Postkarte vom Reinacher Rebberg

Manchmal entfliehe ich dem Alltag auf den Reinacher Rebberg. Zwar sind die Reben dort längst in der Minderheit, verdrängt durch Villen mit Weitblick und ihre Gärten. Doch nicht überall liess sich auch der Weitblick verdrängen. Besonders dort nicht, wo die Reben stehen. So lustwandle ich denn fast täglich durch die ruhigen Strassen des Reinacher Hausbergs zu den Reben und lasse mich vom Blick in die Weite zu weiten Gedanken inspirieren – oder auch mal nur zu weinseligen Gedanken, inspiriert durch die anschwellenden Trauben an den Rebstöcken.

Die Reben auf dem Bild wurden diesen Frühling gepflanzt. Sie sind jung und haben ihre Zukunft noch vor sich. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Villen hingegen sind meist etwas älter, um nicht zu sagen alt. Sie haben ihre Zukunft weitgehend hinter sich, investiert in grosse Automobile und Gärten mit Weitblick.

Auch ich habe die Zukunft bald hinter mir. Für eine Villa mit Garten hat’s nicht gereicht. Für den Weitblick hingegen schon.

Postkarte aus Reinach BL

Reinach, von Pfeffingen aus gesehen

Nein, hübsch bist du nicht – auch nicht aus der Ferne! Du bist und bleibst Agglo, eine «Stadt vor der Stadt», wie du dich gerne selbst nennst. Viel zu schnell bist du gewachsen, hast dich vom Bauernkaff zur Agglomerationsgemeinde gemausert, die es mit Bümpliz und Schwamendingen aufnehmen kann. In deinem Wachstumsfieber hast du freilich alle Hemmungen verloren. Bausünde reiht sich an Bausünde entlang der Hauptstrasse. Doch nicht nur dort. Der Dorfkern ist nachhaltig vom Dorf entkernt. Dafür gibt es Einkaufsmöglichkeiten und gemischtes Gewerbe allüberall: Rohrreinigungsfirma neben Haute Coiffure, Fusspflege neben Asia Markt, Weltladen neben Grossbank. Agglo eben: Quadratisch, praktisch, gut.

Dorfbrunnen Reinach

Doch nur wer oberflächlich schaut, kann derart lieblos über Reinach BL urteilen. Bei genauerem Hinsehen tauchen doch noch kleine Perlen auf: der Dorfbrunnen etwa auf dem Niemandsplatz – so heisst er zwar nicht, doch so wirkt er – mitsamt ein paar Quadratmetern Originalpflästerung und Kulturgüterschutz; ein Bauernhaus wie aus der Zeit gefallen, liebevoll restauriert und für moderne Zwecke ausgehöhlt. Am schönsten aber sind Reinachs vergessene Ecken. Sie liegen unter dem Radar von Raumplanung und Dorfpolitik. Nicht einmal Heimatmuseumsgefühle kommen hier auf. Wunderbar!

Doch am lieblichsten bist du am Rebberg. Dort, wo jene wohnen, die es sich leisten können. Dem Agglomief enthoben, blickst du übers Birstal Richtung Gempen. Wahrlich ein fürstlicher Blick! Die Amsel singt dir ins Ohr. Und die Flieder blühen um die Wette. Wer hier lebt, ist leichter mit der Gegenwart versöhnt. Wer hier lebt, braucht keine andere Welt.


Bilder:
oben: «Pfeffingen_08» von Thomas Jundt, CC-Lizenz via flickr
darunter: «Dorfbrunnen Reinach», Wikimedia Commons von Wm1bl – Eigenes Werk, CC-Lizenz

Postkarte aus dem Auge des Sturms

Es ist gespenstisch. Während draussen ein Sturm kräftig an der Weltordnung, wie wir sie kennen, rüttelt, herrscht hier drinnen verdichtete Ruhe. Keine Frage! Ich bin im Auge des Sturms. Die Zeit steht still. Ich ducke mich und hoffe, der Sturm zieht ohne mich weiter.

