Keine zusätzlichen Millionen für Frontex!

Das Referendum gegen den Ausbau des Schweizer Beitrags an die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) dürfte es an der Urne schwer haben. Aufrüstung liegt nun mal im Trend. Und was Frontex bei der Sicherung der europäischen Aussengrenzen alles anstellt, interessiert nur eine Minderheit. Allerdings sollte bedacht werden, dass Werte wie Menschenrechte und Völkerrecht, die Europa und mit ihm die Schweiz gegen den Aggressor in der Ukraine ins Feld führt, andernorts durch Frontex verraten werden. – Eine Streitschrift gegen die Scheinheiligkeit.

Am kommenden 15. Mai entscheiden die Schweizer Stimmberechtigten unter anderem über die Aufstockung des Schweizer Beitrags an die Grenzschutzagentur Frontex. Der jährliche Beitrag an Frontex soll von heute 24 Millionen auf 61 Millionen Franken bis im Jahr 2029 angehoben werden. Ferner sollen die von Schweizer Beamten besetzten Vollzeitstellen von 6 auf 40 aufgestockt werden. Es geht dabei um den Nachvollzug des von der Europäischen Union im Jahr 2019 verabschiedeten Frontex-Ausbaus, einen Nachvollzug, zu dem die Schweiz als Mitglied des Schengen-Raums verpflichtet ist. Das Schweizer Parlament hat diese Verordnung respektive deren Nachvollzug gutgeheissen, wogegen das Referendum ergriffen wurde.

Ein Novum in der Schweiz und darüber hinaus: Zum ersten Mal wird über Frontex und damit über das europäische Grenzregime in breiter Öffentlichkeit und direktdemokratisch verhandelt. Denn was wie eine Selbstverständlichkeit daherkommt – Überwachung der EU-Aussengrenze, nachdem die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft worden sind –, ist in der heutigen Form eine Ungeheuerlichkeit. Die Flüchtlingstragödien an den EU-Aussengrenzen sind menschengemacht. Die Frontex als ausführende Behörde des europäischen Grenzregimes trägt dafür eine grosse Verantwortung – und damit auch wir in der Schweiz.

Krieg gegen Migration

FRONTEX-Beamter bei der ersten gemeinsamen Patrouille mit der griechischen Polizei an der griechisch-türkischen Grenze in Kastania

Frontex ist hauptsächlich eine Agentur zur Abwehr von Flüchtlingen und MigrantInnen geworden. Sie ist mitverantwortlich für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen an Europas Aussengrenzen. Unter ihren wachsamen Augen ertranken in den letzten Jahren Tausende MigrantInnen und Flüchtlinge im Mittelmeer. Und es werden immer mehr. Gleichzeitig wird die Seenotrettung durch humanitäre Organisationen entlang der Flüchtlingsrouten immer mehr unterbunden und kriminalisiert. Frontex arbeitet mit den libyschen Behörden zusammen, die – etwa mit ihrer Küstenwache – an der zentralen Mittelmeerroute als Türsteher gegen Flüchtlinge fungieren und im Zusammenhang mit dieser Rolle schwere Menschenrechtsverletzungen verüben.

Frontex steht für die Militarisierung der EU-Aussengrenzen – und einen regelrechten Krieg gegen Migration. Mit zusätzlichen Mitteln, auch aus der Schweiz, wird dieser Krieg noch befeuert. Sogenannte Realisten und Pragmatiker werden entgegnen, mit einer solchen Fundamentalopposition gegen Frontex würde an den EU-Aussengrenzen für die Flüchtlinge gar nichts besser. Im Gegenteil: Eine auch finanziell gut ausgestattete Grenz- und Küstenwache sei gerade in menschenrechtlichen Belangen besser aufgestellt. Zudem stehe eine solche Agentur unter behördlicher Aufsicht und sei der «Geschäftsprüfung des Europaparlaments» unterstellt, so zum Beispiel Rudolf Strahm in einer Kolumne im Tagesanzeiger.

Und warum ist es dann möglich, dass unter dieser angeblichen Kontrolle Hunderte, wenn nicht Tausende Pushbacks stattfanden, also Flüchtlinge an der Wahrnehmung ihres Grundrechtes auf Prüfung ihrer Fluchtgründe gehindert werden, wie inzwischen ans Licht kommt und für welche Frontex zumindest mitverantwortlich ist?

