Die Glöckner von Chidambaram

5660034145_79fe2136d7_bEin indischer Tempel ist ein Kosmos im Kleinen. Götter und Menschen leben in den düsteren und vom Alter schweren Gemäuern nahe beeinander. Im Nataraja-Tempel in Chidambaram konnte ich sie beobachten – nun ja: vor allem die Menschen. Der Tempel umfasst eine Fläche von mehr als 15 Hektar, also von über zwanzig Fussballfeldern.

Es musste ein Festtag gewesen sein. Das Tempelgeviert war voller Frauen, Männer und Kinder, welche die Vorplätze und Säulenhallen belebten. Insbesondere die Frauen und Mädchen brachten mit ihren bunten Gewändern Farbe in die geschichtsträchtige, von uralten Zeiten erzählende Düsternis. Ganze Schulklassen – Buben und Mädchen getrennt – strömten durch das Säulenlabyrinth. Wie ein Schwarm Schmetterlinge wirkten die Mädchen in ihren einheitlich farbenen Saris. Die Schuluniformen der Jungen waren in einem unauffälligeren Dunkelblau. Dafür bewegten sich diese weniger gesittet durch die ehrwürdigen Hallen, rannten etwa im Slalom um die Säulen, was die Gläubigen allerdings nicht zu stören schien. Überhaupt war offenbar das Leben, so wie es nun mal war, in diesem Tempel willkommen. In den zentralen Hallen herrschte ein Treiben fast wie auf einem Markt. Es gab auch einzelne Verkaufsstände, in denen Blumenketten und andere Devotionalen angeboten wurden. In anderen Bereichen des Tempels war es ruhiger. Einzelne Bettler schliefen dort auf dem Boden oder kauerten bei einer Säule und assen ein karges Mahl.

Unvermittelt stand ich vor einem Podium, das wie eine Theaterbühne aussah, zunächst mit mehreren Blechtoren verschlossen. Davor stand in Erwartung eine Menge Gläubiger, rufend, singend, vor sich hin betend. Etwas entfernt schlugen zwei junge Männer grosse Glocken. Der eine hatte offensichtlich das Down-Syndrom. Die Glocken waren fast so gross wie die Männer selbst. Ohne sichtbaren Gehörschutz schlugen die Männer mit grossen Holzhämmern darauf ein, so dass sie bestimmt im Lauf ihres Lebens einen Gehörschaden davontrugen, vielleicht auch schon ganz ertaubt waren. Die beiden Glocken hingen je in einer Fensternische, so dass sich ihr Geläut sowohl nach draussen wie nach drinnen ausbreiten konnte. Im Innern dröhnte es selbst in einiger Entfernung noch ohrenbetäubend. Etwas näher betätigte eine Frau eine Art Rassel mit Glöckchen. Das alles fand in einem Säulenlabyrinth statt, uralt und voller Stufen, also auf verschiedenen Ebenen. Dann wurden die Blechtore geöffnet, worauf der Blick auf den Gott Shiva frei wurde, beziehungsweise auf dessen irdisches Symbol, hier nicht ein Lingam, sondern ausnahmsweise die Figur des vielarmigen tanzenden Gottes. Zunächst war da eine breite Kammer, in der junge Mönche hantierten, dahinter die kleinere Kammer mit der Skulptur. Etwas weiter vorne trat ein breiter Strahl gleissend wirkenden Sonnenlichts herein. Als der Schrein sich öffnete, wurden die Leute aufgeregter und hoben die indisch gefalteten Hände hoch über den Kopf. Mir wurde eine gut schmeckende, aber ziemlich scharfe Reiskugel gereicht.

Später zog ich mich an einen ruhigeren Platz neben einem schmalen Treppenaufgang zurück, beobachtete das Treiben und dachte über die beiden Glöckner nach, die im Dienst am Glauben offensichtlich ihr Gehör opferten. Geschah das freiwillig? Besonders beim jungen Mann mit Down-Syndrom war das fraglich. Vielleicht wurde dieser – zum Preis seiner Hörfähigkeit – von der Mönchsgemeinschaft durchgefüttert. Womöglich bliebe ihm ansonsten nur das Betteln auf der Strasse. Und wenn die beiden ihr Tagwerk freiwillig verrichteten und ihr Opfer als besondere Hingabe an die Götter verstanden, als Beweis ihres Glaubens? Was geht in einer solchen Seele vor? Ist sie fanatisch oder verzweifelt – oder beides? Oder ist sie besonders demütig?

Noch Stunden blieb ich in jenem Tempel, schaute dem Treiben zu und sinnierte über die Macht des Glaubens.

Von Pondicherry nach Kerala: Thanjavur

Viele Reisende nehmen kurzerhand das Flugzeug, um von der Ostküste Südindiens an die Westküste nach Kerala zu gelangen. Der Flug von Chennai nach Kochi dauert höchstens eine Stunde. Ich hatte das grosse Glück, dieselbe Strecke in einem Auto und mit eigenem Fahrer zurückzulegen. Es wurde eine zehntägige, höchst faszinierende Reise, die mir ganz unterschiedliche Seiten des südlichen Indien offenbarte – auch die dunklen.

