Letzthin liess ich mich von einer erstaunlichen Geschichte aus des Dichters Kindheit dazu verführen, das Gesamtwerk von Erich Fried zu kaufen, vier schön gebundene Bände in einem Sammelschuber, erschienen beim Verlag Klaus Wagenbach. Seither stöbere und wühle ich mich durch seine Gedichte und lasse mich zunehmend faszinieren. Am Anfang stand, wie gesagt, die Begebenheit aus Erich Frieds Kindheit, die ich zunächst für eine Legende hielt, so fantastisch schien sie mir.
Im Wien der 1920er Jahre geboren, wurde er schon als Kind mit den Turbulenzen jener Zeit zwischen den beiden Weltkriegen konfrontiert. Mit seiner Mutter war er just an dem Freitag in der Inneren Stadt unterwegs, der später als «Blutiger Freitag» in die Geschichte Wiens eingehen würde. Eine Demonstration von Arbeitern lief aus dem Ruder, so dass am Ende ein Polizist tot und 86 Arbeiter erschossen waren. Erich und seine Mutter hatten im Laden von Bekannten Zuflucht gefunden und mussten ansehen, wie Verwundete und Tote auf Bahren vorbeigetragen wurden.
An Weihnachten desselben Jahres sollte Fried als Erstklässler im Festsaal der Schule ein Gedicht vortragen. Als er unmittelbar vor dem Auftritt erfuhr, dass Polizeipräsident Schober, der Verantwortliche für das Massaker an den Arbeitern, unter den Gästen war, sagte er zu den Versammelten: «Meine Damen und Herren! Ich kann leider mein Weihnachtsgedicht nicht aufsagen. Ich habe gerade gehört, Herr Polizeipräsident Doktor Schober ist unter den Festgästen. Ich war am Blutigen Freitag in der Inneren Stadt und habe die Bahren mit Toten und Verwundeten gesehen, und ich kann vor Herrn Doktor Schober kein Gedicht aufsagen.» Der Polizeipräsident sei wütend aufgesprungen und habe mit seinen Begleitern den Saal verlassen, so dass der Erstklässler Fried erneut vortrat und sprach: «Jetzt kann ich mein Weihnachtsgedicht aufsagen.»[1]
Was für eine Beherztheit, was für eine Zivilcourage eines siebenjährigen Kindes! Aus ihm sollte ein ausgesprochen engagierter politischer Dichter werden, der auch der Heine des zwanzigsten Jahrhunderts genannt wird. Fried stellt seine dichterischen Fähigkeiten weitgehend in den Dienst des politischen Kampfs gegen Faschismus, Rassismus und Unterdrückung. Mein Interesse war geweckt und Frieds Gesamtwerk schnell erstanden.
Prosagedichte der besonderen Art
Beim ersten Stöbern war ich enttäuscht. Keine Gedichte im herkömmlichen Sinn begegneten mir, sondern Prosatexte in gebrochenen Zeilen. Zum Beispiel:
Die Jungen
werfen
zum Spaß
mit Steinen
nach FröschenDie Frösche
sterben im Ernst[2]
Nur seine ersten Gedichte weisen Reime auf und sind rhythmisiert. Die weiteren – an die zweitausend – sind Prosagedichte ohne Rhythmus und ohne Reim.
Geht das? fragte ich mich. Ist das eine redliche sprachliche Form? Oder wird da der Leser, die Leserin veräppelt, nicht zuletzt, weil jegliche Satzzeichen fehlen. Satzzeichen sind aber – neben der Tatsache, dass sie in der Schule wie eine Heimsuchung erlebt werden können – eine Lesehilfe, die den Text gliedert und übersichtlicher gestaltet. Ich war also skeptisch und bereute schon, mich voreilig in Ausgaben gestürzt zu haben …
Erst mit der Zeit entdeckte ich die Vorzüge dieser Art des sprachlichen Ausdrucks: Er ist in dieser Form eben doch verdichtet, indem jeder Wort mehr Gewicht erhält als in einem gewöhnlichen Prosatext. Die Form der gebrochenen Zeilen fordert auch ohne Sprachrhythmus und Reim ein genaueres Hinschauen – beim Schreiben ebenso wie beim Lesen.
Höre, Israel!
Das äussert sich deutlich in seinem Gedichtzyklus Höre, Israel!, in dem er – als Jude, der durch den Naziterror seinen Vater, Verwandte und Freunde verlor und nach England ins Exil fliehen musste – mit Israel und dem Zionismus hart ins Gericht geht, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, seine Kritik sei antisemitisch motiviert. Unter anderem zerlegt er in diesem Gedichtband Zitate zionistischer Originaltexte, etwa von Theodor Herzl, in Verszeilen, «um so die Einzelheiten ihrer Sätze, vor allem auch ihrer Wortwahl deutlicher hervorzuheben».[3] [Read more…]
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