Frontex als Handlanger einer verfehlten Flüchtlingspolitik

Warzaw Spire, der Sitz der Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) in Warschau, Polen

Frontex darf nicht mit zusätzlichem Geld alimentiert werden, solange die menschenverachtenden Praktiken nicht aufgearbeitet und beendet sind. Vielmehr muss der Grenzschutzagentur das Geld entzogen werden, um Schlimmeres zu verhindern. Doch das eigentliche Problem ist die europäische Asyl- und Migrationspolitik. Frontex ist nur das ausführende Organ. «Die EU ist de facto im Kriegszustand gegen MigrantInnen», wie der spanische Professor für Rechts- und politische Philosophie an der Universität von Valencia Javier des Lucas schon vor Jahren sagte. Weiter: «Und das ist ein Kampf mit allen Mitteln, auch jenseits rechtlicher Normen, mit dem einzigen Ziel, die vermeintliche Zuwanderungs- und Flüchtlingslawine aufzuhalten. Zu den bevorzugten Mitteln gehören dabei die polizeilichen Kontrollmechanismen, die sich von militärischen Mitteln kaum noch unterscheiden.» Frontex ist Handlanger dieser Politik.

Kein Schengen-Rauswurf auf die Schnelle

Die Abstimmung zum Frontex-Referendum wird von den Gegnern zum Ja oder Nein zur Mitgliedschaft beim Schengen-Raum hochstilisiert. Gerade beim zurzeit angespannten Verhältnis zwischen der Europäischen Union und der Schweiz drohe bei einem Nein zur Aufstockung des Schweizer Beitrags an die Frontex ein Rauswurf aus dem Schengen-Raum.

Um diese Frage geht es beim Frontex-Referendum nur indirekt. Es gibt diesbezüglich keinen Automatismus. Allerdings müsste die Schweiz mit der EU verhandeln, wie die Zusammenarbeit fortgesetzt werden soll. Keine der beiden Seiten kann ein Interesse daran haben, die inzwischen komplex gewordene Kooperation im Schengen-Raum mit einem Federstrich aufzukündigen. Laut Rainer J. Schweizer, ehemaliger Staatsrechtsprofessor an der Universität St. Gallen, wäre dies auch rechtlich so vielschichtig, dass es ein eigentliches Austrittsverfahren bräuchte, zu vergleichen vielleicht mit dem Brexit, um den Schengen-Vertrag zwischen der EU und der Schweiz aufzulösen.

Bei der Diskussion im Schweizer Parlament wurden seitens der Befürworter des Referendums, hauptsächlich von SP und Grünen, Vorschläge gemacht, wie als humanitäre Ausgleichsmassnahme zur Aufstockung des Schweizer Frontex-Beitrags das Asylrecht gestärkt werden kann, etwa durch die Aufnahme von mehr Resettlement-Flüchtlingen, durch die Wiedereinführung des Botschaftsasyls und einem Ausbau der humanitären Visa. Dies wurde von bürgerlicher Seite abgeschmettert – was das Referendum gegen die einseitige Vorlage zur Folge hatte …

Es würde der Schweiz gut anstehen, ihre sogenannte «humanitäre Tradition» nicht nur wie eine Monstranz vor sich her zu tragen, sondern auch danach zu handeln. Die Rückweisung der einseitig auf Flüchtlingsabwehr ausgerichteten Frontex-Vorlage bietet eine Gelegenheit dazu.


Bilder

oben: «NoFrontex» von 2le2im-bdc, CC-Lizenz via Wikimedia Commons
Mitte: «Mitglied der Frontex» von Rock Cohen, CC-Lizenz via flickr
unten: «Warzaw Spire» von Neil Williamson, CC-Lizenz via flickr

 

Gegen die Normalisierung des Unmenschlichen

Neben der Kriminalisierung der Menschlichkeit ist die ebenso beunruhigende Tendenz zu beobachten, dass wir uns an den menschenverachtenden Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen gewöhnen. Wer schreckt schon auf, wenn einmal mehr im Mittelmeer oder auf dem Ärmelkanal ein Flüchtlingsboot kentert? Wer wundert sich noch, wenn Flüchtlinge – Männer, Frauen und Kinder – als Manövriermasse für politisches Kalkül missbraucht werden? – Ein Aufruf gegen die Normalisierung des Unmenschlichen.