Thanjavur ist keine grosse Stadt. Trotzdem enthält sie alles, was indische Städte so anstrengend macht: chaotischer und überaus lärmender Verkehr, Menschenmengen in geballter Form – wenn ich das etwas salopp so ausdrücken darf – und eine Infrastruktur, die man im Vergleich zu Schweizer Verhältnissen als ziemlich heruntergekommen bezeichnen muss. Doch von indischen Städten geht, zumindest für mich, auch eine grosse Faszination aus: In dieser täglich von neuem improvisierten Lebenswelt, in dieser Zumutung von Stadt pulsiert auch das Leben in höchst intensiver Form, so dass man im Vergleich dazu europäische Städte, insbesondere die nördlicher gelegenen, als geradezu steril, entvölkert und uniformiert bezeichnen muss – von der ursprünglichen Bevölkerung aufgegeben und den Multis als Marktplatz überlassen, so dass sich zumindest die Innenstädte weltweit immer mehr gleichen.
(Noch) nicht so in manchen indischen Städten. Die Strassen sind von kleinen und kleinsten Buden gesäumt, wo man so ziemlich alles für den täglichen Bedarf findet: von den Früchten bis zu den Pneus, von den Blechtellern, wie sie in den meisten einfachen indischen Haushalten üblich sind, bis zu Blumengebinden für religiöse, aber auch ganz weltliche Zwecke. (Die Frauen schmücken damit ihr Haar.) Hinzu kommen fliegende Händler mit ihren Handkarren oder Fahrrädern, die zuweilen in abenteuerlicher Art beladen sind. Hinzu kommen auch Bettler, Mönche und Menschen, die verwahrlost und scheinbar orientierungslos durch den Menschenstrom treiben, dann Kühe, Ziegen, Hunde, Ochsenkarren, Krähengeschrei, das Brüllen der Motoren, das allgegenwärtige Hupen in allen Klangfarben … Die Aufzählung könnte unendlich weitergeführt werden und enthielte doch nur einen Bruchteil der Wirklichkeit eines einzigen Augenblickes in einer indischen Stadt. Eine Zumutung! Eine Überforderung sondergleichen – und doch Ausdruck von unbändigem Leben.

Tausend Jahre alter Tempel

Durch dieses Chaos liess ich mich – «zu Fuss» – treiben, begleitet von meinem Fahrer, um zum Brihadishvara-Tempel zu gelangen. Der Tempel aus der Chola-Zeit unterscheidet sich von allen anderen grossen südindischen Tempeln deutlich darin, dass er nicht bemalt ist – und durch sein stattliches Alter von etwa tausend Jahren.

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Für den Bau wurden Granitblöcke verwendet, die aus etwa fünfzig Kilometern Entfernung herbeigeschafft wurden. Die Blöcke wurden weitestgehen ohne Zement aufeinandergefügt. Die oberste Spitze des Hauptbaus – die religiös von höchster Bedeutung ist – besteht aus zwei Granitblöcken von je vierzig Tonnen. Um die Stufenpyramide zu bauen und die schweren Schlussteine zu setzen, wurden angeblich Rampen von mehreren Kilometern Länge verwendet.

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Die hätte ich gut gebrauchen können, hatte ich mir doch in den Kopf gesetzt, ins Innere des Tempels, also ins Innere des Hauptbaus – Vimana genannt – zu gelangen. Ich stellte mir vor, dass ich dort dem besonderen Treiben ausführlich und in aller Ruhe beiwohnen konnte. Doch einmal mehr stand zwischen Vorhaben und dessen Verwirklichung eine halsbrecherische Treppe. Nach einigen Anläufen gelang es mir, vier Männer (inkl. meinem Fahrer) dazu zu motivieren, mich hinaufzutragen. Ich rechnete fest damit, dass sie mich auch wieder hinunter tragen würden …
Zu meiner grossen Enttäuschung konnte ich mich im Inneren nicht frei bewegen – und schon gar nicht verweilen. Vielmehr wurden die BesucherInnen durch ein enges Gatter geführt, wo sie sich Schritt für Schritt und sehr langsam auf den Altar zubewegten – zubewegen mussten, denn ein anderer Weg war gar nicht möglich. So gelangte auch ich vor den Lingam, dem zentralen Heiligtum, Shiva gewidmet und ihn darstellend – und erhielt prompt einen Sondersegen. Der Priester holte – gegen ein kleines Entgeld – mit einem Kupfertablett, auf dessen breitem Rand eine Flamme zuckte, ein paar Blüten, die in grosser Zahl girlandenartig am Lingam hingen, steckte sie zusammen mit geweihten Früchten und Kreidepulver in einen Plastiksack und händigte mir diesen aus, nachdem er mich mit demselben Pulver gesegnet hatte, indem er es mir auf die Stirne strich. Kein Wunder, habe ich den Abstieg über eine weitere halbrecherische Treppe unbeschadet überstanden.

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