Coronäre Haikus

Der (oder das) Haiku war ursprünglich eine traditionelle japanische Gedichtform, ein Naturgedicht, das darstellt, aber nicht interpretiert. Der Haiku sollte inhaltlich so offen sein, dass er erst durch das Erleben des Lesers, der Leserin vollständig und ganz wird. Er gilt als die kürzeste abgeschlossene lyrische Form: siebzehn Silben, verteilt auf drei Zeilen: 5 – 7 – 5.

Heute wird der Haiku auf der ganzen Welt geschrieben. Entsprechend vielfältig sind die Formen und inhaltlichen Regeln – und die Ansprüche der Puristen, die einzig «wahre Haiku-Lehre» zu vertreten. Mich kümmert das wenig. Vielmehr bietet mir die karge Versuchsanordnung Raum für Phantasie. Denn gerade in der Beschränkung wird diese entfesselt. Einer zusätzlichen Regel habe ich mich unterworfen: Irgendwo zwischen Zeile 1, 2 oder 3 soll ein Perspektivwechsel, ein inhaltlicher Sprung stattfinden. Der Rest ist freies Spiel ohne Anspruch auf irgendwas.

Ach ja! Und am Anfang stand der Wunsch, was wir zurzeit erleben, das Coronatrauma, in Haikus zu fassen.

Der Himmel so rein.
Stille rund um die Erde.
In uns Entsetzen.
Coronastillstand,
bezaubernd und gespenstisch.
Was pocht an der Tür?
Schatten an der Wand.
Besorgt betrachten wir sie.
Sie tanzen im Licht.

 

 

Das weisse, unbeschriebene Blatt

Das weisse, unbeschriebene Blatt als Faszinosum, als offenes Fenster hinaus auf eine Landschaft, die erst noch entstehen muss und die es genau so noch nie gegeben hat. Mit dem ersten Wort, dem ersten Satz gebe ich dieser Landschaft eine Farbe, setze vielleicht ein paar dunkle Steine auf einen Talboden, nicht kantig, sondern vom Wasser über Jahrtausende gerundet. Liegen die ersten Steine, folgt in einer gewissen Logik der Wasserlauf, der sich zwar immer wieder neue Wege bahnt, aber im Talboden gefangen bleibt und nicht bergauf fliessen wird. Dann die Bergflanken, steil und scheckig mit saftigen Wiesen und schwarzen Waldpartien, aufstrebend bis zu den baumlosen Gipfeln. Irgendwo tost ein Wasserfall, der nicht zu sehen ist. Mit ein paar kräftigen Sätzen sind auch die Bewohnerinnen und Bewohner dieser zeitlosen Landschaft eingeführt: Nachfahren von Bauernfamilien, die vor Jahrhunderten in sicherem Abstand zum Bergbach ein kleines Dorf gegründet hatten, das heute nicht viel grösser ist als zu jener Zeit. Damals wie heute haben das raue Klima und die steilen Hänge die Gesichter der Dorfbewohner geformt, ihre Rücken gebeugt und die Hände schrundig werden lassen.

Es war nicht der erste Fremde, der sich in dieses Hochtal verirrte. Doch sein Erscheinen und vor allem sein Bleiben sollten die Dorfgemeinschaft in ihrer über Jahrhunderte gewachsenen Grundfeste erschüttern. Der Fremde tauchte ein erstes Mal an einem jener Herbsttage auf, wo tiefe Wolkenfetzen den grauen Bergflanken entlang strichen und der Ruf des Steinadlers für lange Zeit ein letztes Mal zu hören war. Einer der Dorfbewohner gab später zu Protokoll, er habe an eben jenem Tag zuoberst im Tal ein Wolfsrudel gesichtet, was jahrzehntelang nicht mehr vorgekommen war.

