Pandemie der Entfremdung

Die Pandemie hat wenig neu erfunden, aber manche Entwicklungen beschleunigt und verstärkt, die sich schon länger abzeichneten. Sie hat die gesellschaftliche und politische Polarisierung vorangetrieben, der Digitalisierung einen raketenartigen Schub verliehen und die wirtschaftliche Ungleichheit weiter auf die Spitze getrieben. Vieles andere liesse sich hier noch anführen. Und sie hat uns ein Stück weit gegenseitig entfremdet – bis hinein in den Familien- und Freundeskreis. – Eine verstörende Beobachtung.

Wie ist es dazu gekommen, dass mir in den letzten zwei Jahren einige Menschen, die mir bisher nahe waren, fremd geworden sind, und zwar so fremd, als lebten wir unverhofft in zwei ganz unterschiedlichen Welten. Weltanschaulich und von der politischen Gesinnung her sind wir uns fremd geworden. Diese Menschen blicken anders auf die Pandemie als ich. Sie sind äusserst kritisch gegenüber den Coronamassnahmen, die sie als unzulässigen Eingriff in ihre Freiheitsrechte betrachten. Manche verneinen gar, dass es eine Pandemie überhaupt gibt. Sie misstrauen zutiefst der mRNA-Impfung gegen das Sars-Cov-2-Virus und sprechen den PCR-Tests, die das Virus nachweisen sollen, jegliche Berechtigung ab. Für einige von ihnen ist die Pandemie ein umfassender Plan, um die Menschheit in die Knechtschaft zu zwingen.

Für mich ist die Pandemie – eine Pandemie, eine Seuche, die die ganze Menschheit betrifft, eine Plage biblischen Ausmasses, hätte man früher gesagt. Heute heisst sie etwas profaner: eine Pandemie. Sie ist für mich eine Seuche, die es zu bewältigen gilt. Die Massnahmen zur Eindämmung der Ansteckungen erachte ich zumindest bei uns in der Schweiz nicht als willkürlich. Sie basieren auf Erkenntnissen, die zwar im Lauf des Geschehens immer wieder aktualisiert werden müssen, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Wenn man auch über einzelne Übertreibungen und Fehlentscheide diskutieren kann und muss – im Nachhinein ist man klüger –, so fühlte ich mich doch privilegiert, diese seltsamen zwei Jahre in der Schweiz erlebt zu haben und nicht etwa in Indien oder China – und auch nicht in Frankreich oder Deutschland.

Viel Zündstoff

Ich reibe mich weniger an den Ereignissen rund um die Pandemie als manche Freunde und Bekannte, die auf Widerstand setzen, zumindest auf Protest, und alles in Frage stellen, was gegen die Pandemie unternommen wird. Manche Entwicklungen bereiten auch mir Bauchschmerzen, etwa die – inzwischen zurückgenommene – Pflicht, ein Zertifikat vorzuweisen, wenn man Räume betreten will, die vormals allgemein zugänglich waren. Ist das nicht ein Dammbruch? Und können solche Massnahmen nicht bei nächster Gelegenheit wieder eingeführt werden – bis sie aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken sind?

Auch die Impfung wirft Fragen auf. Hätte ich die Wahl gehabt zwischen einem herkömmlichen Impfstoff und der mRNA-Impfung, so hätte ich ersteren gewählt. Denn auf die Schnelle weltweit eine ganz neue Impftechnologie anzuwenden, birgt Zündstoff und ruft notgedrungen Widerstand hervor, trotz aller Studien und – erst noch beschleunigter –Zulassungsverfahren, die dem Laien viel Vertrauen abverlangen, Vertrauen in die Behörden und in die Industrie, das schon länger angeschlagen ist …

Trotzdem liess ich mich impfen, aus Solidarität, vielleicht auch aus einem gewissen Fatalismus und weil mich medizinische Massnahmen nicht so sehr schrecken. Das ist einem Leben mit Behinderung geschuldet, in dem medizinische Massnahmen, insbesondere im Kindesalter, Normalität waren. Hinzu kommt, dass seitens der Impfgegner bald steile Thesen und falsche Behauptungen in die Welt gesetzt wurden, so dass sie in meinen Augen ihre Glaubwürdigkeit einbüssten. Trotzdem: Eine allgemeine Impfpflicht würde ich für falsch halten. Das empfände ich als Dammbruch in Sachen Machtausübung über den menschlichen Körper.

