Wohin mit der Empörung?

Vor über zehn Jahren sorgte ein schmales Büchlein in Europa für Furore: Stéphane Hessels Essay «Empört euch!» kam zur selben Zeit heraus, als rund um die Welt langanhaltende Proteste ausbrachen, beginnend mit dem «Arabischen Frühling» in Tunesien und bald weiteren Staaten im Maghreb und dem Nahen Osten, dann Europa erfassend mit der Protestbewegung der «Empörten» in Spanien und anderen Ländern. Schliesslich bis nach den Vereinigten Staaten überschwappend mit «Occupy Wall Street».

Wie wir wissen, ist dem «Arabischen Frühling» statt ein Sommer tiefster Winter gefolgt. Die Empörten sind in die Politik eingezogen und empören nun ihrerseits. Und Wall Street ist wieder fest in den Händen der Finanzindustrie. Alles beim Alten also? Nein, schlimmer noch: Das Alte dreht durch wie ein Berserker im Todeskampf und droht die ganze Welt mitzureissen.

Das Alte will nicht weichen

Vielleicht ist das ein Signum unserer Gegenwart. Die Welt schreit nach Erneuerung, nach neuen Lebensgrundlagen und Denkansätzen – und das Alte rastet aus. Eigentlich logisch – aber mit unendlich viel Leid verbunden. In Burma, im Iran, in Tunesien und Ägypten, in China, Russland – wo eigentlich nicht? – klammert sich eine rückwärtsgewandte Elite an die Macht und hält seine Gegner mit Gewalt in Schach – oder eliminiert sie. Andernorts streben populistische Kräfte mit alten Konzepten an die Macht, Rattenfänger der Postmoderne, die mit ihren betörenden, aber falsch klingenden Melodien das verunsicherte Volk zurück in die Finsternis des Mittelalters führen wollen.

Auch in unserer Nähe geschieht solches, etwa die Abschottungspolitik Europas gegen Flüchtlinge und MigrantInnen, inspiriert von rechtsbürgerlichen bis rechtsextremen Kreisen, welche die Angst vor dem Fremden seit je her bewirtschaften und die Politik vor sich hertreiben. Seit vielen Jahren nimmt man schulterzuckend in Kauf, dass an den Gestaden Europas Tausende ertrinken, womöglich mit einem lapidaren «selber schuld». Oder man baut Zäune, um sich vor Menschen – wie vor wilden Tiere – zu schützen, vor Menschen, denen man in ihrer Heimat seit Jahrhunderten systematisch die Lebensgrundlagen entzogen hat und es bis zum heutigen Tag tut, zum Beispiel in Form von (post-)kolonialen Handelsbeziehungen.

Empörung als zweischneidiges Schwert

Es gibt allen Grund, uns zu empören. Doch Empörung ist ein zweischneidiges Schwert. Sie führt via Hass und Fanatismus in den Abgrund. Anderseits stösst Empörung auch den Wandel hin zum Besseren an, indem die dadurch freigesetzte Energie für eine Sache eingesetzt wird, die den Missstand lindert oder gar beendet. Vielenorts begehrt die Zivilgesellschaft in diesem Sinne auf und lässt sich nicht mehr zum Schweigen bringen, zum Beispiel in Iran, wo die Menschen trotz brutaler Repression immer wieder auf die Strasse gehen und dabei unglaublichen Opfermut beweisen, um den Wandel anzustossen. Ebenso in Burma, wo die Bevölkerung sich gegen ein gnadenloses Militärregime zur Wehr setzt und einen hohen Blutzoll zahlen muss. Oder jüngst in Israel. Hier stemmt sich die Zivilgesellschaft quer durch alle Schichten und alle politischen Haltungen gegen die Unterhöhlung der Demokratie durch die neugewählte Regierung. Zu Zehnttausenden gehen die Menschen immer wieder auf die Strasse und lassen nicht zu, dass die Justiz von der Politik in Geiselhaft genommen wird.

Entscheidend ist, dass die Empörung überhaupt zum Ausdruck kommt, so dass sie nicht zu Gift gerinnt, zum Gift der Apathie und Gleichgültigkeit. Entscheidend ist auch, dass sie auf eine Art zum Ausdruck kommt, die auf eine lebenswerte Zukunft zielt und nicht allein auf die zu überwindende Vergangenheit. So werden zwar in Iran auch Parolen wie «Nieder mit der Islamischen Republik» laut. Doch der zentrale Leitspruch, der auch am besten zu mobilisieren vermag, lautet: «Frau, Leben, Freiheit». Empörung und Verzweiflung bekommen so eine Perspektive, für die sich zu kämpfen lohnt. Das setzt andere kollektive Kräfte frei als der reine Kampf gegen das Böse, der oft genug im Blut ertrinkt. Ohne eine affirmative Vision, ohne Zukunftstraum scheint mir Empörung sinnlos.

Charles Eisenstein: Rebellion aus Liebe

Charles Eisenstein ist neben dem kürzlich verstorbenen David Graeber einer der massgeblichen Ideengeber einer «anderen Welt», wie sie seit der Jahrtausendwende von einer erstarkenden Zivilgesellschaft immer lauter gefordert wird. Eines seiner zeitkritischen Essays ist kürzlich auf Deutsch erschienen: «Wut, Mut, Liebe! Politischer Aktivismus und die echte Rebellion». Ein schmales Büchlein mit gewichtigem Inhalt.

«Eine andere Welt ist möglich», diese dreiste Behauptung in einer Welt, die ohne Alternative zum Zivilisationsprojekt der Gegenwart zu sein scheint, bewegt immer breitere Kreise der Menschen, durchaus nicht nur im Westen. Gemeint ist eine Welt, die nicht von Ausbeutung und Konkurrenzdenken geprägt ist, sondern von Sorgfalt und Verbundenheit, gegenüber der Mitwelt ebenso wie gegenüber den Mitmenschen und den kommenden Generationen. Das können wir doch besser: unsere Phantasie, unsere Kreativität und unsere Ressourcen dafür einsetzen, dass ein menschenwürdiges Leben für alle auf unserem Planeten möglich ist, ohne ihn zu zerstören. Wozu sonst soll der Fortschritt gut sein? Erschreckend eigentlich, wie träumerisch und realitätsfern ein solcher Gedanke in der heutigen Zeit anmutet.