Die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen werden immer mehr beschnitten. Hauptziel: Sie sollen davon abgehalten werden, nach Europa zu kommen. Das ist nicht neu. Seit Jahrzehnten überbieten sich die Staaten in diesem Wettlauf hin zur Rechtlosigkeit von Flüchtlingen. Einzig internationale Vereinbarungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention, die UN-Antifolterkonvention sowie die Europäische Menschenrechtskonvention setzen der Absicht Grenzen, die unerwünschte Migration zu verunmöglichen. Doch selbst diese minimalen Rechte werden zunehmend in Frage gestellt – oder schlicht missachtet, selbst von offizieller Seite.

So sind etwa die illegalen Pushbacks an den EU-Aussengrenzen Normalität geworden. Sie sind Teil einer Abwehrstrategie, die rabiater kaum sein könnte. Bei den Pushbacks werden Flüchtlinge durch die jeweilige Grenzpolizei oft gewaltsam über die Grenze zurückgedrängt. Geschieht dies auf hoher See, werden die Flüchtlingsboote in internationale Gewässer geschleppt und dort nicht selten manövrieruntauglich gemacht. Es soll dadurch verhindert werden, dass die MigrantInnen ein Asylgesuch stellen und ihre Fluchtgründe darlegen können – und sie sollen davor zurückschrecken, die EU-Aussengrenze erneut zu überqueren.

Zwielichtige Rolle von Frontex

Der Frontex, der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, kommt hierbei eine entscheidende Rolle zu, die zwielichtiger nicht sein könnte. Entstanden ist die Agentur zum Schutz der EU-Aussengrenze zu der Zeit, als die Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums abgeschafft wurden. Seither wächst Frontex wie keine zweite europäische Agentur: Die Budgets steigen jährlich steil nach oben, und es wird fleissig aufgerüstet. (Details dazu siehe hier.)

Immer wieder werden Vorwürfe laut, dass Frontex an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sei, gerade im Zusammenhang mit Rückschiebungen und Pushbacks wie oben beschrieben. Zumindest sollen Mitarbeitende der Agentur solche beobachtet und toleriert haben. Man muss davon ausgehen, dass an der EU-Aussengrenze täglich solche Pushbacks stattfinden[1] – unter den technisch hochgerüsteten Augen von Frontex. Unzählige davon sind dokumentiert, etwa durch die NGO Mare Liberum. Um wie viel grösser wird die Dunkelziffer sein?

Mit äusserster Härte gegen Flüchtlinge und MigrantInnen

Mit Recht kann behauptet werden, dass zumindest an der EU-Aussengrenze das Unmenschliche zur Normalität geworden ist. Ob entlang der Zentralen Mittelmeerroute von Libyen bis Süditalien, ob auf der Balkanroute und zwischen der Türkei und Griechenland, ob in der Strasse von Gibraltar oder auf dem Ärmelkanal: Überall wird mit äusserster Härte und oft ausserhalb des gesetzlichen Rahmens gegen Flüchtlinge und MigrantInnen vorgegangen.

Und vielenorts ist Frontex dabei. Ob aktiv oder passiv, ist nicht einmal so entscheidend. Die Verrohung im Umgang mit Flüchtlingen findet unter den Augen der offiziellen EU statt – und unter der Mithilfe der Schweiz. Denn die Schweiz ist als Mitglied des Schengener Abkommens seit 2009 finanziell wie personell an Frontex-Operationen beteiligt. Ihr Beitrag wird stets ausgebaut. Erst vor kurzem hat der Nationalrat einer Aufstockung auf 61 Millionen Franken jährlich bis 2027 zugestimmt. Dagegen wurde das Referendum ergriffen.

Man muss es klar benennen. Die systematische Abwehr von Flüchtlingen in Europa und anderswo richtet sich gegen zivilisatorische Errungenschaften, die angesichts des Flüchtlingselends nach dem Zweiten Weltkrieg erzielt wurden: Flüchtlinge und MigrantInnen müssen die Möglichkeit haben, Asyl zu beantragen, indem sie ungehindert ihre Fluchtgründe darlegen können. Und sie dürfen nicht in ein Land zurückgeschickt werden, wo ihnen Folter oder andere Menschenrechtsverletzungen drohen. Die beiden Grundsätze eines humanitären Umgangs mit Flüchtlingen werden heute systematisch missachtet. Und niemand übernimmt dafür die Verantwortung. So verweist etwa Frontex seit Jahren auf die örtlichen Grenzbehörden und kommt damit bis jetzt ungeschoren davon.