Drift nach rechts

Wie kam es dazu, dass in den letzten zwei Jahren mir einige Menschen, die mir bisher nahe waren, fremd geworden sind? Wir fanden uns plötzlich in unterschiedlichen Welten wieder. In manchen Fragen stand Aussage gegen Aussage, ihre Wahrheit gegen meine. Das ist das eine. Seltsam genug! Doch vielleicht könnte man damit leben lernen.

Echt schwierig wurde es für mich, als ich entdeckte, dass sich manche dieser Menschen politisch klar nach rechts bewegten, zum Beispiel mit der SVP zu sympathisieren begannen – weil diese Partei die einzige war, welche sich grundsätzlich gegen die Massnahmen stellte – oder aus demselben Grund Donald Trump neu etwas abgewinnen konnten, auch seinen kruderen Ansichten.

Unverhofft fand sich die politische Linke – und damit auch ich mich – in einer konformistischen Rolle, staatstreu und wenig massnahmenkritisch. Und eine populistische Rechte profitierte von der grassierenden Verunsicherung. Im richtigen Moment setzte sie ihr Segel in den strammen Wind. Doch für mich bleibt die rechte Gesinnung nihilistisch und menschenverachtend, auch wenn sie sich noch so sehr anbiedert. In diese Richtung Konzessionen zu machen, bin ich nicht bereit. Vielleicht ist es das, was mich von einigen Menschen, die mir nahe waren, entfremdet hat.

Lichtscheu nach der Quarantäne

Ab sofort bin ich aus der Quarantäne entlassen, kann gehen, wohin ich will. Doch nun will ich nicht mehr. – Ein launisches Gedankenspiel.

Am zweiten Tag der Quarantäne ist meine Armbanduhr stehen geblieben. Ein besseres Bild gibt es nicht, um das veränderte Dasein während der Quarantäne zu illustrieren. Jeder Terminplan wird hinfällig, wenn du auf einmal unter Zimmerarrest stehst. Die Zeit wird Nebensache. Allenfalls erinnern dich die Bedürfnisse des Körpers daran, dass sie vergeht. Alle paar Stunden geht die Türe auf und das Essen wird serviert. Schon wieder essen? Eben habe ich doch …

Spätestens nach dem zweiten Tag gewöhnst du dich an das zurückgezogene Leben in deinem Zimmer. Du arrangierst dich, geniesst die Tatsache, dass du gar nichts mehr musst, und heisst die Langeweile willkommen, sofern sie denn kommen will. Was für ein wunderbares Gefühl, dem Alltag völlig enthoben zu sein, als sässest du auf einem anderen Planeten! Doch du bist nicht auf einem anderen Planeten. Du bist in Quarantäne. Du bist nicht frei, kannst nicht gehen, wohin du willst. Wirst du dich dessen bewusst, schwindet das planetarische Gefühl. Und es wird wieder eng in deinem Zimmer, obschon es doch eine stattliche Grösse hat.

Dann ist sie aufgehoben, die Quarantäne. Überraschend und viel zu früh. Eben hast du dich daran gewöhnt, und nun sollst du wieder raus aus dem Zimmer. Ob die Welt noch dieselbe ist? Überhaupt, was geht dich die Welt an? Es war doch ganz in Ordnung so allein im Zimmer. Du musstest nichts darstellen, brauchtest nicht am öffentlichen Tanz der Eitelkeiten teilzunehmen. Konntest einfach sein, wer du bist. Kein Abwägen, keine Vorsicht – keine Ängste.

Vorläufig bleibe ich in Quarantäne. Ich weiss jetzt, dass ich wieder frei bin. Das allein genügt mir. Wann ich wieder rausgehe, entscheide ich und nur ich. Wäre noch besser, wenn man mir wie einem Hund befehlen könnte: «Ab ins Körbchen mit dir!» Und dann unverhofft wieder: «Jetzt kannst du Gassi gehen!» Ich bleibe. Gehe nicht Gassi. Aus Trotz, ja, und weil ich lichtscheu geworden bin. Ich bleibe. Eine solche Welt da draussen kann mich mal.

