Silvio Rodríguez: Ojalá – Hoffentlich

Ein Liebeslied der besonderen Art. Silvio Rodríguez schrieb es in jungen Jahren, das heisst Ende der 1960er, Anfang 1970er. Seine Fans erhoben es schnell zum Kultlied, das sie noch heute, fünfzig Jahre später, mit glühenden Ohren und Tränen in den Augen mitsingen.

Erst als ich damit begann, zeigte sich, wie schwierig Rodríguez‘ Poesie zu übersetzen ist. Lange kaute ich an manchen Versen, biss mir zuweilen fast die Zähne aus.

Doch nun hat die Übersetzung eine Form gefunden, zu der ich stehen kann. Erst später stiess ich im Web-All auf eine deutsche Version des Liedes von Frank Viehweg, die sprachlich schlicht unschlagbar ist. Am Schluss ist sie eingefügt.

Ojalá

Ojalá que las hojas no te toquen el cuerpo cuando caigan

Para que no las puedas convertir en cristal

Ojalá que la lluvia deje de ser milagro que baja por tu cuerpo

Ojalá que la luna pueda salir sin ti

Ojalá que la tierra no te bese los pasos

Ojalá se te acabe la mirada constante

La palabra precisa, la sonrisa perfecta

Ojalá pase algo que te borre de pronto


Una luz cegadora, un disparo de nieve

Ojalá por lo menos que me lleve la muerte

Para no verte tanto, para no verte siempre

En todos los segundos

En todas las visiones

Ojalá que no pueda tocarte ni en canciones


Ojalá que la aurora no dé gritos que caigan en mi espalda


Ojalá que tu nombre se le olvide a esa voz


Ojalá las paredes no retengan tu ruido de camino cansado

Ojalá que el deseo se vaya atrás de ti

A tu viejo gobierno de difuntos y flores


Ojalá se te acabe la mirada constante

La palabra precisa, la sonrisa perfecta

Ojalá pase algo que te borre de pronto


Una luz cegadora, un disparo de nieve

Ojalá por lo menos que me lleve la muerte

Para no verte tanto, para no verte siempre

En todos los segundos, en todas las visiones

Ojalá que no pueda tocarte ni en canciones


Ojalá pase algo que te borre de pronto


Una luz cegadora, un disparo de nieve

Ojalá por lo menos que me lleve la muerte

Para no verte tanto, para no verte siempre

En todos los segundos

En todas las visiones

Ojalá que no pueda tocarte ni en canciones

Hoffentlich

Hoffentlich berühren die Blätter, wenn sie fallen, nicht deinen Körper

Damit du sie nicht in Kristall verwandelst

Hoffentlich erlöscht das Wunder des Regens, der über deinen Körper rieselt

Hoffentlich geht der Mond auch ohne dich auf

Hoffentlich küsst die Erde nicht deine Schritte

Hoffentlich hat dein ewiger Blick bald ein Ende

Das gezielte Wort, dein perfektes Lächeln

Hoffentlich geschieht bald etwas, das dich verblassen lässt

Ein gleissendes Licht, ein Schneeblitz

Wenn mich bloss der Tod mitnähme

Damit ich dich nicht immer sehen muss

In jeder Sekunde

In all meinen Gedanken

Hoffentlich erreichen dich meine Lieder nicht

Hoffentlich wird die Morgendämmerung nicht von Schreien zerrissen, die mich hinterrücks überfallen

Hoffentlich geht dein Name auf der Stelle vergessen

Hoffentlich bleibt das Geräusch deines müden Gangs nicht in diesen Wänden gefangen

Hoffentlich verfolgt dich der Wunsch

Nach deiner längst vergangenen Regentschaft der Toten und Blumen

Hoffentlich hat dein ewiger Blick bald ein Ende

Das gezielte Wort, dein perfektes Lächeln

Hoffentlich geschieht bald etwas, das dich verblassen lässt

Ein gleissendes Licht, ein Schneeblitz

Wenn mich bloss der Tod mitnähme

Damit ich dich nicht immer sehen muss

In jede Sekunde, In all meinen Gedanken

Hoffentlich erreichen dich meine Lieder nicht

Hoffentlich geschieht bald etwas, das dich verblassen lässt

Ein gleissendes Licht, ein Schneeblitz

Wenn mich bloss der Tod mitnähme

Damit ich dich nicht immer sehen muss

In jede Sekunde

In all meinen Gedanken

Hoffentlich erreichen dich meine Lieder nicht
Deutsche Version des Liedes von Frank Viehweg

Edit 31.7.2023: Übersetzung nochmals überarbeitet

Jacques Brel: Ne me quitte pas – Geh nicht fort

Kann man Poesie übersetzen? Ja, bestimmt. Kann man übersetzte Poesie auch geniessen? Nicht unbedingt. Eine originalgetreue Übersetzung von Poesie ist oft keine Poesie, sondern wenig mehr als die Inhaltsangabe zum ursprünglich poetischen Text. Grad so, als würde man ein gackerndes Huhn neben einen tirilierenden Paradiesvogel stellen.

