Anreise mit Unbill

Wer eine Reise tut, der kann was erzählen. Erst recht, wenn der Wurm drin war. Doch keine Angst! Ich bin glücklich in Auroville, Tamil Nadu, angekommen – mit lächerlichen drei Stunden Verspätung. Da hätte leicht mehr draus werden können.

Es begann schon in Basel: Der Zug nach Frankfurt Flughafen fiel aus, beziehungsweise fuhr nur bis zum Badischen Bahnhof, keine fünf Kilometer von Basel SBB entfernt, da er schon etwas spät dran war … Ich hatte in diesem Zug einen Rollstuhlplatz reserviert und die Ein- und Austieghilfe organisiert. Nun ist es mit einigem organisatorischen Aufwand verbunden, die Einstieghilfe mit Hebelift statt in Basel SBB im Badischen Bahnhof stattfinden zu lassen. Erschwerend kam hinzu, dass das länderübergreifend und innerhalb einer Viertelstunde zu geschehen hatte. Zudem musste ich ja noch vom einen zum anderen Bahnhof gelangen – innerhalb derselben Viertelstunde, versteht sich. Als ich mir auf dem Bahnsteig – in Basel SBB – diese Unmöglichkeit durch den Kopf gehen liess und nach Alternativen suchte – zum Glück war der Flug von Frankfurt nach Chennai erst am anderen Morgen –, kam der Bahnangestellte, der bestimmt mit eben dieser meiner Einstieghilfe betraut und vielleicht ebenso überrascht wie ich gewesen war, auf mich zu und fragte, ob ich nicht in den Zug Richtung Kiel gleich gegenüber einsteigen und im Badischen Bahnhof umsteigen wolle. Natürlich wollte ich – und er erledigte ebenso informell wie verlässlich die organisatorische Feinarbeit. So sass ich schliesslich doch noch im richtigen Zug, der mit lächerlichen drei Minuten Verspätung vom Badischen Bahnhof Richtung Frankfurt Flughafen losfuhr. Der Kieler Zug musste lange warten, bis die vorsindtflutliche Hebebühne dort angelangt war, wo ich darum bangte, dass mich tatsächlich jemand auslud.

Unvergessen das Bild, wie wir, mit dem scheppernden Ungetüm im Schlepptau den leeren Bahnsteig entlang krochen, während praktisch am vorderen Ende der ICE-Doppelkomposition ein kleines Männchen auf uns wartete, unmöglich auszumachen, ob mit oder ohne rote Schirmmütze.

Erneute Schwierigkeiten mit der Einstieghilfe bekam ich kurz vor dem Abflug: Obschon ich meine besonderen Bedürfnisse als Rollstuhlfahrer beim Einsteigen ins Flugzeug pflichtgemäss und in allen Details angemeldet hatte, war, als es denn soweit war, niemand vor Ort, der mir dabei hätte behilflich sein können. Wieder musste die Hilfe ad hoc organisiert werden. Ich war der letzte, der ins Flugzeug kam. Lächerliche zehn Minuten gingen durch das unvorhergesehene Manöver verloren.

Man kommt auch nicht auf die Idee, mit dem Rollstuhl so entfernte Länder besuchen zu wollen.

Der Rest des Unbills ist schnell erzählt: Der Pilot musste in Frankfurt den Start abbrechen, weil die Bremsen des rechten Fahrwerks nicht richtig funktionierten. Ad hoc wurden diese ausgewechselt, während wir Passagiere auf den Sitzen ausharrten und hofften, dass die Mechaniker trotz des Zeitdrucks zuverlässig arbeiteten. Anschliessend musste die Boeing nochmals aufgetankt werden, da sie beim misslungenen Start drei Tonnen Flugbenzin (!) verbrannt hatte.

Mit lächerlichen drei Stunden Verspätung flogen wir schliesslich in den Himmel Richtung Chennai und landeten dort sicher. Die anschliessende Taxifahrt nach Auroville verlief problemlos.

Auroville, 27. Januar 2019

Ich sitze in meinem Schreibstübchen und lasse die letzten Wochen Revue passieren. Viel zu schnell vergeht die Zeit. Die Tage zerrinnen wie Sand im Stundenglas. Habe ich etwas vorzuweisen, von dem ich sagen kann: «Das hat sich in mir verändert, seit ich hier bin. Das werde ich als Errungenschaft mit nach Hause nehmen»? Ist da etwas, das sich in Worte kleiden lässt und irgend einem Zweck dient? Natürlich, da sind ein paar ebenso schöne wie hinfällige Begegnungen, ein paar stille Stunden unter dem Bagnan-Baum, ein paar kleine Entdeckungen in diesem grossen Waldgebiet, das sich Auroville nennt, einige abenteuerliche Fahrten in die Villages der Umgebung oder nach Pondicherry. Ist das alles?