***

Die ersten Pinselstriche auf dem weissen Blatt sind also getan. Aus der unendlich vielgestaltigen Leere ist eine neue Welt geboren, grob skizziert zunächst. Und noch ist unklar, ob daraus wirklich eine Erzählung wird – oder ein Roman. Oder ob das Blatt, wie so manches vor ihm, in einer meiner geduldigen Schubladen landen und dort verblassen wird. Ein neues weisses, unbeschriebenes Blatt liegt jedenfalls schon bereit.

Bild: «Outflow» von Jim O’Neil, CC-Lizenz via flickr

Gedanklich entfliegen

Den ganzen Tag über gelesen, geschrieben, gelesen, geschrieben, bis mir die Augen weh taten. Beim Lesen wie beim Schreiben vergesse ich zuweilen die Zeit – und mich selbst. Bin nur noch Text, Zusammenhang, Ausdruck, völlig konzentriert, völlig selbstvergessen. Keine Einsamkeit, kein Bedürfnis nach irgend etwas. Selbst zu trinken vergesse ich. Wenn ich dann wieder auftauche aus dem Sprachland, fühle ich mich erst etwas verloren in einer mir fremd gewordenen Welt und möchte am liebsten wieder zurückweichen in die reinen Gefilde der Sprache, wo ich nichts brauche als Worte, Gedanken, Zusammenhänge und Phantasien. Schon als Kind bin ich durch die Seiten eines aufgeschlagenen Bilderbuches wie durch ein offenes Fenster gedanklich entflogen, habe meinen kleinen Körper einfach liegen gelassen. Die anderen sollen sich darum kümmern. Ich bin dann mal weg. Was man einem Kinde verzeihen mag, kann für einen Erwachsenen ungesund werden, wenn er sich auf diese Art zunehmend der Realität verweigert und in Phantasiewelten entflieht. Nur die banale, schmutzige, schmerzliche Wirklichkeit nicht zu nahe kommen lassen. Das war schon als Kind die Devise.


Bild: the sea [iii] von … storrao …, CC-Lizenz via flickr

Zeitenschmelze

Sonntagmorgenstimmung. Die Glocken läuten ins Schreibzimmer. Noch ist der Himmel bedeckt. Er wird aber lichter. Wieder Sonntag! Schon wieder! Früher – viel früher – waren es die Sekunden, die bei jedem Ticken der Uhr vergingen. Dann die Minuten, die Stunden, die Tage. Und heute sind es die Wochen, die verfliegen so wie die Sekunden früher. Eine Zumutung, diese Zeitenschmelze! Und ich sitze daneben und sehe die Wochen vorbeiziehen. Es wird mir schwindlig dabei. Obschon sie voller grösserer und kleinerer Aufgaben sind, bleiben sie doch seltsam leer und ohne einen prägenden, mich verändernden Eindruck.

Ist vielleicht auch etwas viel verlangt von diesen Wochen, die halt einfach vorbei ziehen, wie sie es schon immer getan haben und auch bis in alle Ewigkeit tun werden. Wenn irgend etwas prägend sein soll, dann bin es entweder ich selbst, der meinem Leben seinen Stempel aufdrückt. Oder dann ist es das Schicksal, das den Fluss der Wochen bremst und dafür sorgt, dass das Ticken der Uhr wieder mit Sekunden hinterlegt ist.

«Time» von Stephen Edmonds, CC-Lizenz via flickr

 

Habe das Schreiben aus dem Blick verloren

Habe einmal mehr das Schreiben ganz aus dem Blick verloren – und es im Alltag nicht einmal vermisst. Doch wenn es still wird um mich, schiebt sich die Sehnsucht nach Poesie und redlichem Ausdruck, nach verschriftlichter Tiefenbohrung und Spurensuche in den Vordergrund. Dann durchforste ich mein Inneres nach angemessenen Worten und lote die tiefsten Tiefen und die höchsten Höhen aus – so dass daraus ein Knittelvers wird oder eine Ode an die Weite. Ich brauche dann kaum mehr als einen ruhigen Ort zum Schreiben und mein tägliches Brot – vielleicht ab und zu noch Gesellschaft und erfreuliche Gespräche.