Erst die Nachdichtung macht aus Poesie eine geniessbare Übersetzung. Das ist dann allerdings das Werk von zwei Autoren.

Ich habe mich an Jacques Brels Ne me quitte pas versucht, ein wunderschönes Liebeslied aus einer anderen Zeit. Doch hört und seht selbst:

Ne me quitte pas

Geh nicht fort

Ne me quitte pas
Il faut oublier
Tout peut s’oublier
Qui s’enfuit déjà,
Oublier le temps
Des malentendus
Et le temps perdu
A savoir comment
Oublier ces heures
Qui tuaient parfois
A coups de pourquoi
Le cœur du bonheur
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas

Moi je t’offrirai
Des perles de pluie
Venues de pays
Où il ne pleut pas
Je creuserai la terre
Jusqu’après ma mort
Pour couvrir ton corps
D’or et de lumière
Je ferai un domaine
Où l’amour sera roi
Où l’amour sera loi
Où tu seras reine
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas

Ne me quitte pas
Je t’inventerai
Des mots insensés
Que tu comprendras
Je te parlerai
De ces amants là
Qui ont vu deux fois
Leurs cœurs s’embraser

Je te raconterai
L’histoire de ce roi
Mort de n’avoir pas
Pu te rencontrer
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas

On a vu souvent
Rejaillir le feu
de l´ancien volcan
Qu’on croyait trop vieux
Il est paraît-il
Des terres brûlées
Donnant plus de blé
Qu’un meilleur avril,
Et quand vient le soir
Pour qu’un ciel flamboie
Le rouge et le noir
Ne s’épousent-ils pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas

Ne me quitte pas
Je ne vais plus pleurer
Je ne vais plus parler
Je me cacherai là
A te regarder
Danser et sourire
Et à t’écouter
Chanter et puis rire
Laisse-moi devenir
L’ombre de ton ombre
L’ombre de ta main
L’ombre de ton chien
mais, Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas
Ne me quitte pas

Geh nicht fort.
Lass uns vergessen,
all das vergessen,
was nicht zu ändern ist.
Lass uns vergessen
die Zeit der Missverständnisse
und all die vergeudete Zeit,
bis wir wussten,
wie man die Stunden vergisst,
die mit ihren Fragen nach dem Warum
das Herz des Glücks zerstörten.
Geh nicht fort.
Geh nicht fort von mir.
Geh nicht.



Ich werde dir schenken
Regenperlen
aus einem Land,
das keinen Regen kennt.
Bis über meinen Tod hinaus
werde ich die Erde aufgraben,
um deinen Leib
mit Gold und Licht zu überhäufen.
Ich werde einen Ort erschaffen,
wo die Liebe herrscht,
wo die Liebe Gesetz wird,
wo du Königin sein wirst.
Geh nicht fort.
Geh nicht fort von mir.
Geh nicht.


Geh nicht fort.
Ich werde unsinnige Worte erfinden,
die nur du verstehst.
Ich werde dir erzählen
von jenen Liebenden,
deren Herzen
zweimal lichterloh brannten.


Ich werde dir
die Geschichte jenes Königs erzählen,
der verstarb,
weil er nicht mit dir zusammenkommen konnte.
Geh nicht fort.
Geh nicht fort von mir.
Geh nicht.

Oft schon
brach ein Vulkan,
den man längst erloschen glaubte,
von neuem aus.
Es gibt, sagt man,
verbrannte Erde,
die mehr Korn hervorbringe
als der beste April.
Und wenn der Abend naht,
schmiegt sich nicht
Rot an Schwarz,
Damit der Himmel sich entflamme?
Geh nicht fort.
Geh nicht fort von mir.
Geh nicht.


Geh nicht fort.
Ich werde nicht mehr weinen.
Ich werde verstummen.
Auf der Stelle werde ich mich verbergen,
Um anzuschauen,
wie du tanzt und lächelst,
um dich singen zu hören,
um dich lachen zu hören.
Lass mich sein
der Schatten deines Schattens,
der Schatten deiner Hand,
der Schatten deines Hundes.
Aber geh nicht fort.
Geh nicht fort von mir.
Geh nicht.