Ein anderer Umgang mit Flucht und Migration

Nun ist es ja nicht so, dass es beim Umgang mit MigrantInnen und Flüchtlingen keine Alternativen gibt. Sie liegen seit langem auf dem Tisch, sind allerdings im gesellschaftlichen Diskurs noch kaum angekommen. Die wichtigsten sind:

  • Bekämpfung der Fluchtursachen statt der Flüchtlinge. Ganz wichtig sind hier zum Beispiel gerechtere Handelsbeziehungen mit den Ländern des globalen Südens und damit die Überwindung der postkolonialen Verhältnisse. Erst wenn vor Ort Perspektiven für ein menschenwürdiges Leben vorhanden sind, geht Migration zurück.
  • Migration nicht verleugnen, sondern zukunftsfähige Konzepte entwickeln – in den einzelnen Staaten, europaweit, weltweit.
  • Legale Migration statt Grenzschliessung. Denn Migration lässt sich durch Grenzschliessungen nicht verhindern. Stattdessen fördern sie das Schlepperwesen und sorgen für immer gefährlichere Migrationsrouten. Fähren statt Frontex!
  • Integration erleichtern, zum Beispiel in Form von politischer Teilhabe in den Aufnahmeländern.

Das Thema Flucht und Migration ist allerdings politisch so aufgeladen, dass wir weit davon entfernt sind, solche Ideen in die Tat umzusetzen. Doch wenn wir vom menschenverachtenden Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen loskommen wollen, müssen wir damit beginnen – heute.


Anmerkungen:

[1] Siehe etwa die Recherche der Rundschau von SRF vom 3. Dezember 2021 oder der Bericht von Mare Liberum.

Bild: Graffiti beim Ratswegkreisel in Frankfurt, CC-Lizenz von universaldilletant via flikr

Von der Kriminalisierung der Menschlichkeit …

Eine spätere Generation wird mit Entsetzen auf den heutigen Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen in Europa blicken. Die Flüchtlinge sind zum Spielball einer populistischen Politik geworden, um jene verängstigten Menschen hinter sich zu scharen, die von wirtschaftlichem Abstieg und Armut bedroht sind. Und das sind viele. Dass die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt, wird nicht nur in Kauf genommen, sondern ist Teil des Kalküls. – Die traurige Geschichte von Riace.

Kennen Sie Riace, das italienische Städtchen in Kalabrien, dem äussersten Süden Italiens? Die Gemeinde ist zweigeteilt in einen Ortsteil direkt am Meer und den anderen etwas zurückversetzt in den Hügeln. Seit langer Zeit leidet Riace wie viele umliegende Gemeinden unter Arbeitslosigkeit und Abwanderung. Warum also nicht versuchen, hier MigrantInnen aufzunehmen? Wen wundert’s, dass Ende der 1990er Jahre seitens verschiedener NGOs erste Projekte zur Aufnahme von Flüchtlingen in diesen Dörfern angestossen wurden?

Jenes von Riace wurde weitherum berühmt. Treibende Kraft bei der Wiederbelebung des Städtchens war Domenico Lucano, dessen Bürgermeister er später wurde. Zusammen mit regionalen, überregionalen und internationalen Initiativen gründete er den Verein «Città Futura» («Stadt der Zukunft») und organisierte die Aufnahme und sorgfältige Integration von Flüchtlingen. Das Leben kam zurück ins Städtchen, der Kleinhandel blühte auf, Schulen konnten offenbleiben, und manche Handwerksbetriebe erlebten eine Renaissance. Ganz zu schweigen von den Chancen, die sich den neu Angekommenen eröffneten.

Versammlung «Offene Grenzen» im Amphitheater von Riace

Internationale Anerkennung für Domenico Lucano

Mit der Zeit fanden bis zu achthundert MigrantInnen in Riace Aufnahme und eine Perspektive, hauptsächlich aus Tunesien, Senegal, Eritrea und Syrien. Und Domenico «Mimmo» Lucano wurde zur Ikone eines anderen Umgangs mit Flüchtlingen. Er erhielt Anerkennung weit über Italien hinaus, bis hin zum UNHCR, dem Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, welches das Projekt in Riace mit regelmässigen Beiträgen unterstützte. Die «Stadt der Zukunft» galt als Modell gerade für strukturschwache Gebiete, die von Abwanderung und wirtschaftlichem Niedergang bedroht sind.

Die Gegenreaktionen der Verfechter eines harten, abwehrenden Umgangs mit Flüchtlingen waren heftig. Lucanos Hunde wurden vergiftet, und auf ihn selbst wurde sogar geschossen. Auch der italienische Staat unter Matteo Salvini begann sein Projekt zunehmend zu sabotieren. Was nicht sein durfte, durfte nicht sein: die erfolgreiche Integration von Flüchtlingen und MigrantInnen in die italienische Gesellschaft.