Übrigens: Meine Armbanduhr ist stehen geblieben, weil ich mich zu wenig bewegt habe. Ihr ist der Schnauf ausgegangen, denn sie hat einen automatischen Aufzug, der von meiner Bewegung lebt. Nun trainiere ich täglich zweimal eine halbe Stunde, damit die Uhr nicht wieder stehen bleibt.

Brief aus der Sicherheitsquarantäne

Werte Leserin, werter Leser, liebe Freunde und Bekannte

Seit gestern bereue ich es zum ersten Mal, dass ich mich dazu entschlossen hatte, in eine Institution für Menschen mit Behinderung einzutreten. Denn seit gestern bin ich in Sicherheitsquarantäne, ohne dass ein Ende abzusehen ist. Das heisst, ich muss, wie alle Bewohnerinnen und Bewohner, auf Anordnung des Kantonsarztes in meinem Zimmer bleiben, darf keine direkten Kontakte mit den anderen haben, keinen Besuch empfangen und bekomme das Essen aufs Zimmer serviert. Nicht einmal den genauen Grund für diese doch sehr drastische Massnahme habe ich erfahren. Es heisst, jemand vom Pflegepersonal sei positiv getestet worden.

Wenn das der wahre Grund ist, so blicke ich mit Grauen auf die nächsten Wochen. Denn bei den aktuellen Infektionszahlen wird man unter unserem Pflegepersonal immer wieder jemanden finden, der/die positiv getestet ist – mit fatalen Folgen für alle BewohnerInnen, die zwecks Isolation pauschal zu Zimmerarrest verdonnert werden. Für wie lange und in welchem künftigen Rhythmus, ist bei der angespannten Lage völlig offen.

Das ist unerträglich. Eines meiner grundlegenden Rechte wird ohne einsehbaren Grund massiv eingeschränkt. Nun höre ich sie zwar schon, die Coronaskeptikerinnen, Massnahmengegner und Querdenkerinnen, wie sie rufen: «Das sagen wir ja schon lange! Endlich hat’s wieder wer begriffen.» Doch es ist nicht das, was ich meine. Wenn’s epidemiologisch einen plausiblen Grund gibt, mich zu isolieren, damit ich nicht krank werde und/oder jemanden anstecke, so biete ich Hand dafür. Wenn ich bis auf weiteres meiner Freiheit beraubt werde, bloss weil ein Kantonsarzt fernab unserer Institution undifferenziert und wohl aus gewisser Omikron-Panik heraus zum Massnahmenzweihänder greift, so stellen sich mir die Nackenhaare auf und ich bin gezwungen, einen Ausweg zu finden, um zunächst mich und möglichst auch meine MitbewohnerInnen vor Willkür zu schützen.

Vorläufig warte ich ab. Schnellschüsse sind nicht mein Ding. Mal ein paar Tage in Sicherheitsquarantäne kann man auch als Auszeit umdeuten, als Retraite und besondere Erfahrung. Warum nicht? Viele von uns machen zurzeit ähnliche Erfahrungen. Doch wenn das kein Ende nimmt, werde ich mir zu helfen wissen.

Mit freundlichem Gruss aus dem Zimmer – Walter B.

Die Sucht nach schnellen Antworten in der Krise

Prognosen und schnelle Antworten schiessen ins Kraut. Und die Antworten kommen oft, bevor das Problem wirklich erkannt ist. Vielleicht wäre es an der Zeit, mit den Fragen zu leben, die unsere Zeit aufwirft, und statt schnellen Antworten gemeinsam herauszufinden, was für eine Zukunft wir wollen. Dies schlägt die junge spanische Philosophin Sira Abenoza in einer Kolumne vor. – Übersetzung aus dem Spanischen von Walter B.

Die schlimmste Krise seit der Grossen Depression. Länder schotten sich ab und errichten Barrieren. Nationalismus und das Streben nach Autarkie blühen auf. Unsere Bewegungsfreiheit wird beschnitten und wir werden überwacht. Auf einmal leben wir in Kontrollgesellschaften. Gesundheitspässe werden eingeführt und unsere Rechte eingeschränkt. Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Niedergang und Hoffnungslosigkeit greifen um sich. Milliardenschwere Hilfsfonds werden eingerichtet. Am Horizont taucht der Grosse Bruder auf: Bitte geben Sie acht! Noch mehr Virus. Und noch mehr Einbussen. Noch weniger Bewegungsfreiheit – bis hin zur Ausgangssperre. Noch mehr Arbeitslosigkeit.