Graçias a la vida – Danke dir, Leben!

Wandgemälde der Charrango spielenden Violeta Parra in Santiage de Chile.

Ist es ein Liebeslied, ein Abschiedslied, eine Hymne ans Leben? Violeta Parras Lied «Graçias a la vida» ist alles zugleich. Vielleicht deshalb ging es um die Welt und wird bis heute gesungen und neu interpretiert. Die chilenische Sängerin schrieb es kurz vor ihrem selbstgewählten Tod im Jahr 1967. Sie hinterliess ein Vielzahl Lieder voller Poesie und oft auch Melancholie, meist in Verbindung mit Liebesleid, darunter eben «Graçias a la vida».

Poesie zu übersetzen ist immer eine Gratwanderung zwischen Originaltreue, die in der Zielsprache oft zu einem zwar korrekten, aber ungeniessbaren Text führt, und einer Nachdichtung, also einem Werk, das auf dem Mist zweier Poeten gewachsen ist. Hier das Resultat dieser Gratwanderung:

Danke dir, Leben!

Danke dir, Leben, du hast mir so vieles gegeben!
Du gabst mir zwei Sternenaugen. Und wenn ich sie auftu’,
trennt sich das Dunkle vom Hellen
und in der Tiefe des Himmels erkenne ich die Sterne
und im Menschengedränge den Mann, den ich liebe.

Danke dir, Leben, du hast mir so vieles gegeben!
Du gabst mir zwei Ohren,
die Tag und Nacht die Welt erlauschen,
den Gesang der Grillen und Kanarienvögel, der Hämmer und Turbinen,
Hundegebell, das Prasseln des Regens
und die zärtliche Stimme meines so Geliebten.

Danke dir, Leben, du hast mir so vieles gegeben!
Du gabst mir die Stimme. Du gabst mir die Laute
und damit die Worte, die ich denke und verschenke:
der Mutter, dem Freund, dem Bruder und dem,
den ich liebe, damit ich zu ihm finde.

Danke dir, Leben, du hast mir so vieles gegeben!
Du gabst mir meine Füsse.
Mit ihnen ging ich durch Städte und Pfützen,
über Strände, durch Wüsten, Berge und Ebenen
und schliesslich – ganz müde – durch deine Strasse, dein Haus, deinen Patio.

Danke dir, Leben, das mir so vieles gegeben!
Du gabst mir das Herz, und das klopft zum Zerspringen,
betrachte ich die Früchte des menschlichen Geistes
und sehe, wie weit das Gute vom Bösen,
und wenn ich in deine klaren Augen schaue.

Danke dir, Leben, du hast mir so vieles gegeben!
Du gabst mir das Lachen. Du gabst mir das Weinen.
So scheide ich das Glück vom Leid,
die beiden Stoffe, aus denen mein Lied geformt ist
und auch dein Lied, es ist dasselbe Lied,
es ist das Lied von uns allen und zugleich mein eigen Lied.

Danke dir, Leben!

Das Lied wurde in unzähligen Versionen interpretiert. Eine der schönsten ist das Original … Wegen der wunderbaren Stimme Violeta Parras und der Schlichtheit ihrer Interpretation:

 

 

Mercedes Sosa trug das Lied rund um die Welt:

 

 

Und schliesslich eine zweisprachige Version von Kontantin Wecker mit Gaby Moreno. Auch diese berührend:

 

 

Violeta Parras Liedtext im Original:

Gracias a la vida

Gracias a la vida que me ha dado tanto
Me dio dos luceros que cuando los abro
Perfecto distingo lo negro del blanco
Y en el alto cielo su fondo estrellado
Y en las multitudes el hombre que yo amo

Gracias a la vida que me ha dado tanto
Me ha dado el oído que en todo su ancho
Graba noche y días
Grillos y canarios, martillos, turbinas
Ladridos, chubascos
Y la voz tan tierna de mi bien amado

Gracias a la vida que me ha dado tanto
Me ha dado el sonido y el abecedario
Con el las palabras que pienso y declaro
Madre, amigo, hermano y luz alumbrando
La ruta del alma del que estoy amando

Gracias a la vida que me ha dado tanto
Me ha dado la marcha de mis pies cansados
Con ellos anduve ciudades y charcos
Playas y desiertos, montañas y llanos
Y la casa tuya, tu calle y tu patio