Dabei sind es gerade die Leitvorstellungen der heutigen Gesellschaft – und besonders der heutigen Wirtschaft –, die Albträume verursachen und die Lebensnotwendigkeiten von Mensch und Natur in hohem Mass verneinen, also im Grunde realitätsfern sind, weil nicht zukunftstauglich. Immer dringlicher wird die Erkenntnis: Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sondern notwendig. Am deutlichsten erkannt wird das heute im Zusammenhang mit der Klimaerhitzung.

Kühne Gedanken

In dieser Stimmungslage liefert Charles Eisenstein in seinem Essay ein paar Denkanstösse, die uns auf dem Weg hin zu einer anderen Welt voranbringen können. Der Haupttitel der deutschen Übersetzung – «Wut, Mut, Liebe!» – mag gewisse LeserInnen abschrecken. Zu Unrecht, enthält doch das Büchlein einige kühne Gedanken jenseits esoterischen Geschwurbels und lauwarmer Gefühlsduselei.

Der Autor schreibt zunächst gegen das vorherrschende geomechanische Weltbild an. Als wäre die Erde ein riesiger Motor, der ins Stottern geraten ist, setzt man sich zum Ziel, einige Stellschrauben zu justieren, etwa den CO2-Ausstoss. Ist der erst mal im Griff, so meint man, kann weitergewurstelt werden wie bisher. Doch die Erde ist kein Maschine. Die Erde ist ein lebendiger Organismus. Und dieser lebendige Organismus ist ernsthaft krank: «Die tatsächliche Bedrohung der Biosphäre ist viel größer, als die meisten Menschen selbst in der linken Szene begreifen. Sie umfasst das Klima, geht aber bei weitem darüber hinaus. (…) Der Erde droht Tod durch multiples Organversagen.» (S. 29)

Viele Ökosysteme der Erde – ihre Organe – sind angeschlagen, schwer geschädigt oder ganz zerstört. Ein derart geschwächter Organismus ist wenig widerstandsfähig. Seine Resilienz ist angeschlagen. Eisenstein schlägt deshalb umweltpolitische Prioritäten vor, die von jenen des konventionellen Klimadiskurses abweichen. Er wendet sich damit direkt an die Klimabewegung und insbesondere an Extinction Rebellion.

Schutz des Lebens

Die höchste Priorität fordert er für den «Schutz aller verbliebenen Urwälder und anderer noch nicht geschädigten Ökosysteme». «Jedes intakte Ökosystem ist ein kostbarer Schatz, ein Hort der Artenvielfalt, ein Refugium für die Regeneration des Lebens. In ihnen ist jene tiefe Intelligenz der Erde noch lebendig, ohne die eine vollständige Heilung nicht möglich sein wird. In ihnen ist die Erinnerung des Lebendigen Planeten an seine Gesundheit noch da.» (S. 32) Ein solcher Schutz lässt sich unverzüglich umsetzen, ist zum Teil längst gesetzlich festgeschrieben. Bloss wird er vom entfesselten Raubtierkapitalismus missachtet und verhöhnt, wie das Beispiel des heutigen Amazonas-Regenwaldes zeigt. Hier ist zusätzliches zivilgesellschaftliches Engagement gefordert.

Erst an vierter Stelle der umweltpolitischen Prioritätenliste Eisensteins steht die Reduktion von Treibhausgasen in der Atmosphäre, auf die alle Welt schaut und die auch im Zentrum des Übereinkommens von Paris des Jahres 2015 steht. Der effektive Schutz (erste Priorität) und die Regeneration von geschädigten Ökosystemen (zweite Priorität) sowie der rigorose Stopp der weiteren Vergiftung der Erde (dritte Priorität) tragen für sich schon Wesentliches zur Verminderung von Treibhausgasen bei. Viele der notwendigen Massnahmen lassen sich ohne Verzögerung verwirklichen, vorausgesetzt, der gesellschaftliche Wille ist vorhanden.

Revolution der Liebe

Doch Eisenstein wird noch grundsätzlicher. Er sieht beim Klimawandel und der Umweltzerstörung dieselben tieferen Ursachen wie bei Gewalt und Ungerechtigkeit, nämlich das menschheitsgeschichtliche Narrativ der Separation, «eine Geschichte, die mich getrennt von Dir verortet, die Menschheit getrennt von der Natur, den Geist von der Materie und die Seele vom Fleisch». (S. 20) Dieses tiefe Empfinden des Getrenntseins prägt unsere Zivilisation seit undenkbarer Zeit, ebenso wie unser Wirtschaftssystem, den Kapitalismus. Wobei Eisenstein anmerkt: «(…) die früheren sozialistischen Länder verhielten sich genauso räuberisch wie die kapitalistischen Länder (…)». (S. 20)

Unweigerlich führt dieses Grundgefühl des Getrennstseins zur Polarisierung, wie wir sie – auf die Spitze getrieben – heute erleben. Und sie führt zum «Kriegsdenken», dem wir praktisch alle unterworfen sind. «Wenn Ihr glaubt, die Menschen auf der anderen Seite stünden moralisch, ethisch, in Sachen Bewusstsein oder spirituell auf einer niedrigeren Stufe als Ihr, dann steht Ihr schon an der Schwelle zum Krieg. Also, ja, stellt die Handlungen bloß, die die Welt töten. Aber macht nicht die vermeintliche Schlechtigkeit der Handelnden dafür verantwortlich, und bildet Euch nicht ein, dass sich die Rollen ändern, wenn Ihr die Schauspieler feuert.» (S. 44)

Die aktuelle Krise fordert nichts weniger als eine zivilisatorische Transformation, «eine Initiation in eine neue Art von Zivilisation». (S. 21) Sie fordert eine Revolution der Liebe, eine Revolution, die nicht von Wut und Konfrontation ausgeht, sondern von Verbundenheit und Ehrfurcht vor dem Leben und allen Wesen. Wie viele Revolutionen aus Wut haben wir schon gesehen? Und was haben sie gebracht? Laut Eisenstein muss dieser Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, von Sieg und Niederlage durch einen Paradigmenwechsel unterbrochen werden – durch die Überwindung des Wahns des Getrenntseins, durch die Verbundenheit mit dem Lebendigen. Durch die Liebe zu allem, was der Heilung bedarf.