Seit Wochen überbieten sich in den Medien die Experten mit ihrer Sicht auf die Dinge: wohin unsere Welt in der Post-Corona-Zeit steuert und wie unser Leben in der neuen Normalität aussehen wird. In den Massenmedien wird ihnen Platz eingeräumt für Ausführungen und Erklärungen am Laufmeter. Und die Experten versuchen sich in Hypothesen, sondern Schlagzeilen ab – und stürzen uns allzu oft in eine grössere Depression.

Das ist unser aller Laster: Wir hören den Experten gerne zu, wenn sie uns erklären, wie die Dinge laufen, und wechseln von der Couch oder vom Auto aus zur Not den Kanal. Wenn wir damit einverstanden sind, schauen wir es uns an – und bleiben in der Show. Und was uns nicht behagt, lehnen wir ab – und zappen weiter. In einem so ungewissen Szenario wie dem heutigen vervielfältigt sich der Wunsch, Antworten zu finden: Bitte, liebe Gelehrte, sagt uns, wie unser Leben morgen sein wird, wie nächste Woche und wie in den kommenden Jahren! Wir malen uns aus, dass uns ihre Antworten, wenn auch nur ansatzweise, in der sich immer schneller drehenden Welt die Angst nehmen und dass wir dann ohne viel Umschweife weitergehen können.

Falsche Lösungen als verpasste Chancen

Bei allem Verständnis für diese Haltung scheint mir das Vorgehen falsch. Die Krise verstärkt unsere Tendenz, nach einer Lösung zu suchen, bevor wir das Problem verstanden haben – eine Gewohnheit, die von verschiedenen Autoren beschrieben und von Beratern und Therapeuten behandelt wird. War es im Buch «Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus» oder einem anderen? Dem Vernehmen nach sei es für Männer wichtig, alles sofort in den Griff zu bekommen, während Frauen oft einfach wünschten, sich auszutauschen und angehört zu werden. Ich weiss nicht, ob es eine Geschlechterfrage ist oder eine des Menschseins. Aber ich weiss, dass Lösungen, die gefunden werden, bevor das Problem erkannt ist, in der Regel ein Irrtum sind, das heisst eine verpasste Chance.

Es gibt unzählige Beispiele für falsche Lösungen oder auch ungeeignete Hilfeleistungen. Etwa im Zusammenhang mit den syrischen Flüchtlingen: Unter Aufbietung des guten Willens aller Welt begannen NGOs, Unternehmen wie auch einzelne Bürgerinnen und Bürger Teddybären und Zehntausende Paar Schuhe für Kinder und Erwachsene zu schicken. Die ganzen Plüschtiere und Schuhe landeten letztlich als Abfall in der Landschaft, als die Flüchtlinge wegzogen. Denn es war nicht das, was sie in dieser Zeit brauchten.

Tatsächlich sind es die Entwicklungsländer leid, Lösungen vorgesetzt zu bekommen, die ihre Probleme nicht lösen, weil sie in den Büros der Ersten Welt ausgeklügelt wurden. Im Rahmen von humanitären Programmen oder aus sozialer Verantwortung haben viele Unternehmen Millionenprojekte auf die Beine gestellt, welche die wirklichen Probleme der vermeintlichen Nutzniesser nicht lösten: Es wurden Schulen gebaut, in die nie SchülerInnen einzogen, Wälder angepflanzt, wo sie fehl am Platz waren, unbequeme Schuhe, wacklige Tische und toxische Spielzeuge verteilt.

Man dachte für andere, statt die anderen zu fragen, was sie brauchen.

Vielleicht ist das der springende Punkt. Vielleicht sollten wir aufhören zu meinen, naheliegende Antworten seien die richtigen. Wir werfen uns wohlfeilen Antworten und schnellen Lösungen in die Arme, weil uns das ein (falsches) Gefühl von Sicherheit gibt.

«Die Fragen selbst liebhaben»

Doch was würde geschehen, wenn wir für einmal nicht voreilig nach Antworten und Prognosen rufen würden? Wie, wenn wir für einmal dem Impuls widerstehen würden und tun, was Rainer Maria Rilke einem jungen Dichter empfohlen hat: «… Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen, und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben …»?