Domenico Lucano

Anfang Oktober 2018 wurde Lucano unter dem Vorwurf der Begünstigung illegaler Einwanderung und finanzieller Unregelmässigkeiten festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Später wurde er wieder auf freien Fuss gesetzt, musste aber sein Amt als Bürgermeister abgeben und durfte Riace nicht mehr betreten. Von den ehemals achthundert Flüchtlingen verblieben nur wenige im Dorf. Die restlichen wurden umgesiedelt. Ganz offensichtlich sollte das Vorzeigemodell eines anderen Umgangs mit Flüchtlingen zerschlagen werden.

Exempel gegen die Menschlichkeit

Im September 2021 wurde Domenico Lucano in erster Instanz wegen Amtsmissbrauchs, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Beihilfe zur illegalen Einwanderung sowie wegen Betrugs, Erpressung und Urkundenfälschung zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Mit dem drakonischen Urteil des Gerichts von Locri, Kalabrien, wird ein Exempel gegen die Menschlichkeit statuiert. Es ist nur der radikale Ausdruck einer Tendenz, die seit Jahren anhält und immer weniger in Frage gestellt wird: der Kriminalisierung der Menschlichkeit, damit Flüchtlinge möglichst von Europa ferngehalten werden. Es gibt Menschen, bei denen löst dies Entsetzen aus, bei anderen Gleichgültigkeit bis hin zu Genugtuung.


Bilder:
oben: Hiruka komunikazio-taldea CC BY-SA 2.0 via WikiCommons
darunter: Carlo Troiano CC BY-SA 4.0 via WikiCommons

Teil 2: «Gegen die Normalisierung des Unmenschlichen»

Erhöhtes Sterberisiko für MigrantInnen auf der zentralen Mittelmeerroute

Laut einem Bericht der Internationalen Organisation für Migrationn (IOM) sind die absoluten Zahlen der dokumentierten Toten und Vermissten auf der zentralen Mittelmeerroute zwar zurückgegangen. Trotzdem ist das Sterberisiko entlang dieser Route deutlich gestiegen. Den Bericht gelesen hat Icíar Gutiérrez. Übersetzung aus dem Spanischen: Walter B.

Da sie es leid waren, weiter zu warten, entschieden sie sich, den Rio Bravo zu durchqueren, um in die USA zu gelangen. Das Bild der leblosen Körper von Óscar Ramírez und seiner 23 Monate alten Tochter Valeria[1] ist zu einem weiteren Symbol für die Tragödie an den Grenzen geworden. Ihre Namen reihen sich ein in eine Liste von Tausenden Migrantinnen und Migranten, die auf der Suche nach einem besseren Leben ihr Leben veloren haben. Allerdings haben nicht alle einen Namen, die auf der Liste stehen. Ihre Körper wurden entweder nicht aufgefunden, ihre sterblichen Überreste nicht identifiziert, oder sie erscheinen gar nicht in den Erhebungen zu den Todesfällen.

Seit 2014 sind laut einem Bericht des Global Migration Data Analysis Centre der Internationalen Organisation für Migration (IOM) vom Juni 2019 weltweit mehr als 32’000 Personen bei ihrem Versuch zu emigrieren ums Leben gekommen oder verschwunden. Fast 1’600 davon, insgesamt 1’593, waren Minderjährige.

Hohe Dunkelziffer

Die Unterorganisation der Vereinten Nationen gibt allerdings zu bedenken, dass «diese Zahlen wahrscheinlich sehr viel tiefer sind als die tatsächliche Anzahl der Toten», da es viele Todesfälle und Verschwundene gebe, von denen man nie erfährt, da viele Leichen nie gefunden oder identifiziert werden. «Das hat verschiedene Gründe: zum einen weil die Todesfälle in entlegenen Regionen geschehen, zum anderen weil die lokalen Behörden die Erhebung solcher Daten nicht so wichtig nehmen oder ihnen dafür die nötigen Mittel fehlen», stellt die IOM fest.

Die Fachorganisation macht darauf aufmerksam, wie notwendig es ist, die Erhebung der Daten über die Todesfälle und das Verschwinden solcher Personen zu verbessern, insbesondere von Minderjährigen, auf welche die IOM ihr besonderes Augenmerk legt. «Das Verschwinden oder der Tod von Mädchen und Jungen auf ihrem Weg in die Emigration muss uns allen Sorge bereiten», betont Ann Singelton, die Mitherausgeberin des Berichts. «Es ist dringend nötig, eine empirisch fundierte Politik und entsprechende Programme zu entwerfen und umzusetzen, damit diese Todesfälle verhindert und Migrantenbuben und ‑mädchen geschützt werden können», betont die leitende Forscherin der Universität Bristol.