Diese Feststellung mag naiv erscheinen, unrealistisch und aus der Zeit gefallen. Und doch übersetzt Eisenstein damit die Essenz unterschiedlichster Kulturen in die Sprache der heutigen Welt. Jeder noch so kleine Schritt in diese Richtung ist Balsam für Mensch und Welt und trägt zur Heilung bei.

Charles Eisenstein

Wut, Mut Liebe!

Politischer Aktivismus und die echte Rebellion

66 Seiten
Europa Verlag
Zürich 2020

ISBN 978-3-95890- 324-1

 

 

 

 

 

 

 


Das englische Original und die deutsche Übersetzung des Essays sind auf der Webseite des Autors abrufbar. Die Seitenangaben beziehen sich auf die Buchausgabe des Europa Verlags.

Schreckensherrschaft in Nicaragua

In seinem Bericht gibt der Agronom und langjährige Kenner Nicaraguas Laurent Levard einen Überblick über die brutalen Repression der Ortega-Regierung der letzten Monaten und deren Hintergründe. Übersetzung aus dem Französischen: Walter B.

Protestmarsch vom 23. September 2018

300 bis 430 Tote. Mehr als 2’000 Verletzte. Systematische Verfolgung von Oppositionellen. Hunderte von Verschwundenen. Mehr als 300 Personen, die wegen «Terrorismus» zu bis zu zwanzig Jahren Gefängnis und mehr verurteilt worden sind. Mehrere Anführer der jüngsten sozialen Proteste, die untergetaucht oder ins Exil gegangen sind. Tausende von NicaraguanerInnen, die ins Ausland geflohen sind, hauptsächlich nach Costa Rica, bis Ende Juli alleine in dieses Land 23’000: In Nicaragua, dem kleinen mittelamerikanischen Land mit sechs Millionen EinwohnerInnen, besteht seit Mitte Juni eine wahre Schreckensherrschaft. Die Regierung Ortega hatte damals, nach drei Monaten beispielloser sozialer Proteste, die Kontrolle über das Land wiedererlangt. Am 31. August, ein Tag nach Veröffentlichung eines Berichts über die schweren Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua, wurde der Beauftragte des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte durch die Regierung des Landes verwiesen.

Die soziale Bewegung begann Mitte April mit Studentenprotesten gegen die Unfähigkeit der Regierung, die Brände im Naturschutzgebiet Indio-Maiz einzudämmen – und gegen deren mutmassliche Komplizenschaft bei der Plünderung und Zerstörung der tropischen Wälder durch Einzelpersonen und private Unternehmen. Hinzu kamen Demonstrationen von RentnerInnen und StudentInnen gegen die Reform der Sozialversicherungen (INSS). Der Auslöser für die beispiellosen sozialen Proteste war allerdings die Niederschlagung jener Demonstrationen gegen die Reform der INSS. Innert weniger Tage wurden vierzig Menschen – in ihrer Mehrheit StudentInnen – durch Polizeikräfte und Bewaffnete in Zivil, die unter deren Schutz standen, erschossen. Hunderte wurden verletzt. Es war das erste Mal in der Geschichte Nicaraguas, dass an StudentInnen ein derart grosses Massaker verübt wird. Im heutigen Zeitalter der sozialen Medien, wo Videos und Fotos innert Stunden verbreitet werden, führte das zu landesweiter Empörung und Auflehnung.

Es ist gewiss nicht das erste Mal, dass die nicaraguanische Zentralgewalt, unterstützt von Bewaffneten in Zivil, eine StudentInnenbewegung unterdrückt. Doch noch nie hatte die Repression solche Ausmasse angenommen. Die Auflehnung ist auch eine Folge jahrelang aufgestauter Unzufriedenheit und Frustrationen. Die meisten jungen Leute haben Eltern und Grosseltern, die den Kampf gegen Somoza und die sandinistische Revolution in den 1980er Jahren miterlebt und daran teilgenommen hatten. Sie sind oft aufgewachsen unter dem Einfluss eines entsprechenden historischen Bezugsrahmens: des Engagements und der Anteilnahme am Leben des Staates, der Hoffnung auf Veränderung usw. Diese Jugend, die dank der sozialen Medien weltoffen ist, hat sich ebenso gegen die Alleinherrschaft des Paares Ortega-Murillo aufgelehnt. (Während Daniel Ortega Präsident der Republik ist, bekleidet seine Gattin das Amt der Vizepräsidentin und besitzt in Wirklichkeit einen Grossteil der Macht.) Der bewusstere, politisiertere Teil der Jugend, der auch an ökologischen und feministischen Fragen interessiert ist, war zudem aufgebracht über die Affäre um den interozeanischen Kanal, der in völliger Intransparenz geplant wurde und massive Vertreibungen zur Folge haben wird. Dies zugunsten hauptsächlich ausländischer Interessen, verbandelt mit der lokalen Oligarchie. Nicht weniger entrüstet ist die Jugend über die Umweltzerstörung und die Tatenlosigkeit, ja Komplizenschaft der Machthaber gegenüber dieser Zerstörung oder auch über die Allianz der Machthaber mit der Kirche und über die Kriminalisierung der Abtreibung.

