Über das Gehen – Betrachtungen eines Rollstuhlfahrers

Wenn man wie ich fast sein ganzes Leben im Rollstuhl verbracht hat, schaut man oft verwundert, manchmal auch etwas befremdet auf das, was Fussgänger auszeichnet: das Gehen. Die Verwunderung ist ebenso gross wie bei den Fussgängern, wenn sie einen Rollifahrer erblicken. Sie hat bestimmt nichts Abschätziges – weder beim Fussgänger noch beim Rollifahrer. Trotzdem ist der Fussgänger froh, dass er nicht im Rollstuhl sitzen muss, und mancher Rollifahrer ist froh, dass er …

Lassen Sie mich das erklären: Haben Sie schon mal genau hingeschaut, wenn ein Fussgänger schreitet, läuft, schlendert oder von mir aus auch flaniert? Sieht das nicht so aus, wie wenn eine unsichtbare Hand eine Marionette durch die Gegend führte – oder gar einen Hampelmann? Die Beine werden abwechselnd nach vorne geschleudert, die Arme baumeln unbeteiligt oder im Gegenrhythmus. Und der Kopf wippt lustig dazu. Dabei sind die Blicke der Fussgänger meist starr auf ein vorgestelltes Ziel gerichtet, als ginge jeder durch seinen eigenen Tunnel – oder als fehlte es der unsichtbaren Hand an Kunstfertigkeit. Begleitet ist dieser doch recht komische Auftritt von einem langweiligen Schlurfen oder einem aufdringlichen „Tack, tack, tack, tack“. Richtig komisch wird es, wenn die Fussgänger – unter uns manchmal etwas abschätzig Fussis genannt – rennen, und geradezu unerträglich, wenn sie marschieren.

Und nun vergleichen Sie das mit dem majestätischen Dahingleiten eines Rollstuhlfahrers. Kein Geräusch ist zu hören, die Bewegungen der Arme geben einen wirklichen Sinn. Und es ist kaum vorstellbar, dass er von einem unsichtbaren Marionettenspieler gelenkt sein könnte. Als Hampelmann ist er völlig ungeeignet, einfach nicht zu gebrauchen. Auch der Gleichschritt ist dem Rollifahrer völlig fremd. Oder haben Sie ihn schon marschieren gesehen? Fortrennen kann ein Rollstuhlfahrer nicht. Er muss der Wirklichkeit entgegensehen. Er kann nicht auf der Flucht von hinten erschossen werden. Ist das nicht Ausdruck einer gewissen Würde, vielleicht auch einer Ästhetik, die einem Fussgänger völlig abgeht?

Nein, ich möchte nicht tauschen, um nichts in der Welt.

Es liest der Ohrenschützer: Über das Gehen – Betrachtungen eines Rollstuhlfahrers

Comments

  1. Tobias says:

    nice, auch wenn Füße und gehen mein Spezialthema ist … ein gelungener Beitrag!

    Liebe Grüße
    Tobias

    • Danke für den Zuspruch, Tobias! Würde mich natürlich interessieren, inwiefern die Füsse und das Gehen dein Spezialthema ist.

      • Tobias says:

        Naja, halte Vorträge zum Thema Lauftechniken, hatte das auch mal bei ner Rundmail erwähnt. gefühlte 95 Prozent unserer Mitmenschen laufen oder gehen falsch, was mit vielen Folgeerkrankungen einhergeht…
        kann dir gerne meine Zulassungsarbeit schicken, da habe ich dies ausführlich beschrieben. nen geschnittenen Vortrag gibt es erst ab August, wenn ich Zeit fürs schneiden finde.

        Liebe Grüße

  2. haxtholm says:

    Lieber Walter ! Ein echter Zweikampf ist hier leider nicht möglich, da ich den Rollstuhl-Fahrer nicht parodieren möchte/kann. Nur soviel sei gesagt:

    Die kopflastige Haltung beim Gehen – will sagen – das Fortbewegen von einem Ort zum anderen, wobei der Kopf eigentlich ganz woanders ist, ist mir bei mir selbst auch schon aufgefallen. Um sich von einem Ort zum anderen zu begeben, muss man sich bewegen, und da kommen viele Gedanken, mit denen man sich beschäftigt. Eigentlich möchte man ganz schnell am Ziel sein und ist nicht richtig bei der Sache. Ich habe da in der letzten Zeit ein wenig drüber nachgedacht und mir vorgenommen, beim Gehen wieder die Augen aufzumachen…In diesem Sinne glaube ich aber, dass ein Rollstuhlfahrer genauso kopflastig durch die Gegend eilen kann, getrieben vom Willens-Vorsatz, einen bestimmten Ort zu erreichen. Vielleicht macht er dabei äusserst hastige Bewegungen mit den Armen und kommt ins Schwitzen und wirkt auch „getrieben“ – wie von fremder Hand gesteuert.

    Und selbstverständlich ist der Gang eines Menschen schon ein sehr zuverlässiger Ausdruck seiner Persönlichkeit.

    Das Tack Tack Tack der Absätze feinbestrumpfter Damenbeine finde ich in der Stadt schon anregend – allerdings muss ich es täglich aus dem Nachbar-Büro ertragen und dort ist es wirklich nervtötend (vielleicht weil man nichts sieht ???)

    Hast du das eigentlich mal gelesen vom Kopf in der Kutsche ? Wenn nicht, schreib ich Dir per Email wo Du das finden kannst. Ist auch interessant zu lesen…

    Also in diesem Sinne – und hoffe, Dir damit nicht zu sehr an den Rollstuhl gefahren zu sein…(letzeres bitte ebenfalls unter Kategorie Satire einordnen)

  3. haxtholm says:

    Hallo Walter, ich wollte eben einen ellenlangen Kommentar hierzu schreiben und hab – alter Dämel der ich nun einmal bin- erst im letzten Moment begriffen, dass das ja Satire ist…

    Gut gemacht – ich glaub Du bist ein ganz schönes Schlitzohr !

    • Schade, hast du dich nicht erwischen lassen! Deinen langen und womöglich erbosten Kommentar hätte ich gerne gelesen … und parodiert. 😉

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