Betrachtet man die verschiedenen Regionen, so bleiben die Migrationswege über das Mittelmeer die tödlichsten. Zwischen 2014 und 2018 starben mehr als 17’900 Personen bei ihrem Versuch, dieses irregulär zu überqueren. Nach den Angaben der IOM blieben in diesen letzten vier Jahren die sterblichen Überreste von fast 12’000 ertrunkenen MigrantInnen ungeborgen.

«Es gibt viele Herausforderungen bei der Dokumentation der Todesfälle und Vermissten unter den MigrantInnen, die das Mittelmeer überqueren», schreiben die AutorInnen des Berichts. «Auf den Meeresrouten findet man oft keine Leichen. (…) Die einzigen verfügbaren Informationen stammen häufig von den überlebenden MigrantInnen. Allerdings können diese Angaben schwanken und sind schwierig zu überprüfen», unterstreicht die internationale Organisation, die in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass die von den NGOs gesammelten Angaben eine wertvolle Informationsquelle darstellen, wo offizielle Quellen begrenzt sind. Diese Woche hat die Gruppe «Caminando Fronteras» angeprangert, dass nur ein Viertel der sterblichen Überreste der 1’020 MigrantInnen geborgen wurden, die im Laufe des Jahres 2018 und der ersten vier Monate dieses Jahres bei ihrem Versuch, irregulär nach Spanien zu gelangen, umgekommen sind.

In Amerika wurde an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten seit 2014 eine steigende Zahl von Toten verzeichnet – bei einer Gesamtzahl von 1’907 Toten und Vermissten in den letzten fünf Jahren. In Asien rechnet man mit fast 2’200 Personen, die im Südosten des Kontinents umgekommen sind, davon mindestens 1’723 moslemische Rohingyas, die in Myanmar verfolgt werden. Der Mittlere Osten verzeichnet in diesem Zeitraum 421 Tote, die Mehrzahl, nämlich 145, im Jahr 2018.

Das Mittelmeer ist am gefährlichsten

Die IOM betont, dass zwischen 2017 und 2018 die Zahl der dokumentierten Toten und Vermissten weltweit von 6’280 auf 4’734 gesunken ist. Der Hauptgrund für diesen Rückgang liegt bei der geringeren Anzahl von Migrantinnen und Migranten, die über die zentrale Mittelmeerroute die italienischen Küsten zu erreichen versucht. Gemäss den Angaben sank diese Zahl von 144’000 im Jahr 2017 auf weniger als 46’000 im 2018.

Trotzdem gibt die Organisation – ebenso wie andere Organisationen der UNO, zum Beispiel das UNHCR (Hochkommissariat für Flüchtlinge) – zu bedenken, dass das Sterberisiko, die Todesrate entlang dieser Route im 2018 zugenommen hat, also dem Jahr, als Italien seine Häfen für Seenot-Rettungsschiffe geschlossen hat. «Selbst die zurückhaltendsten Schätzungen gehen davon aus, dass eine von 35 Personen, die das Zentrale Mittelmeer überquerten, im 2018 umgekommen ist, verglichen mit einer von 50 im Jahr 2017», heisst es.

Anderseits richtet die IOM ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Zunahme der dokumentierten Todesfälle entlang der Route des westlichen Mittelmeers, die nach Spanien führt. Diese Zahl schoss im letzten Jahr in die Höhe, von 224 im Jahr 2017 auf 811 im 2018, und zwar in dem Masse wie auch die Anzahl Personen stieg, welche diesen Weg übers Mittelmeer nahmen, um nach Europa zu gelangen.

Bessere Erhebung der Todesfälle und Vermissten

Im Bericht wird daran erinnert, dass es «oft schwierig ist, Angaben über vermisste MigrantInnen, aufgeschlüsselt nach ihrem Alter, zu bekommen». Die IOM möchte ihre Erhebungen zu den Todesfällen und den Vermissten unter MigrantInnen, darunter jene von Minderjährigen, auf globaler Ebene ausbauen, «mit dem Ziel, gerade aus jenen Quellen und Regionen, aus denen bisher ziemlich spärlich Informationen flossen, vermehrt Daten zu erhalten».