Die sozialen Mobilisierung weitete sich schnell aus: mit der Besetzung der Universitäten durch die StudentInnen, mehreren grossen friedlichen Märschen, davon einer am 30. Mai in Managua mit 300’000 TeilnehmerInnen, dann mit der gleichzeitigen Errichtung Hunderter Barrikaden in Städten und auf Landstrassen, um auf die Regierung Druck auszuüben und die aufständischen Quartierte zu schützen. Bald wurden Forderungen nach Gerechtigkeit für die Toten, dem Rücktritt des Paares Ortega-Murillo und nach freien und transparenten Wahlen laut. Ein wesentliches Merkmal der Bewegung – das sich auch als eine Schwäche erweist, wie man heute, in der Phase der Repression, sieht – ist ihr spontaner Charakter. Die einzige bereits bestehende Protestbewegung war jene gegen den Kanal, die Bauern und Umweltschützer zusammengebracht hat. Die StudentInnenbewegung und die darüber hinausgehenden sozialen Proteste haben sich in der Folge nach und nach organisiert und strukturiert, wobei die aktuelle Phase der Repression diesem Strukturierungsprozess grossen Schaden zufügt. [Read more…]

Sechs Jahre nach dem Arabischen Frühling

Tahrir-Platz, Kairo, 18. November 2011

Der Politologe und langjährige Kenner der arabischen Welt Gilbert Achcar wirft in seinem jüngsten Buch einen differenzierten Blick auf die revolutionären Aufstände des «Arabischen Frühlings» – und was daraus geworden ist. Eine Buchbesprechung von Bernard Schmid für die Zeitschrift «Archipel». Übersetzung aus dem Französischen: Walter B.

Wie konnte sich die Hoffnung, die weit über nationale und kontinentale Grenzen hinaus geteilt wurde, in Verdruss, ja Entsetzen verwandeln, zumindest fürs Erste? Diese Frage haben viele Beobachterinnen und Beobachter der politischen Entwicklung in den arabischen und arabischsprachigen Ländern seit 2011 gestellt, dem Jahr der Revolten und der international weit um sich greifenden Euphorie.

Lassen wir das bekannte, seit 2012 kursierende und reichlich abgenutzte Wortspiel, «der Arabische Frühling hat einem islamistischen Winter Platz gemacht», beiseite und beschäftigen uns mit den tieferen Gründen für den Befund, der sich aufdrängt: Ja, sechs Jahre nach dem Höhepunkt der Revolten, die sich von Marokko bis nach Bahrain und Oman ausgebreitet hatten, ist der erhoffte fortschrittliche, demokratische und soziale Wandel ausgeblieben.

Der Intellektuelle und scharfsinnige Beobachter der arabischen Welt Gilbert Achcar, der 2013 bereits «Le peuple veut. Une exploration radicale du soulèvement arabe» [«Das Volk will. Eine radikale Erkundung des arabischen Aufstands»] veröffentlicht hatte, befasst sich in seinem jüngsten Buch, erschienen im Januar 2017, erneut mit den Veränderungen und Spannungen, welche die «arabische» Region seit mehreren Jahren umtreiben.

Zunächst warnt er in der Einführung ein für alle Mal vor falschen Denkmustern, die verhindern, dass die Wirklichkeit der Bewegungen, die sich in dieser Weltgegend ereignen, überhaupt ins Auge gefasst werden kann. Zwei falsche Grundhaltungen stehen einander gegenüber. Auf der einen Seite findet man die essentialistische, kulturalistische Sichtweise, die besagt, dass die Kultur und/oder die Religion der Völker mehrheitlich per se ein Hindernis für jeglichen Fortschritt darstelle und der Islam mit der Aufklärung und der Demokratie nicht vereinbar sei. Eine solche Ansicht hat viele Geister vor 2011 geprägt. Als Beispiele zitiert Gilbert Achcar Textstellen von Samuel Huntington und hauptsächlich von Francis Fukuyama. Diese Anschauung wurde allerdings durch die Umbrüche in jenen Monaten der Jahre 2010/2011, als mehrere Regime ins Wanken gerieten, weitgehend hinweggefegt.

Kein schneller Regimewechsel

Damals hat sich, so erinnert uns Gilbert Achcar, ein anderer, scheinbar diametral entgegengesetzter Diskurs entwickelt, der allerdings nicht weniger falsch ist. Dieser meint, in den Bewegungen der arabischsprachigen Länder die Wiederholung einer anderweitig beobachteten Tendenz zu erkennen, nämlich einen angeblich generellen Trend hin zur Demokratisierung des westlichen und liberalen Typs, wie in Südamerika der 1980er Jahre oder in Osteuropa zwischen 1989 und 1991. Viele Stimmen sagten nun einen schnellen Wechsel der Regime voraus. Deren Ende sei vorhersehbar und würde in ein weitgehend ähnliches politisches System münden, wie es zum Beispiel in der Europäischen Union herrsche. Diese Sichtweise ist völlig verkehrt. Weder in Ägypten noch in Syrien, weder in Libyen noch in Bahrain hat sich die Erwartung ihrer Anhänger und Anhängerinnen erfüllt. Ein solcher Umschwung ist in diesen und anderen Ländern ausgeblieben.

Der Autor legt dar, weshalb seiner Auffassung nach der Wandel in den Ländern des ehemaligen Ostblocks deutlich oberflächlicher war und deshalb auch schneller vonstatten ging als jener, der in der Mehrzahl der arabischen Länder als einzig möglicher erscheint. In den Ländern des ehemaligen «Realsozialismus» lag die Staatsmacht in den Händen einer sozialen Gruppe, «die nicht durch die besitzende Klasse dominiert war, sondern durch die Bürokraten der Staatspartei, also durch Funktionäre. Die allergrösste Mehrheit dieser Bürokraten, die wohlverstanden unten in der Pyramide angesiedelt waren, konnte damit rechnen, ihre Stelle zu behalten oder eine andere zu finden und mit dem Übergang zum Marktkapitalismus sogar ihre Kaufkraft zu erhöhen. Und ein beachtlicher Teil der Mitglieder der höheren Dienststufen konnte damit rechnen, kapitalistische Unternehmer zu werden, indem sie aus der wirtschaftlichen Privatisierung Nutzen zogen.»(Achcar S. 21 f.)