Und doch bin ich nichts weniger als glücklich. Tag für Tag wird es etwas wärmer. Tag für Tag erblühen neue Bäume und Sträucher. Sie blühen in einer Fülle, die mich erstaunen lässt. Der Boden ist übersät mit frisch gefallenen Blüten in Karminrot, Zitronengelb und Königsblau. Als wäre eben eine grosse Hochzeitsgesellschaft vorbeigezogen. Es ist Frühling, Zeit des Aufbruchs in der Natur, Hochzeit der Blüte.

Vielleicht ist es auch das, was mich glücklich sein lässt: Während ich mich zu Hause von der inneren Disposition her und inspiriert von der zunehmenden Hinfälligkeit meines Körpers dem Lebensende zuneige – bedacht auf Sicherheit im Alter und abwartend, stillehaltend, mich auf einen möglichst passenden Lebensabend vorbereitend –, erfüllt mich hier Aufbruchstimmung, Abenteuerlust, reinste Freude. Und mein Leib fühlt sich gar nicht mehr so hinfällig an.

Life is just a game

Ist es der heitere Himmel, das ausgesprochen angenehme Klima, der südindische, subtropische Groove mit all den betörend Düften, den zauberhaften Tierstimmen, dem üppigen Pflanzenwuchs, mal hell durchsonnt, mal schattig bis hin zum dunklen Bambushain? Sind es die freundlichen, offenen Menschen, die mich hier wohl sein lassen? Sobald ich unterwegs bin, sind Begegnungen, Gespräche fast unausweichlich. Die Gesichter sind offen, interessiert, schauen dich an. Im Nu bist du im Gespräch oder verständigst dich in Körpersprache – eine Geste, ein Lächeln –, weil du kein Tamilisch kannst. Oder ist es das Experiment Auroville, das sich seit fünfzig Jahren im Aufbruch befindet, mal mit mehr, mal mit weniger Elan? Ist es schliesslich die offene spirituelle Suche – eine Suche, die sich zwar an Sri Aurobindo und Mira Alfassa, der «Mutter», orientiert, aber jegliches Sektiererische ablehnt –, ist es die Suche nach neuen Lebensformen, so unvollkommen und tastend sie auch ist, die mich inspiriert?

Ich bin verliebt in Auroville und weiss noch nicht, was das bedeutet. Zugleich eröffnet sich mir die Möglichkeit – und sie wird mit jedem Tag konkreter –, eine längere Zeit von vielleicht fünf, sechs Monaten in Auroville zu verbringen, und zwar in Form eines Freiwilligeneinsatzes. Konkret: Ich wurde angefragt, ob ich nicht mithelfen möchte, die Sache der Barrierefreiheit in Auroville (Accessible Auroville) einen Schritt vorwärts zu bringen.

Diesbezüglich ist in Auroville nur ein anfängliches Bewusstsein vorhanden. Und das nur Dank einer bereits bestehenden Arbeitsgruppe mit ein paar wenigen Kämpferinnen und Kämpfern, die sich seit Jahren höchst engagiert dafür einsetzen. Im restlichen Indien – ausser vielleicht in den grössten Metropolen – fehlt dieses Bewusstsein ganz. Als Rollstuhlfahrer hätte ich ein paar Trümpfe in der Hand und könnte zusammen mit den anderen Aktivisten womöglich etwas bewirken. Geld ist keines vorhanden. Ich müsste also den Aufenthalt selbst finanzieren.

Life is just a game. Ich tue mal so, wie wenn … Entschieden ist noch nichts. Doch ich kläre meine Möglichkeiten ab: Unterkunft, Aufenthaltsstatus (Visum), Fortbewegung (der Swiss-Trac ist für die weiten Distanzen in Auroville zu langsam) und mögliche Projekte.