Gracias a la vida que me ha dado tanto
Me dio el corazón que agita su marco
Cuando miro el fruto del cerebro humano
Cuando miro el bueno tan lejos del malo
Cuando miro el fondo de tus ojos claros

Gracias a la vida que me ha dado tanto
Me ha dado la risa y me ha dado el llanto
Así yo distingo dicha de quebranto
Los dos materiales que forman mi canto
Y el canto de ustedes que es el mismo canto
Y el canto de todos que es mi propio canto

Gracias a la vida

Die Sucht nach schnellen Antworten in der Krise

Prognosen und schnelle Antworten schiessen ins Kraut. Und die Antworten kommen oft, bevor das Problem wirklich erkannt ist. Vielleicht wäre es an der Zeit, mit den Fragen zu leben, die unsere Zeit aufwirft, und statt schnellen Antworten gemeinsam herauszufinden, was für eine Zukunft wir wollen. Dies schlägt die junge spanische Philosophin Sira Abenoza in einer Kolumne vor. – Übersetzung aus dem Spanischen von Walter B.

Die schlimmste Krise seit der Grossen Depression. Länder schotten sich ab und errichten Barrieren. Nationalismus und das Streben nach Autarkie blühen auf. Unsere Bewegungsfreiheit wird beschnitten und wir werden überwacht. Auf einmal leben wir in Kontrollgesellschaften. Gesundheitspässe werden eingeführt und unsere Rechte eingeschränkt. Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Niedergang und Hoffnungslosigkeit greifen um sich. Milliardenschwere Hilfsfonds werden eingerichtet. Am Horizont taucht der Grosse Bruder auf: Bitte geben Sie acht! Noch mehr Virus. Und noch mehr Einbussen. Noch weniger Bewegungsfreiheit – bis hin zur Ausgangssperre. Noch mehr Arbeitslosigkeit.

Seit Wochen überbieten sich in den Medien die Experten mit ihrer Sicht auf die Dinge: wohin unsere Welt in der Post-Corona-Zeit steuert und wie unser Leben in der neuen Normalität aussehen wird. In den Massenmedien wird ihnen Platz eingeräumt für Ausführungen und Erklärungen am Laufmeter. Und die Experten versuchen sich in Hypothesen, sondern Schlagzeilen ab – und stürzen uns allzu oft in eine grössere Depression.

Das ist unser aller Laster: Wir hören den Experten gerne zu, wenn sie uns erklären, wie die Dinge laufen, und wechseln von der Couch oder vom Auto aus zur Not den Kanal. Wenn wir damit einverstanden sind, schauen wir es uns an – und bleiben in der Show. Und was uns nicht behagt, lehnen wir ab – und zappen weiter. In einem so ungewissen Szenario wie dem heutigen vervielfältigt sich der Wunsch, Antworten zu finden: Bitte, liebe Gelehrte, sagt uns, wie unser Leben morgen sein wird, wie nächste Woche und wie in den kommenden Jahren! Wir malen uns aus, dass uns ihre Antworten, wenn auch nur ansatzweise, in der sich immer schneller drehenden Welt die Angst nehmen und dass wir dann ohne viel Umschweife weitergehen können.

Falsche Lösungen als verpasste Chancen

Bei allem Verständnis für diese Haltung scheint mir das Vorgehen falsch. Die Krise verstärkt unsere Tendenz, nach einer Lösung zu suchen, bevor wir das Problem verstanden haben – eine Gewohnheit, die von verschiedenen Autoren beschrieben und von Beratern und Therapeuten behandelt wird. War es im Buch «Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus» oder einem anderen? Dem Vernehmen nach sei es für Männer wichtig, alles sofort in den Griff zu bekommen, während Frauen oft einfach wünschten, sich auszutauschen und angehört zu werden. Ich weiss nicht, ob es eine Geschlechterfrage ist oder eine des Menschseins. Aber ich weiss, dass Lösungen, die gefunden werden, bevor das Problem erkannt ist, in der Regel ein Irrtum sind, das heisst eine verpasste Chance.

Es gibt unzählige Beispiele für falsche Lösungen oder auch ungeeignete Hilfeleistungen. Etwa im Zusammenhang mit den syrischen Flüchtlingen: Unter Aufbietung des guten Willens aller Welt begannen NGOs, Unternehmen wie auch einzelne Bürgerinnen und Bürger Teddybären und Zehntausende Paar Schuhe für Kinder und Erwachsene zu schicken. Die ganzen Plüschtiere und Schuhe landeten letztlich als Abfall in der Landschaft, als die Flüchtlinge wegzogen. Denn es war nicht das, was sie in dieser Zeit brauchten.