Nichts Derartiges lässt sich in der Mehrzahl der arabischen Länder beobachten. Hier, in den Staaten, die der Autor als «patrimonial» oder «neopatrimonial» bezeichnet, ist es oft eine durch erweiterte Familienzugehörigkeit oder durch «Blutsbande» definierte Gruppe, die Macht und Reichtum beansprucht. Das gilt ebenso für traditionelle Monarchien (Marokko, Jordanien, Golfstaaten) wie für Staaten, die zwar von einer bürokratischen Schicht regiert werden, in deren Inneren aber eine einzige Familie alle Schalthebel der Macht übernommen hat (der Irak von Saddam Hussein sowie das Syrien von Hafiz und später Baschar al-Assad) oder den Zugang zum Reichtum kontrolliert (Tunesien unter Ben Ali mit Unterstützung seiner angeheirateten Verwandtschaft). Abgesehen davon sind die meisten – aber nicht alle – arabischen Länder Rentierstaaten, die von der Monopolisierung der Einnahmen durch den Export von Bodenschätzen profitieren. Unter solchen Bedingungen ist es für die Machtelite eine Frage des sozialen Überlebens, dass sie sich an der Spitze des Staatsapparates halten kann. Im Fall eines Sturzes des Regimes riskiert diese mindestens den völligen Verlust ihrer Privilegien.

Es ist deshalb, so stellt der Autor fest, völlig illusorisch, in der Mehrheit der Länder dieser Region mit einem schnellen, friedlichen, gleichsam einvernehmlichen Wandel ohne Hindernisse zu rechnen. Wenn also der revolutionäre Prozess, der seit den Jahren 2010/2011 im Gange ist, ins Stocken zu geraten scheint, sich hinzieht und Rückschläge erleidet, so spricht das nicht gegen dessen Existenz, sondern ist im Gegenteil angesichts des Befundes, der eben dargelegt wurde, nichts als logisch. Seine Feinde sind weiterhin mächtig und entschlossen – aber hauptsächlich darin, als privilegierte soziale Gruppe das eigene Überleben zu sichern.

Zwischen zwei Feinden

Wie Gilbert Achcar in seinem Buch immer wieder betont, steht der revolutionäre Prozess nicht einem einzigen Feind gegenüber, nämlich der Konterrevolution, sondern zwei Feinden, die eine «doppelte Konterrevolution» darstellen. Auf der einen Seite sind das die Eliten an der Macht, die auf keinen Fall ihre beherrschende Stellung aufgeben wollen und sich dabei auf den Sicherheitsapparat stützen, dessen Ausbau sie mit einem «antiterroristischen» Diskurs begründen. Auf der anderen Seite sind es die pseudoalternativen Radikalen in Form der islamistischen Bewegung. Diese profitiert von einer Aura der Radikalität wegen ihres Diskurses der «kulturellen» Konfrontation mit den herrschenden – westlichen – Mächten, hat aber nie die Formen der wirtschaftlichen Dominanz in Frage gestellt. Die Mehrzahl der islamistischen Bewegungen verteidigt übrigens klar den wirtschaftlichen Liberalismus und beruft sich dabei auf Textstellen im Koran, wo die Welt des Handels gewürdigt wird.

Diese Bewegungen, fügt Gilbert Achcar an, könnten sich oft auf ein Dreigestirn von Mächten stützen, die alle wegen ihres Status als Ölmacht über beträchtliche Mittel verfügen. Es handelt sich dabei um das Königreich Saudi-Arabien, das Emirat Katar und die Islamische Republik Iran (S. 24).

Ein guter Teil des Buches besteht aus Untersuchungen der politischen Entwicklung einzelner Länder nach 2011 vor dem Hintergrund des analytischen Rasters, das auf der einen Seite eine Volksbewegung sieht, dessen verschiedene Lager ein besseres Leben für den Grossteil der Gesellschaft anstreben, und auf der anderen, gegenüberstehenden Seite die beiden Flügel der Konterrevolution. Diese Konstellation ist in dem Sinne dynamisch, als die beiden Flügel der Konterrevolution manchmal zur Zusammenarbeit bereit sind, um gemeinsam die «Ordnung» und den wirtschaftlichen Liberalismus zu verteidigen – zum Nachteil der Volksbewegung und der sozialen Interessen eines Grossteils der Bevölkerung –, und manchmal sich gegeneinander stellen und sogar gewaltsam bekämpfen. Die verschiedenen Lager der Volksbewegung werden deshalb in gewisser Weise zu Geiseln, die von beiden Seiten der Konterrevolution in die Zange genommen werden.

Der syrische Konflikt

Der zentrale Teil des Buches befasst sich mit der Untersuchung von zwei Fällen: diesen von Syrien (S. 35–109) und den von Ägypten (S. 111–225). Im syrischen Konflikt bleibt das repressive Regime des Assad-Clans der vorherrschende Akteur, Urheber schlimmster Gräuel, von der systematischen Anwendung der Folter bis hin zu den Fassbomben, die über Städte und Wohnquartiere abgeworfen werden. Es stützt sich auf die vereinte militärische Stärke Russlands und der iranischen Diktatur. Gilbert Achcar ist kein Anhänger einer Intervention westlicher Militärmächte, stellt aber fest, dass vor allem die Regierungen dieser Mächte selbst es nicht sind. «Aber die Administration Obama hat sehr wohl in Syrien eingegriffen», stellt Achcar fest, «und zwar auf ganz entscheidende Weise, indem sie ihre regionalen Verbündeten [die Türkei und die Golfstaaten] daran gehindert hat, der syrischen Opposition jene Waffen zu liefern, die diese gebraucht hätte. Damit hat Obama das Ungleichgewicht verstärkt, das durch die Intervention Russlands und des Irans entstanden ist.» (S. 40) Es geht hier um die Lieferung von Luftabwehrwaffen sehr kurzer Reichweite, die es erlaubt hätten, sich gegen Bombardierungen aus niedriger Höhe zu verteidigen. Ihre Lieferung war eine Zeitlang von sunnitischen Kräften – zumindest von gewissen Strömungen, die den syrischen Aufstand unterstützten – erwogen worden, ist aber stets am Veto der USA gescheitert. Der Grund dafür liegt in einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Vermögen der syrischen Opposition, einen kontrollierten und «vernünftigen» Übergang zu garantieren, die Interessen der USA zu wahren und diese des Nachbarstaates Israel nicht zu verletzen.