Als eine der Massnahmen, um die Datenerhebungen zu verbessern, werden die lokalen, regionalen und nationalen Behörden aufgefordert, «die Angaben über Todesopfer auf den Migrationswegen zu vereinheitlichen und öffentlich zu machen». «Die nationalen Regierungen können mehr tun, um Todesfälle zu verhindern und jene zu registrieren, die geschehen», unterstreicht die Fachorganisation.

Ebenso empfiehlt sie, die neuen Technologien zu nutzen, um die Erhebung der Fallzahlen zu verbessern, und legt dabei ein besonderes Augenmerk auf die Zusammenarbeit mit den Organisationen der Zivilgesellschaft sowie den Verwandten der vermissten MigrantInnen. «Diese können eine Quelle von Informationen sein, die sich erst noch einfacher verifizieren lassen.» Hierbei wird betont, dass es zudem für den Umgang mit dem Schmerz, den jede Tragödie an den Grenzen bei den Verwandten hinterlässt, hilfreich sein kann, wenn man weiss, was seinen Liebsten zugestossen ist. «Wenn die Angehörigen der Verschwundenen bei der Erhebung und Verifizierung der Daten mitwirken können, kann ihnen das helfen, mit dem Verlust fertig zu werden.»


Anmerkungen:

[1] Das Bild ging um die Welt und braucht hier nicht nochmals gezeigt zu werden. Wer es sehen will, kann die Suchmaschine seines Vertrauens in Gang setzen.

Bildnachweis: «Rettungseinsatz 28.5.2016 Seawatch 2» von Brainbitch, CC-Lizenz via flickr

Das spanische Original des Textes ist auf eldiario.es erschienen.

Der Wunsch nach Freiheit lässt sich nicht einkerkern

Kurz nach der Beschlagnahme des Schiffes Mare Jonio im Hafen von Lampedusa veröffentlichte Sandro Mezzadra, einer der Initianten der Operation Mediterranea, welcher das Seenot-Rettungsschiff gehört, in der italienischen Zeitung «il manifesto» folgenden Text. (Übersetzung aus dem Italienischen und Englischen unter Mithilfe von Deepl und einem alten Freund durch Walter B.)

Freiheit! Freiheit! Dieser gemeinsame Freudenschrei von 49 Flüchtlingen und MigrantInnen bei der Landung an jenem Dienstag, den 19. März, in Lampedusa drückt die wahre Bedeutung dessen aus, was in diesen Tagen rund um die Mare Jonio, dem Schiff der Operation Mediterranea, geschehen ist. Und dieser Ruf erzählt uns vom Drama dessen, was täglich nicht nur im Mittelmeer, sondern auch in all den Ländern geschieht, die von Männern und Frauen auf der Flucht durchquert werden, bevor sie das Südufer des Mittelmeers erreichen. Denn es ist der ebenso elementare wie mächtige Drang nach Freiheit, der die MigrantInnen leitet. Um dieses Streben einzudämmen und oft genug mit tragischen Folgen zu vereiteln, bestehen auf ihrem Weg eine Unzahl von Kontrollmechanismen, von den hoch technisiertesten wie Radar und weitere Überwachungstechniken bis hin zu den rohesten und gewalttätigsten, etwa der Peitsche und anderen Folterinstrumenten in den Händen von Wächtern in den libyschen Konzentrationslagern.

Die Mare Jonio ist derzeit in Lampedusa festgesetzt, zu Ermittlungszwecken beschlagnahmt durch die Finanzpolizei, angeordnet von der Staatsanwaltschaft Agrigento in Sizilien. Das Schiff hat sich in diese Konfliktsituation begeben, um der Sehnsucht nach Freiheit der MigrantInnen den Weg zu ebnen. Ein Tropfen auf den heissen Stein, gewiss. Denn zur selben Zeit, als die Rettungsaktion durchgeführt wurde, sank im Zentralen Mittelmeer ein weiteres Gummiboot mit etwa dreissig Menschen an Bord, die nun vermisst werden oder tot sind. Die Mare Jonio ist allerdings ein wichtiges Zeichen, indem durch die Aktion neunundvierzig Menschenleben gerettet und der höllische Kreislauf durchbrochen wurde, von dem hauptsächlich die Schleuser profitieren, dadurch dass die MigrantInnen, welche die Reise über das Mittelmeer unternommen haben, von der sogenannten libyschen Küstenwache gewaltsam in die Haftzentren gebracht werden, nur um abermals für das Geschäft des Menschenhandels zur Verfügung zu stehen. Es ist dieses geschlossene System der Komplizenschaft libyscher Behörden, welches das Geschäft der Schleuser befördert. Das ist bestens dokumentiert. Und jene, die dieses System stützen, wie die italienische Regierung, sind die wahren Komplizen – nicht Mediterranea oder Nichtregierungsorganisationen wie Sea Watch und Open Arms, die im Gegenteil sich dafür einsetzen, diesen Kreislauf zu durchbrechen und die Frauen und Männer von ihren Ketten zu befreien – im buchstäblichen und im metaphorischen Sinn.