Was wir erleben, habe ich schon öfter gedanklich vorweggenommen: das Ende der alten Weltordnung mit all ihren leeren Versprechungen und ihrem morbiden Glanz. Und nun erlebe ich ihn am eigenen Leibe, den Sturm, der vieles hinwegfegt, und bin hin und her gerissen zwischen Hoffen und Entsetzen, zwischen Faszination und Bangen.

Postkarte aus Auroville

Matrimandir im Zentrum der «Stadt»

Wenn ich von Auroville aus schreibe, so ist es im Wesentlichen Wald, der mich umgibt, ein lichter, immergrüner Wald voller Schmetterlinge und Vogelstimmen. Das kräftige Grün der Blätter und das ebenso kräftige Ziegelrot des Erdreichs machen das Auge satt, und das Ohr ist erfüllt von ein paar charakteristischen Vogelstimmen, wie der des Brain Fever, der seine eigenartige Melodie wie eine dreiste Behauptung in die Welt schmettert, so dass man sie nie wieder vergisst.

Auroville hat sich dem Abenteuer des Bewusstseins verschrieben. Äusserlich zeigt sich das am Matrimandir, der goldenen Kugel im Zentrum der werdenden Stadt, deren Räume ganz der Sammlung und Meditation gewidmet sind. Es zeigt sich aber auch im praktischen Feld: Manche zukunftsweisende Impulse gehen von Auroville aus oder werden hier gepflegt und weiterentwickelt. Stichworte dazu: Wiederaufforstung, Ökologie, Recycling und Wassermanagement, Permakultur, innovative Schulen, unkonventionelle Architektur und Bauweisen, gemeinwirschaftliches Geld- und Sozialwesen. Das alles ist bei weitem nicht perfekt, aber es ist eine Entwicklung in die richtige Richtung erlebbar.

Gäbe es Auroville nicht, die Welt wäre um einen Hoffnungsschimmer ärmer. Es ist – um nur ein Beispiel zu nennen – einer der wenigen Orte, in denen die Artenvielfalt in den letzten fünfzig Jahren um ein Vielfaches gestiegen ist und noch steigt.

Postkarte aus dem boomenden Chennai

Wie ein gewaltiges Drachenskelett aus Beton thront hoch über der Strasse eine Metrostation. Sie gebiert eine Schlange auf Stelzen, nicht minder monströs, die sich zur nächsten Station windet, von Stadtteil zu Stadtteil: die Hochbahn, die für das moderne Chennai steht. Wärend der frühere Name Madras noch zum Träumen einlädt, steht Chennai für ungezügelten Bauboom, für eine Orgie in Beton, mit unzähligen Server-Farmen mitten in der Stadt etwa: fensterlos, gigantisch, unnahbar, unmenschlich. Nachts um drei wirkt Chennai, als stünde die Apokalypse kurz bevor.

Trotzdem bekomme ich jedesmal vor Freude Herzklopfen, wenn ich das Flughafengebäude verlasse und in das frühmorgendliches Chaos der Grosstadt eintauche. Es ist warm und feucht. Alles riecht üppig, das Betörende ebenso wie das Verstörende, Jasmin ebenso wie der Kadavergeruch aus der nahen Rabatte. Chennai ist in Aufruhr – auch morgens um drei. Wie schön ist es dann, von Freunden herzlich empfangen zu werden, ins Taxi einsteigen zu können und dank der Ortskenntnisse des Fahrers nochmals der Apokalypse entkommen zu sein.

Zügig geht die Fahrt durch schlaftrunkene Quartiere. Die ersten Garküchen haben geöffnet, Nester aus Licht in einer sonst dunklen städtischen Welt. Noch ruhen die Kühe, am Strassenrand oder auch mitten auf der Strasse, so dass die Autofahrer um sie herumfahren müssen, auch die Lastwagenfahrer, die alles andere einfach weghupen, nicht aber die Kühe. Nichts bringt diese aus ihrer verdauungsseligen Ruhe.

Bald liegt das boomende Chennai hinter uns und ist bloss noch eine beunruhigende Erinnerung.