Während die syrische Opposition und das herrschende Regime die wichtigsten Gegenspieler sind, hat Letzteres die jihadistischen Strömungen der Al Kaida und vor allem des Islamischen Staats (IS) zu seinem «Lieblingsfeind» (S. 54) erkoren und zum Hauptfeind Syriens erklärt. Nun aber «wird das syrische Regime den IS nur insofern und in dem Masse bekämpfen, als es sich davon eine Stärkung seiner Position im Kampf gegen den wichtigsten Feind verspricht, gegen die mehrheitliche Opposition.» (S. 66) Abgesehen davon ist der Konflikt zwischen den beiden weitgehend künstlich und begrenzt, zudem ein «abgekartetes Spiel» (S. 64), verbunden mit einer provisorischen und teilweisen Gebietsaufteilung untereinander.

Ägypten

Was nun Ägypten angeht, so beschränken wir uns hier auf eine kurze Zusammenfassung der Situation durch den Autor (S. 157 f.): «Der revolutionären Welle, die am 25. Januar 2011 losbrach, haben sich kurze Zeit später die Muslimbrüder angeschlossen, die wichtigste reaktionäre Kraft der Opposition gegen das herrschende Regime. Mit diesen hatten die progressiven Kräfte, die Linken und die Liberalen, bis anhin unter schwierigen Bedingungen zusammengearbeitet. (…) Die erste revolutionäre Welle wurde am 11. Februar [2011] mittels eines konservativen Staatsstreichs durch das Militär beendet, so dass das alte Regime mit der Unterstützung der Muslimbrüder erhalten werden konnte. Die beiden Flügel der Konterrevolution (…) haben zusammengearbeitet, bis der wachsende Einfluss des islamischen integristischen Flügels dazu führte, dass eine Grenze überschritten wurde», indem die Muslimbrüder im Jahr 2012 einen der Ihren, Mohammed Mursi, zum Präsidenten wählen liessen und versuchten, den Einfluss der früheren Elite zu beschneiden. Und danach: «Die zweite revolutionäre Welle wurde ihrerseits am 3. Juli [2013 in der Folge von Massendemonstrationen gegen Präsident Mursi] durch einen reaktionären Staatsstreich beendet.» Die Zeit danach ist durch das extrem repressive Regime gekennzeichnet, das seit der Wahl des Präsidenten al-Sisi im Jahr 2014 alles tut, um das Land unter einer bleiernen Decke zu halten.

Im letzten Teil des Buches geht der Autor kurz auf andere Länder ein, die 2011 von der Welle der Revolten erfasst worden waren, darunter Jemen, Libyen, aber auch Tunesien. Gerade im Fall dieses letzteren Landes findet man ein Beispiel für eine «friedliche» Zusammenarbeit der beiden konterrevolutionären Flügel, insofern die Partei Nidaa Tounes, die im Jahr 2012 gegründet wurde und auf eine teilweise oder vollständige Restauration des alten Regimes hinarbeitet, seit den Wahlen Ende 2014 zusammen mit der islamistischen Partei Ennahda regiert. Gilbert Achcar stuft diese Situation als ein geringeres Übel ein, nicht so sehr wegen der zu erwartenden Ergebnisse der Regierungsarbeit, sondern weil dadurch die Volkskräfte nicht in einem Pseudokonflikt zwischen zwei konterrevolutionären Akteuren als Geisel genommen werden können. Zudem, so fügt der Autor an, verhindert dies, dass die tunesische Linke sich mit einem der beiden konterrevolutionären Akteure gegen den anderen verbündet. Im Jahr 2012 war anlässlich der Mobilisierung gegen die von der Ennahda geführten Regierung ein Teil der Volksfront versucht, in eine anti-islamistische Allianz mit Nidaa Tounes einzutreten. (S. 241)

Die Allianz zwischen den beiden grossen konterrevolutionären Kräften ist nach Achcar das von den USA und der Europäischen Union bevorzugte Szenario. Aber gerade aus dem soeben skizzierten Grund «stellt sich heraus, dass es auf eine sehr ungewohnte Weise auch aus progressiver Sicht das beste Szenario ist». (S. 245)

Es liegt an der arabischen Linken, so schliesst Achcar, Hoffnungsträgerin für eine sozialere, demokratischere und mit gleichen Rechten für die Frauen ausgestattete Zukunft zu sein. «Damit ein künftiger arabischer Frühling zu einem andauernden Frühling werden kann, müssen entschieden unabhängige progressive Leitmotive erarbeitet werden, die man bis anhin schmerzlich vermisst. Ohne solche Leitmotive wird es unmöglich sein, die soziopolitische Ordnung radikal umzustossen und eine neue aufzubauen (…).» (S. 251)

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Anmerkungen:

Gilbert ACHCAR: «Symptômes morbides. La rechute du soulèvement arabe», Sindbad – Actes Sud, Arles 2017, 279 Seiten, ISBN 978-2-330-07322-0, bisher nur auf Französich erschienen.

Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

Die Buchbesprechung ist in Deutsch in der Zeitschrift «Archipel», Juni 2017, erschienen.

Bild: Tahrir SQ. nov18 von Ahmed Abd El-Fatah, CC-Lizenz via flickr

 

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Protestbewegungen 15-M und Nuit Debout

Fünf Jahre nach Beginn der Proteste der «Empörten» in Spanien, der Bewegung 15-M, ist in Frankreich eine ähnlich breite Bewegung entstanden. Pablo Castaño Tierno, Jungpolitiker bei der linken spanischen Partei Podemos, sieht zwischen beiden Bewegungen einige Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede. Übersetzung aus dem Spanischen: Walter B.