Tatsächlich sind es die Entwicklungsländer leid, Lösungen vorgesetzt zu bekommen, die ihre Probleme nicht lösen, weil sie in den Büros der Ersten Welt ausgeklügelt wurden. Im Rahmen von humanitären Programmen oder aus sozialer Verantwortung haben viele Unternehmen Millionenprojekte auf die Beine gestellt, welche die wirklichen Probleme der vermeintlichen Nutzniesser nicht lösten: Es wurden Schulen gebaut, in die nie SchülerInnen einzogen, Wälder angepflanzt, wo sie fehl am Platz waren, unbequeme Schuhe, wacklige Tische und toxische Spielzeuge verteilt.

Man dachte für andere, statt die anderen zu fragen, was sie brauchen.

Vielleicht ist das der springende Punkt. Vielleicht sollten wir aufhören zu meinen, naheliegende Antworten seien die richtigen. Wir werfen uns wohlfeilen Antworten und schnellen Lösungen in die Arme, weil uns das ein (falsches) Gefühl von Sicherheit gibt.

«Die Fragen selbst liebhaben»

Doch was würde geschehen, wenn wir für einmal nicht voreilig nach Antworten und Prognosen rufen würden? Wie, wenn wir für einmal dem Impuls widerstehen würden und tun, was Rainer Maria Rilke einem jungen Dichter empfohlen hat: «… Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen, und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben …»?

Vieles geschieht zurzeit, das wir nicht verstehen und das uns erstaunen lässt, das uns beunruhigt, ja in Angst versetzt. Wie, wenn wir statt nach schnellen Lösungen zu suchen, das Geschehen zunächst eingehend betrachten, dessen Vorgänge, Umstände, Erscheinungsformen und Hintergründe studieren würden, um die ganze Tragweite auszuloten und die Einzelheiten zu verstehen?

Nebst all den Verheerungen, die der Schwarze Donnerstag des Jahres 1929 und der Zweite Weltkrieg zur Folge hatten, führten sie auch zum Ausbau des Wohlfahrtsstaates und zur Anerkennung neuer Menschenrechte. Wenn dies nach all den Tragödien möglich war, so wohl weniger weil Experten in den Medien Prognosen abgaben, wie furchtbar die Zukunft sein würde. Wenn die Zukunft besser wurde als die Vergangenheit, so eher weil es BürgerInnen, PolitikerInnen und DenkerInnen gab, die sich vorstellten, wie die Welt sein sollte, und dann handelten. Wollen wir von ihnen lernen, so ist heute vielleicht nicht die Zeit der Antworten, sondern die Zeit, die Fragen zu lieben, alle Fragen, die uns in den Sinn kommen. Es ist vor allem an der Zeit, darüber nachzudenken und sich vorzustellen, welche Welt wir uns für morgen wünschen.

Umwälzungen, besonders diese hin zum Guten, die uns zu mehr Rechten und Wohlbefinden verhelfen, ergeben sich nicht aus einer passiven Haltung, indem wir etwa vom Sofa aus die Experten fragen, was wohl als Nächstes kommen wird. Sie geschehen, indem wir uns aktiv und einfallsreich mit dem verbinden, was ist, mit dem, was auf uns zukommt, und mit denen, die leiden. Umbrüche geschehen aus dem Wunsch heraus, darüber nachzudenken, wie die Welt sein soll, und was wir dazu beisteuern können. In den Medien, in Thinktanks, als Politiker, Wissenschaftler, letztlich als Bürgerinnen und Bürger können wir dazu beitragen, dass die Welt so wird, wie wir es uns wünschen. Lasst uns Hauptdarsteller sein, nicht Zuschauer!

Widmen wir doch die zig Zoom-Stunden dem gemeinsamen Ausloten, was wir brauchen und was wir wünschen! Wenn wir unserer Vorstellungskraft Flügel verleihen, wenn wir aus dem mentalen Gefängnis ausbrechen, wenn wir, statt uns zu beklagen, kraftvoll uns etwas besseres vorstellen – und dabei unsere Gegner einbeziehen, damit wir eine Welt haben, die alle einschliesst –, dann erreichen wir vielleicht, dass die Zukunft besser wird als vorhergesagt.


Der Text von Sira Abenoza ist im Original auf eldiario.es erschienen.