«Ich stelle den Motor nicht ab.»

Einer der 49 MigrantInnen, die durch die Mare Jonio gerettet wurden, sagte, sie hätten die Überfahrt fünfmal versucht. Es ist diese Hartnäckigkeit, welche die Suche nach Freiheit im Mittelmeer charakterisiert und in diesem Ausmass eine wahre Tragödie ist. Dieser vielfache Ruf «Freiheit! Freiheit!» kann uns nur tief betroffen machen. Und er muss in jenen Strassen widerhallen, wo im letzten Monat Demonstrationen gegen Rassismus, gegen den Klimawandel und für die Freiheit der Frauen stattgefunden haben.

Als ihm der Beamte der Finanzpolizei befahl, den Motor abzustellen, was bei zwei Meter hohen Wellen die Stabilität des Schiffes gefährdet hätte, antwortete der Fischer Pietro Marrone, Kommandant der Mare Jonio, gegen den nun ermittelt wird: «Ich stelle den Motor nicht ab.» Diese Worte sind ein Beispiel der Würde und Verantwortung. Und für uns haben sie auch eine weitreichendere Bedeutung: Wir schalten die Motoren der Solidarität ein und fahren volle Kraft voraus als Antwort auf jegliche Kriminalisierung. Gemeinsam schaffen wir die materielle Basis für eine neue Freiheit, für jene Freiheit, zu der uns der Chor der MigrantInnen von Lampedusa aufruft.

Die Mare Jonio ist derzeit «zu Ermittlungszwecken beschlagnahmt». Das Schiff ist im Hafen von Lampedusa festgesetzt und kann die Überwachungs- und Rettungsfunktionen, für die es ausgerüstet wurde, nicht mehr wahrnehmen. Matteo Salvini reklamiert für sich den Sieg. Salvini, der offensichtlich ausgetrickst wurde durch die Initiative eines Schiffes unter italienischer Flagge – der Mare Jonio – und überrumpelt durch den Zufall, dass just an jenem Montag die 49 Flüchtlinge an Land gebracht wurden, als im Senat über den Fall Diciotti[1] debattiert wurde. Er feiert ein von unabhängigen Beobachtern befreites Meer, in dem in aller Stille Schiffsunglücke geschehen können und die sogenannte libysche Küstenwache kollektive Push-Backs[2] durchführen kann. Die Mare Jonio wird in diesem Kontext zum Symbol für Menschlichkeit und Freiheit, für Würde und Verantwortung. Freiheit für die Mare Jonio! Lasst uns ihre Motoren wieder einschalten und dorthin zurückkehren, wo sie gebraucht wird! Rund um diese Worte müssen wir dafür mobilisieren, was die feministische Bewegung den «Zustand der dauernden Unruhe» nennt.


Anmerkungen:

[1] Das Schiff Diciotti der italienischen Küstenwache nahm im August 2018 fast zweihundert gerettete MigrantInnen an Bord. Erst nach einer langen Irrfahrt und gesamteuropäischer Irritationen durften die MigrantInnen schliesslich in Catania, Sizilien, von Bord. Gegen Innenminister Salvini laufen seither Ermittlungen wegen Freiheitsberaubung und Machtmissbrauchs.

[2]Push-Backs bezeichnen «das Zurückdrängen von ausländischen Personen ohne entsprechende Aufenthaltstitel für das Zielland in Grenznähe» und verstossen gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung. Sie sind in Europa verboten, während sie in Australien gängige Praxis sind. Menschenrechtsorganisationen klagen immer wieder über Push-Backs an den EU-Aussengrenzen.

Bildnachweis:

Die Mare Jonio auf hoher See, Foto Michelle Seixas

Das Original des Textes ist in der Zeitung «il manifesto» (mit Bezahlschranke) und auf der Homepage von Mediterranea erschienen.

Wer die Operation Mediterranea unterstützen möchte, kann das hier tun: