer Club

Das unerbittliche Gedächtnis des WWW

In der WoZ, der „Wochenzeitung„, habe ich einen ausgezeichneten Artikel gelesen über die langfristige Speicherung von Informationen im Internet, insbesondere bei Google, und was das für die Nutzer und unsere Gesellschaft als Ganzes für Folgen haben kann.

Eine mit Einzelheiten vollgestopfte Welt

Unter dem Titel „Googles gnadenloses Gedächtnis“ wird der Leserin, dem Leser geradezu ein Lehrstück über Erinnerung und Vergessen geboten. Am Beispiel von Ireneo Funes, dem Protagonisten einer Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges, wird aufgezeigt, dass ein perfektes Erinnerungsvermögen, das Funes als Folge eines Reitunfalls erlangt, mehr Fluch denn Segen sein muss. Ohne Vergessen ist Denken nur schwer möglich, denn „Denken heisst, Unterschiede vergessen, heisst verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgepfropften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten.“

Google stellt im Grossen eine mit Einzelheiten vollgestopfte Welt dar, die nicht vergessen kann. Dies musste Andrew Feldmar, ein Psychoptherapeut aus Vancouver bei seiner Einreise in die USA erfahren. Er hatte in einem wissenschaftlichen Artikel 2001 geschrieben, in früheren Jahren LSD probiert zu haben. Bei seiner Einreise in die USA fünf Jahre später googelte ein Grenzbeamter seinen Namen, worauf er auf den erwähnten Artikel stiess. Da Feldmar gegenüber dem Beamten seine Aussage im Artikel bestätigte, wurde ihm beschieden, er gelte hiermit als Drogenkonsument und dürfe deshalb nicht in die USA einreisen. Auch später war ihm die Einreise in die USA nur mit einer Sondergenehmigung möglich.

Tattoos auf unserer digitalen Haut

Sobald wir am Internet teilnehmen, hinterlassen wir digitale Spuren, die sich dank geschickter Verknüpfung von Logindaten, Cookies und IP-Adressen und dank der ungeheuren Datenspeichermöglichkeiten, etwa von Google, zu Profilen zusammenbauen lassen, die uns selbst und unseren digitalen Gewohnheiten in erschreckender Weise entsprechen. Indem wir am Internet teilnehmen, „verlieren wir sozusagen die Verfügungsgewalt über uns selbst“, die Vergangenheit „ritzt sich wie ein Tattoo in unsere digitale Haut“. So lasse sich aufgrund der gespeicherten Verbindungsdaten der letzten drei Monate das Online-Verhalten eines Nutzers mit mindestens achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit voraussagen (gemäss dem Netzwerktheoretiker Albert Laszlo Barabasi in einer Studie in der Zeitschrift „Science“).

Erinnern und Vergessen

Während früher das Vergessen einfach und das Erinnern aufwendig war, verhält es sich heute umgekehrt: Das Tattoo der Vergangenheit auf unserer digitalen Haut lässt sich kaum mehr entfernen. Wir sind so verwundbarer einer möglichen Überwachung gegenüber. Unsere Worte und Taten sind archiviert und in der digitalen Öffentlichkeit voraussichtlich über Generationen hinweg verfügbar. In vorauseilender Wachsamkeit üben wir dadurch womöglich Selbstzensur; wir überlegen uns zweimal, was wir sagen und was wir tun. „Dann beginnt die Zersetzung der Demokratie von innen.“

Vergessen ist eine Gnade. Es schafft freien Platz im Kopf, ist ein Mittel gegen Informationsüberflutung. Und indem wir vergessen, erlangen wir Fähigkeiten – und Intelligenz. Denn erst wenn wir Einzelheiten verknüpfen, weglassen, abstrahieren, beginnen wir zu verstehen. Erst dadurch schaffen wir Raum für Zusammenhänge.

Deshalb und angesichts der inzwischen allgegenwärtigen Erinnerungsmaschinen, genannt Internet, plädiert der Autor des Artikels  für eine Kunst des Vergessens, die in die juristische Debatte über Privatsphäre, Urheberrechte und Datenschutz in der digi­talen Öffentlichkeit einfliessen muss. Auch sollen digitale Daten technisch mit einem Verfalldatum versehen werden können. Ziel ist, dass sich der Mensch nicht immer mehr der Maschine anpasst, sondern dass die Maschine ein Werkzeug in der Hand des Menschen bleibt.

Den klugen Artikel von Eduard Kaeser möchte ich zur Lektüre wärmstens empfehlen. Er ist in der „Wochenzeitung“ erschienen und hier zu finden: „Googles gnadenloses Gedächtnis“ von Eduard Kaeser