Was uns zu Menschen macht

In einem kurzen, berührenden Text wendet sich Ignacio Escolar, der Gründer und Geschäftsleiter des spanischen Online-Portals eldiario.es, an seine Leserinnen und Leser. Er spricht ihnen Mut zu und beschwört die Gemeinschaft der Menschen in schwierigen Zeiten. Übersetzung aus dem Spanischen: Walter B.

Ignacio Escolar

«Heute Abend um acht Uhr werde ich wieder auf dem Balkon Beifall spenden, mit Tränen in den Augen und gerührt, wie Tausende Menschen, die täglich von ihren Häusern aus zeigen, dass wir in dieser Situation zueinander halten. Dass wir keine Angst haben, auch wenn wir uns Sorgen machen. Dass wir nicht alleine sind, obschon wir uns alleine fühlen. Dass die Solidarität stärker ist als der Egoismus. Dass wir unsere Dankbarkeit denen gegenüber bezeugen, die mit ihrem Leben spielen – für unser Leben. Dass wir als Gesellschaft obsiegen werden.

In den schwersten Krisen kommt alles Menschliche zum Vorschein: das Schlimmste wie das Beste. Etwa die Unvernunft jener, die zu ihrem Haus ans Meer fahren und so womöglich die Krankheit weiterverbreiten; oder der Egoismus anderer, die im Spital Gesichtsmasken stehlen; oder die Verantwortungslosigkeit jener, die zum Sport in die Bergen oder an den Strand fahren, als hätten wir Ferien. Aber sie sind in der Minderzahl. Es sind nur wenige. Denn die Mehrheit der SpanierInnen zeigt sich in vorbildlicher Weise verantwortlich.

Ich bin stolz auf meine Landsleute und auch auf meine KollegInnen von eldiario.es, wie sie sich verantwortlich zeigen, nun, da Information wichtiger ist denn je. Seit einer Woche arbeiten wir alle von zu Hause aus. Das sind sehr intensive Tage. Hinzu kommt eine andere Schwierigkeit: Mehrere Mitglieder der Redaktion in Madrid haben Corona-typische Symptome.

Ich bin einer von ihnen: trockener Husten, Kopfschmerzen, etwas Fieber. Am Samstag war es am schlimmsten. Heute geht es mir schon etwas besser. Nichts Schlimmes – auch in der Redaktion nicht.

Ich habe mich nicht testen lassen. Und ich bin nicht sicher, ob das bei Tausenden weiteren Corona-Infiszierten wirklich anders ist. Ich wollte nicht zum Arzt gehen, weil ich wusste, dass viele Menschen diesen viel nötiger haben als ich. Ich brauche auch keinen Arzt oder irgend einen Test, um zu wissen, was ich zu tun habe: zu Hause bleiben und nicht nach draussen gehen, nicht das Risiko eingehen, die Krankheit weiterzuverbreiten.

Das Schlimmste waren nicht die Symptome, die schon wieder abklingen. Am schlimmsten traf mich die Isolierung, das Gefühl, so weit weg von den anderen zu sein. Einer der besten Momente des Tages ist um 9.30 Uhr die Sitzung mit den Leiterinnen und Leitern der Redaktion von eldiario.es. Wir treffen uns per Videokonferenz, um unsere Berichterstattung abzustimmen. Wir sehen uns gegenseitig. Es ist ein Arbeitstreffen. Doch wir lachen auch, machen Spässe, und immer wieder kommen wir ins Stocken, weil ein Kind kichert oder ruft und so seinen Vater oder seine Mutter unterbricht und vom Arbeiten abhält.

Deshalb breche ich in Tränen aus, wenn ich dieses Video sehe, in dem uns das Pflegepersonal für den täglichen gemeinsamen Applaus dankt. Oder das andere von Charo ((Link)), eine Seniorin, welche die Ausgangssperre alleine durchlebt, in einem Haus, das geräumt werden soll, und für die all ihre NachbarInnen vom Innenhof aus ein Geburtstagslied singen.

Ich nehme an, es ist das, was uns zu Menschen macht: die Notwendigkeit, uns aufeinander zu beziehen, uns gesellschaftlich zusammenzuschliessen, Solidarität mit den Nächsten zu leben. Deshalb weine ich jeden Abend um acht. Weil dieser Applaus uns daran erinnert, dass wir nicht nur Individuen sind, dass wir nicht alleine sind, dass wir das gemeinsam durchstehen werden.»


Hier geht es zum Original des Textes auf eldiario.es.