Vieles geschieht zurzeit, das wir nicht verstehen und das uns erstaunen lässt, das uns beunruhigt, ja in Angst versetzt. Wie, wenn wir statt nach schnellen Lösungen zu suchen, das Geschehen zunächst eingehend betrachten, dessen Vorgänge, Umstände, Erscheinungsformen und Hintergründe studieren würden, um die ganze Tragweite auszuloten und die Einzelheiten zu verstehen?

Nebst all den Verheerungen, die der Schwarze Donnerstag des Jahres 1929 und der Zweite Weltkrieg zur Folge hatten, führten sie auch zum Ausbau des Wohlfahrtsstaates und zur Anerkennung neuer Menschenrechte. Wenn dies nach all den Tragödien möglich war, so wohl weniger weil Experten in den Medien Prognosen abgaben, wie furchtbar die Zukunft sein würde. Wenn die Zukunft besser wurde als die Vergangenheit, so eher weil es BürgerInnen, PolitikerInnen und DenkerInnen gab, die sich vorstellten, wie die Welt sein sollte, und dann handelten. Wollen wir von ihnen lernen, so ist heute vielleicht nicht die Zeit der Antworten, sondern die Zeit, die Fragen zu lieben, alle Fragen, die uns in den Sinn kommen. Es ist vor allem an der Zeit, darüber nachzudenken und sich vorzustellen, welche Welt wir uns für morgen wünschen.

Umwälzungen, besonders diese hin zum Guten, die uns zu mehr Rechten und Wohlbefinden verhelfen, ergeben sich nicht aus einer passiven Haltung, indem wir etwa vom Sofa aus die Experten fragen, was wohl als Nächstes kommen wird. Sie geschehen, indem wir uns aktiv und einfallsreich mit dem verbinden, was ist, mit dem, was auf uns zukommt, und mit denen, die leiden. Umbrüche geschehen aus dem Wunsch heraus, darüber nachzudenken, wie die Welt sein soll, und was wir dazu beisteuern können. In den Medien, in Thinktanks, als Politiker, Wissenschaftler, letztlich als Bürgerinnen und Bürger können wir dazu beitragen, dass die Welt so wird, wie wir es uns wünschen. Lasst uns Hauptdarsteller sein, nicht Zuschauer!

Widmen wir doch die zig Zoom-Stunden dem gemeinsamen Ausloten, was wir brauchen und was wir wünschen! Wenn wir unserer Vorstellungskraft Flügel verleihen, wenn wir aus dem mentalen Gefängnis ausbrechen, wenn wir, statt uns zu beklagen, kraftvoll uns etwas besseres vorstellen – und dabei unsere Gegner einbeziehen, damit wir eine Welt haben, die alle einschliesst –, dann erreichen wir vielleicht, dass die Zukunft besser wird als vorhergesagt.


Der Text von Sira Abenoza ist im Original auf eldiario.es erschienen.

Coronäre Haikus

Der (oder das) Haiku war ursprünglich eine traditionelle japanische Gedichtform, ein Naturgedicht, das darstellt, aber nicht interpretiert. Der Haiku sollte inhaltlich so offen sein, dass er erst durch das Erleben des Lesers, der Leserin vollständig und ganz wird. Er gilt als die kürzeste abgeschlossene lyrische Form: siebzehn Silben, verteilt auf drei Zeilen: 5 – 7 – 5.

Heute wird der Haiku auf der ganzen Welt geschrieben. Entsprechend vielfältig sind die Formen und inhaltlichen Regeln – und die Ansprüche der Puristen, die einzig «wahre Haiku-Lehre» zu vertreten. Mich kümmert das wenig. Vielmehr bietet mir die karge Versuchsanordnung Raum für Phantasie. Denn gerade in der Beschränkung wird diese entfesselt. Einer zusätzlichen Regel habe ich mich unterworfen: Irgendwo zwischen Zeile 1, 2 oder 3 soll ein Perspektivwechsel, ein inhaltlicher Sprung stattfinden. Der Rest ist freies Spiel ohne Anspruch auf irgendwas.

Ach ja! Und am Anfang stand der Wunsch, was wir zurzeit erleben, das Coronatrauma, in Haikus zu fassen.

Der Himmel so rein.
Stille rund um die Erde.
In uns Entsetzen.
Coronastillstand,
bezaubernd und gespenstisch.
Was pocht an der Tür?
Schatten an der Wand.
Besorgt betrachten wir sie.
Sie tanzen im Licht.