Meine Morgenseiten

Seit über einem Jahr schreibe ich regelmässig die «Morgenseiten», eine liebgewordene Gewohnheit, zugleich eine Art Meditation und Übung im intuitiven Schreiben. Wichtig dabei ist, dass das Schreiben fliesst wie ein Bergbach im Sommer: lustig plätschernd, aber ohne Schnellen und Sturzbäche. – Ein Erfahrungsbericht.

Frühmorgens lausche ich auf meinen Bewusstseinsstrom und schreibe auf, was ich höre. Ein seltsames Geschäft, denn das, was jedem Menschen frühmorgens widerfährt – dass das Bewusstsein strömt –, nehme ich besonders ernst, so ernst, dass ich meine, es lohne sich, diesen Strom zu Protokoll zu nehmen. Zugleich verleihe ich ihm eine gewisse Sorgfalt. Der Bewusstseinsstrom fliesst in geordneteren Bahnen, als wenn ich ihm meine Aufmerksamkeit vorenthielte. Das Bewusstsein würde irrlichtelieren. Dieses alte Wort verdeutlicht schön, was mit dem Bewusstsein für gewöhnlich durch den lieben langen Tag geschieht: Wie ein umherirrendes oder gar irres Licht springt es von Gedanken zu Gedanken, dass einem schwindlig werden könnte. Die Morgenseiten wirken dem entgegen, solange man im Schreibfluss ist.

Es schreibt

Und tatsächlich ist es mit etwas Übung nicht schwer, auf diese Art in den Schreibfluss – in den Flow – zu kommen. Ich staune, wie leicht es mir fällt, bin ich erst von der Absicht befreit, ein Meisterwerk schreiben zu müssen. Das Schreiben macht richtig Spass. Was ich sonst als Ringen, zuweilen als Kampf erlebe, fliesst hier flott dahin. Hinzu kommt die Zügelung des Bewusstseinsstroms, eine Form der Meditation. Allerdings muss ein Soll erfüllt sein, zum Beispiel eine ganze A4-Seite, und dies möglichst in einer halben Stunde. Das erzeugt Druck, vorwärtszuschreiben. Gar nicht so schlecht. Das treibt den Schreibfluss an, verleiht ihm Dynamik. Es bleibt keine Zeit, lange zu überlegen. Es schreibt. Allerdings schreibe ich weniger gehetzt als beim Automatischen Schreiben. Zwischendurch erlaube ich mir ein kurzes Innehalten, um nach einem treffenderen Ausdruck zu suchen. Die Morgenseiten sind mir zu einer angenehmen Pflicht geworden.

Zuweilen schreibe ich die Morgenseiten allerdings erst nach dem Frühstück. Ein rebellischer Akt, der sich gegen die schreiberische Sklaverei der Morgenseiten richtet, die verlangt, dass die Morgenseiten vor dem Frühstück zu schreiben sind. Nun ja, kein Akt mit überbordender rebellischer Kraft. Wenn ich die Morgenseiten erst gegen Mittag schreiben würde – oder gar abends, dann wäre dies eher ein revolutionärer Akt. Und wenn ich sie verweigere, ist das eine Art Hungerstreik, zumindest aber Fasten.

Wenn ich nicht faste, schreibe ich sie am Morgen, die Morgenseiten. Und ich tue es mit Schwung. Ich kann mich also nicht verknoten im Bemühen, eine perfekte Formulierung zu finden, muss nicht auf dem Ende eines Bleistifts herumkauen, bis es im Mund nach feuchtem Holz schmeckt. Wetten, ihr kennt diesen Geschmack aus vergangenen Tagen?

Comments

  1. frau frogg says:

    Lustig, ich schreibe auch Morgenseiten, aber als Fluss kommt das bei mir selten, und ohne Kaffee sowieso nicht. Es kommt so in Schwällen, oder in Tröpfchen, die ich aus dem Hahnen sauge. Ich schreibe lieber abends, da habe ich gute Ideen. Aber danach kann ich oft nicht schlafen. Ach, das Schreiben 🙂

    • Ja, gell, das Schreiben! Man könnte Bücher drüber schreiben … Manchmal ist es eine Lust, manchmal eine Last. Oder einfach eine Lebensart. Bei dir ist’s, glaub ich, gar dein Beruf. Ich habe mich gescheut, das Schreiben zum Beruf zu machen. Über lange Strecken war das Lesen mein Beruf. War weniger herausfordernd, bequemer.

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