Nun habe ich also doch etwas vorzuweisen, von dem ich sagen kann: Das hat sich in mir verändert, seit ich hier bin. Das werde ich als Errungenschaft mit nach Hause nehmen, das dient einem Zweck …

Nach dem langen Schweigen

Mein letzter Eintrag auf diesem Blog ist lange her und wurde noch in Südindien geschrieben. – Ich lebe noch und bin inzwischen wohlbehalten in die Schweiz zurückgekehrt. Dies zu eurer Beruhigung. Ja, und es war wunderbar: zwei Monate Sonnenschein mit Temperaturen um die dreissig Grad. Dieser Winter war für mich also durchaus erträglich. Dem Vernehmen nach soll er in Europa bitterkalt gewesen sein.

Doch das ist nur die eine, eher oberflächliche Seite meiner Indienreise. Unter der Oberfläche wurde ich – wie immer in Indien – an meine Grenzen geführt, als Rollifahrer und als Mensch – was ja auch dasselbe ist. Nicht in Auroville, wo ich die ersten vier Wochen verbrachte, wurden mir die Schranken, die sich für einen Rollstuhlfahrer in Indien ergeben, um die Ohren gehauen – dort bewege ich mich inzwischen wie ein Fisch im Wasser –, sondern im zweiten Teil der Reise, wo wir viel unterwegs waren. (Ich habe davon berichtet). Auf unserer Reise durch Südindien musste ich weitgehend auf meine Selbständigkeit verzichten. Denn Rollstuhlfahrer sind in der indischen Lebenswelt nicht vorgesehen – und selbständige Rollifahrer schon gar nicht. Der öffentliche Raum in den Städten ist zuweilen selbst für Fussgänger eine Zumutung. Und auch die Häuser sind kaum zugänglich. Und wenn sie es sind, dann eher zufälligerweise. Das heisst zum Beispiel, dass ich unterwegs je nach Unterkunft nicht selbständig ins Badezimmer komme, weil die Schwelle zu hoch ist. Oder ich kann nicht alleine nach draussen gehen. Da wird es schwierig, seine eigenen Wege zu gehen …

Doch gerade dies, eigene Wege zu gehen, ist inzwischen «mein liebstes Hobby» geworden. Es geht gar nicht mehr ohne. Und nun musste ich also fast einen Monat lang darauf verzichten, mehr noch: meine heiss geliebte Autonomie aufgeben. Das kam mir schräg rüber, emotional schräg rüber: Mein Selbstvertrauen schwand mit jedem Hindernis, das sich mir in den Weg stellte. Und es gab fast nur Hindernisse unterwegs in Südindien.

Das kannte ich ja bereits; bin nicht das erste Mal nach Indien gereist. Und doch wurde ich von der Vehemenz des Erlebten überrascht. Das Selbstvertrauen schwand und machte einem untergründigen Selbsthass Platz. Oder war es Selbstmitleid? Oder beides? Oder ist beides dasselbe, wenn man mit zugekniffenen Augen darauf schaut? Jedenfalls litt mein Selbstverständnis übers Mass. (Zur Entlastung meiner Mitreisenden sei hier angefügt, dass mein innerlich angeschlagener Zustand, den sie womöglich gar nicht bemerkt haben, nichts mit ihrem Verhalten zu tun hatte. Meinen Autonomieverlust konnten sie unmöglich wettmachen.)

Zurück in der Schweiz

Auch der Einstieg hier, zurück in der Schweiz, war nicht einfach. Wie eine lähmende Provokation stand während Wochen die Frage im Raum: «Und was nun?» Das Buch war geschrieben. Ein nächstes ist nicht in Sicht. Die eine oder andere Aufgabe ist zwar noch unerledigt. Zugegeben! Doch wenn ich mich frage, was mir noch unter den Nägeln brennt, was noch unbedingt in diesem Leben getan werden möchte, so komme ich gegenwärtig in Verlegenheit, weiss keine Antwort und wage doch nicht zu antworten: Nichts!

Vielleicht deshalb auch mein längeres Schweigen hier auf dem Blog. Ich war so etwas von uninspiriert. Und bin es noch. «Wird schon wieder kommen», kann ich mir sagen. «So lehrt es die Erfahrung.» Und ich komme ja auch langsam wieder in die Gänge. Ideen tauchen auf am Horizont – auch die Lust, sie zu verwirklichen. Zwar verfliegen damit nicht einfach meine Selbstzweifel. Doch sie werfen nicht mehr gar so lange Schatten.

Einen neuen Wind brachte auch der Bescheid des Verlages zu den Verkaufszahlen meines Buches: Bis Ende 2016 wurden knapp 1’100 Exemplare verkauft. Eine Zahl, die – es ist nicht zu leugnen – zu meiner inneren Gesundung beiträgt …

Das also zu meiner Befindlichkeit nach meinem langen Schweigen. Nun aber genug der Nabelschau. Bald soll es in diesem Blog wieder um ganz andere Dinge gehen.