Nuit_deboutSeit der ersten Nuit Debout[i] vom vergangenen 31. März wird die daraus entstandene Bewegung gerne als die «französische 15-M» bezeichnet. Oder man spricht von den «französischen Empörten». Dieses Etikett legt nahe, die französische Bewegung sei eine reine Kopie der spanischen Protestbewegung. Bestimmt haben beide Bewegungen Ähnlichkeiten – aber auch bedeutende Unterschiede.

Die Entstehung

Beide Bewegungen haben mit der Besetzung eines zentralen Platzes in der Hauptstadt nach einer Kundgebung begonnen: der Puerta del Sol in Madrid und des Place de la République in Paris. In Madrid hatte das Kollektiv Democracia Real Ya [Echte Demokratie jetzt] am 15. Mai 2011 zum Protestmarsch aufgerufen. In Paris begann die Besetzung des Place de la République nach dem Generalstreik vom 31. März und einer Massenkundgebung gegen die Arbeitsrechtsreform der sozialistischen Regierung von François Hollande, zu der Gewerkschaften und weitere soziale Organisationen aufgerufen hatten. Sowohl 15-M wie Nuit Debout breiteten sich schnell auf andere Städte aus. In Frankreich werden inzwischen auf mehr als fünfzig Plätzen Versammlungen abgehalten. Und in beiden Fällen entstanden Schwesterbewegungen in anderen Ländern. Ein weiteres gemeinsames Element beim Aufstieg der beiden Bewegungen ist die Tatsache, dass die ersten Schritte durch eine kleine Personengruppe angestossen wurden, danach aber unverhofft grosse Resonanz hervorriefen. Im Fall der spanischen Protestbewegung war es die Gruppe Democracia Real Ya , die am 15. Mai zur Kundgebung aufgerufen hatte. In Frankreich begann alles am vergangenen 23. Februar, als die Redaktion der Zeitschrift «Fakir» zu einer Tagung einlud, um Antworten auf die Frage zu finden: «Wie kann man ihnen Angst einjagen?» Das Ziel war herauszufinden, wie die zerstreuten sozialen Kämpfe zusammengeführt werden konnten, die in den letzten Monaten in Frankreich aufgebrochen waren, unter anderem gegen den Bau eines Flughafens in einem Naturschutzgebiet bei Notre-Dame des Landes oder gegen die Repression, unter der Gewerkschafter litten, sowie gegen die Notstandsgesetze. Nach der Tagung, an der Hunderte von Aktivisten unterschiedlichster Organisationen teilnahmen, traf sich eine kleine Gruppe in einer Bar nahe des Place de la République. Hier wurde der Keim gelegt für das Kollektiv «Gemeinsamer Kampf», das zur Nuit Debout am 31. März aufrief.

Der politische Kontext

Beide Bewegungen sind in Ländern mit sozialdemokratischen Regierungen entstanden, die ihre politischen Programme von Grund auf verraten haben, indem sie sich den Forderungen nach Austerität seitens der Europäischen Union gebeugt haben. In Spanien hatte die Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero die von Angela Merkel und ihren Verbündeten in den europäischen Institutionen durchgedrückte Agenda des Sparens und der Deregulierung im Mai 2010 ohne Abstriche übernommen. In Frankreich gewann Präsident Hollande die Wahlen von 2012, indem er erklärte, die Finanzwelt sei sein «Feind». Und nun setzt seine Regierung eine Politik der Privatisierung, Deregulierung und des sozialen Kahlschlags durch, wie sie Nicolas Sarkozy niemals zur Diskussion zu stellen gewagt hätte, als er an der Macht war. Gleichzeitig wird Frankreich zunehmend ein autoritärer Staat, installiert von Premierminister Manuel Valls, der die Terrorangriffe der letzten Monate in Frankreich genutzt hat, um die Macht der Polizei zu stärken und die sozialen Bewegungen im Zuge der Ausrufung des Notstandsrechtes zu unterdrücken.

Die Motive der Proteste

Die spanische Demonstration vom 15. Mai 2011 standen unter der Losung «Wir sind keine Ware in den Händen von Politikern und Bankiers» und stellte drei grundsätzliche Forderungen auf: das Ende der Austeritätspolitik, der Ausbau der Demokratie und der Kampf gegen Korruption. Zudem gingen der Protestbewegung 15-M andere Proteste voraus, etwa der Generalstreik vom September 2010 oder die Demonstration der «Jugend ohne Zukunft» im April 2011. Im Gegensatz dazu ist die Bewegung Nuit Debout aus einer Reihe von Mobilisierungen gegen eine konkrete Politik hervorgegangen: die von Manuel Valls angestossene Reform des Arbeitsrechts, die ihrerseits von jener Reform inspiriert war, die in Spanien der Partido Popular im Jahr 2012 genehmigt hatte. Allerdings äusserte die Versammlungen von Nuit Debout von Beginn an, die Bewegung lehne nicht nur die Arbeitsrechtsreform ab, sondern wehre sich in einem umfassenderen Sinn gegen die Austeritätspolitik und das politische System Frankreichs. Dies ist eine weitere bedeutsame Gemeinsamkeit mit der Bewegung 15-M.

Die soziale Zusammensetzung der Bewegung

Sowohl 15-M wie Nuit Debout waren in ihren Anfängen grundsätzlich urban und mittelständisch. Die einfachen Leute waren auf der Puerta del Sol in der Minderheit und sind es noch immer auf dem Place de la République. Allerdings wuchs die soziale Vielfalt innerhalb der Bewegung 15-M, als sie sich ausbreitete, und ArbeiterInnen ebenso wie MigrantInnenen wurden schliesslich zu wichtigen ProtagonistenInnen der sozialen Bewegungen in Spanien, vor allem wegen der Plataforma de Afectados por la Hipoteca[ii]. In Frankreich haben sich die Initiatoren der Bewegung Nuit Debout das Ziel gesetzt, die Besetzungen der Plätze auf die Vorstädte von Paris und anderer Städten auszuweiten. Deshalb sprachen an der Massenversammlung auf dem Place de la République vom 9. April nicht nur Soziologen und Gewerkschafter, sondern ebenso Almamy Kanouté, ein farbiger Aktivist aus einem Vorort von Paris, und Amal Bentounsi, die Schwester eines Jugendlichen, der von einem Polizisten erschossen wurde, der später freigesprochen wurde. Der Jugendliche wurde zum Symbol des Kampfes gegen rassistische Polizeigewalt in Frankreich. Ausserdem sprach an der Kundgebung auch ein Vertreter einer Flüchtlingsorganisation und brachte so zum Ausdruck, dass Nuit Debout in einer Gesellschaft, in welcher sich die Fremdenfeindlichkeit eines Front Nacional immer mehr ausbreitet, auch für die Verteidigung des Rechts auf Asyl einsteht.