Abenteuer Behinderung

Als Mensch mit Behinderung bist du auserwählt – zu deinem Guten wie zum Schlechten. Du bist auserkoren, etwas Anderes, Besonderes zu sein. Als Rollstuhlfahrer ist das augenfällig. Aber es gilt für alle Behinderungsarten. Das Schicksal hat dich zu einem Leben im Sonderstatus verdonnert – ein Leben lang. Es gibt kein Entrinnen. Erst viel später wirst du herausfinden, dass dies – ebenso wie eine Last – auch ein Geschenk ist. Und es liegt ganz in deinen Händen, etwas daraus zu machen: zum Beispiel eine Heldengeschichte mit dramatischen Momenten und deren Auflösung in Gelassenheit. Oder du entwickelst anhand deiner Behinderung eine tiefgründige Narrenfreiheit, inszenierst also eine Komödie. Warum nicht? Wenn die Lage schon ernst ist, warum soll man sie auch noch ernst nehmen? Und Freiheit ist immer gut – innere Freiheit. Behinderte wären dazu prädestiniert: Wenn du dich ein Leben lang mit deinen Beschränkungen herumgeschlagen hast – zugegeben ein Kampf, den auch Nichtbehinderte ausfechten müssen –, so kannst du der Ernüchterung und Verzweiflung nur entgehen, indem du innere Freiheit entwickelst, eine Freiheit wider die schier erdrückende Macht der äusseren Tatsachen, eine Narrenfreiheit eben. Und dann wird es plötzlich spannend, das Behindertsein – eine sportliche Herausforderung. Und du bekommst Chancen noch und noch, über dich selbst hinauszuwachsen. Blinde fangen dann zu malen an – Taube zu musizieren. Und Rollstuhlfahrer gehen auf ausgedehnte Reisen jenseits der ausgetretenen Touristenpfade. Behindertsein wird zur Tugend, zum Segen – zum Abenteuer.

Denn was spricht gegen das «Jetzt erst recht», wenn du eine Behinderung hast? Was gibt es schon zu verlieren? Deine Behinderung? Deinen Körper? Dein Leben? Lächerlich! Als Behinderter bist du zur Gelassenheit aufgerufen, zum Spiel mit der Wirklichkeit, zur Narretei. Alles andere ist absurd – und ungesund.

Rollstuhl_9_5_2014Bild: Wheelchair von Joshua Zader (CC-Lizenz via Flickr)

 

Werbung in eigener Sache: «Im Gespräch»

Eigentlich stehe ich nicht gern im Rampenlicht. Sobald mehr als zehn Personen ihre Aufmerksamkeit auf mich richten, wird’s für mich ungemütlich. Und sind es mehr als zwanzig, bekomme ich Schweissausbrüche und meine Gedanken spielen verrückt. Es ist dann, als wäre dort, wo normalerweise mein Denken stattfindet. nur noch ein schwarzes Loch …

Doch manchmal muss man in den sauren Apfel beissen. Dies tue ich Ende April anlässlich eines öffentlichen Gesprächs mit Martin Haug, dem baselstädtischen Beauftragten für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Natürlich wird es bei diesem Gespräch um Behinderung gehen – aber nicht nur. Es wird um meine ausgedehnten Reisen gehen, schliesslich lautet der Untertitel des Gesprächs: «Weltenreisender Rollstuhlfahrer» – aber nicht nur. Vielmehr werde ich aus dem Nähkästchen meines Lebens erzählen, angeregt durch das ehrliche Interesse und die entsprechenden Fragen von Martin Haug. Dank ihm und seiner ungekünstelten Anteilnahme kann ich mir das überhaupt vorstellen. Mehr noch: Ich freue mich richtig drauf.

Musikalisch eröffnet wird der Abend durch Fabienne Schöpfer, eine junge, ausgezeichnete Gitarristin, die ich – welch ein Zufall – kenne, seit sie geboren ist. Als Kleinkind sass sie zuweilen auf meinen Knien, und ich fuhr sie durch die Wohnung ihrer Eltern.

Kommt also alle an diesen Gesprächsabend! Ich freue mich drauf – auch wenn es am Ende mehr als zwanzig Personen sein sollten …

Für Ortsunkundige: Den Ackermannshof findet man hier.

 

Reisekosten können leider keine übernommen werden. 😉