Beziehung zu den Gewerkschaften

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Spanien und Frankreich besteht darin, dass die französischen Gewerkschaften immer noch mächtige Organisationen sind, die in Mobilisierungszyklen, die in der Regel mehrere Monate dauern, Millionen von Menschen auf die Strasse bringen können. Die Herausforderung für die Bewegung Nuit Debout besteht nun darin, gegenüber den Gewerkschaften ein vielschichtiges Gleichgewicht zwischen Autonomie und Zusammenarbeit zu wahren. Das zeigte sich etwa, als an der Kundgebung vom 9. April zahlreiche aktive Gewerkschafter anwesend waren. Auf der Puerta del Sol wäre ein solches Zusammengehen angesichts des fortgeschrittenen Bedeutungsverlustes der Gewerkschaften in der spanischen Gesellschaft unvostellbar gewesen. Daran ändert auch deren kurzzeitige Wiederbelebung während des Generalstreiks gegen die Regierung von Mariano Rajoy nichts – zumindest bis auf weiteres. Die Bewegung Nuit Debout kann nicht in Anspruch nehmen, bei der Mobilisierung der Leute als wichtigster Akteur an die Stelle der Gewerkschaften zu treten, und sie hat kein Interesse, sich den Gewerkschaften entgegenzustellen. Aber sie kann eine Radikalisierung der Proteste erreichen, sowohl was deren Inhalten wie deren Form anbelangt, so dass die Proteste weniger ritualisiert ablaufen und sich nicht mehr ausschliesslich auf den Fall der Arbeitsgesetzreformen konzentrieren, sondern frischer und spontaner daherkommen, wie zum Beispiel bei der Kundgebung vor dem Wohnsitz von Premierminister Manuel Valls, die letztes Wochenende stattfand. Die Bewegung Nuit Debout könnte ihr Mobilisierungspotenzial auch nutzen, um die Sichtbarkeit jener zu erhöhen, die sich jenseits der Proteste gegen die Reform des Arbeitsrechts engagieren, und so den Gewerkschaften aufzeigen, dass sie nicht Rivalen, sondern bloss unterschiedliche Bewegungen sind, die ihre Kräfte vereinen können, um die Regierung zu Fall zu bringen.

Beziehung zu den linken Parteien

IMG_3758Die Bewegung 15-M entstand kurz vor Gemeinde- und Autonomiewahlen, hatte darauf aber kaum Einfluss, da es keine Partei gab, die stimmenmässig von der Bewegung profitieren konnte. Erinnern wir uns: Die wichtigsten Führer der Izquierda Unida[iii] begegneten der Bewegung mit Skepsis, ja sogar Missachtung, obschon viele ihrer Aktivisten an den Versammlungen teilnahmen. In Frankreich haben die Parteien links der Sozialistischen Partei in den vergangenen Jahren bei den Wahlen empfindliche Niederlagen einstecken müssen, die letzte bei den Regionalwahlen vom Dezember 2015. Als der umstrittene Jean-Luc Mélénchon seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl vom kommenden Jahr ankündigte, kam es zum Streit zwischen seinen Anhängern und den verbündeten Organisationen. Es entstand aber auch die Hoffnung, dass im Jahr 2017 die Linke mit einer soliden Alternative zum unseligen Trio aufwarten könnte, das aus dem Partie Socialiste, den Erben der Rechten von Sarkozy und dem Front Nacional besteht. Mélénchon war zwar auf dem Place de la République, vermochte die Bewegung aber nicht für sich zu vereinnahmen, obschon er das beabsichtigte. Möglich ist hingegen, dass die schwindende Legitimierung der sozialistischen Regierung, durch die Volksbewegung befördert, die Wahlchancen von Mélénchon erhöht, sollte sich bestätigen, dass er an den Wahlen von 2017 der einzige wichtige Kandidat links der Sozialistischen Partei bleiben wird.


Anmerkungen:

[i] Soziale Bewegung in Frankreich, die am 31. März 2016 als Protest gegen die Reform des Arbeitsrechts auf der Place de la République ihren Anfang nahm und sich bald auf weitere Städte Frankreichs ausweitete. Nuit debout heisst auf Deutsch etwa: aufrecht in der Nacht, oft auch frei übersetzt: Die Aufrechten der Nacht, da die basisdemokratischen Versammlungen jeweil nachts auf öffentlichen Plätzen stattfinden.

[ii] abgekürzt PAH: Organisation der Hypothekengeschädigten: Ein Bürgernetzwerk zum Schutz gegen Zwangsräumungen, weil die Hypotheken nicht mehr bedient werden können. Steht eine Zwangsräumung bevor, blockiert eine grössere Anzahl von Mitgliedern des Netzwerks den Zugang für die Vollzugsbeamten.

[iii] «Vereinigte Linke», ein linkssozialistisches Parteienbündnis in Spanien

Pablo Castaño Tierno, geboren 1991, ist Jungpolitiker in der spanischen Partei Podemos, die aus der Protestbewegung 15-M hervorgegangen ist. Das Original seines Artikels ist bei eldiario.es erschienen.

Bildnachweis:

oben: Nuit debout, Public Domain

unten: «Wir sind nicht gegen das System. Das System ist gegen uns.» Foto von Juan Aguilar (CC-Lizenz via flickr)