Auroville – ein Traum

Die Gründung von Auroville im Jahr 1968 geht auf die Initiative von Mirra Alfassa zurück, von ihren Anhängern liebevoll «die Mutter», «la mère» genannt. Auroville sollte eine universelle Stadt von um die 50’000 EinwohnerInnen aus allen Erdteilen werden, «um die Einheit der Menschheit zu verwirklichen». Wie soll dieses Ziel erreicht werden, und wo steht man heute auf diesem Weg? In diesem und weiteren Beiträgen möchte ich solchen und ähnlichen Fragen zu Auroville auf den Grund gehen. – Eine Annäherung in mehreren Schritten.

Zunächst die Übersetzung eines Textes von Mirra Alfassa, geschrieben im August 1954, in dem zum ersten Mal die Idee zu einem solchen Projekt auftaucht.

Ein Traum

Irgendwo auf der Erde sollte es einen Ort geben, von dem kein Staat das Recht hätte zu sagen: «Der gehört mir», wo alle aufrichtig strebenden Menschen guten Willens als Weltbürger frei leben könnten und nur einer einzigen Macht gehorchten: der Macht der höchsten Wahrheit. Ein Ort des Friedens, der Eintracht und der Harmonie, wo alle kriegerischen Instinkte des Menschen einzig dazu genutzt werden, die Ursache seines Leidens und seines Elends zu bekämpfen, seine Schwächen und die Unwissenheit zu überwinden und seine Begrenztheit und Unfähigkeit zu besiegen. Ein Ort, wo die Bedürfnisse des Geistes und die Sorge um den Fortschritt den Vorrang haben gegenüber der Befriedigung von Wünschen und Leidenschaften und der Suche nach Vergnügungen und materiellen Genüssen.
An diesem Ort könnten die Kinder ganzheitlich aufwachsen und sich entwickeln, ohne den Kontakt mit ihrer Seele zu verlieren. Nicht um Prüfungen zu bestehen, würde gelehrt, noch um Zeugnisse oder Posten zu erhalten, sondern um bestehende Fähigkeiten zu verbessern und neue entstehen zu lassen. An diesem Ort würden Titel und Stellung ersetzt durch die Möglichkeit zu dienen und zu organisieren. Für die körperlichen Bedürfnisse wäre für alle in gleicher Weise gesorgt. Und intellektuelle, moralische und spirituelle Überlegenheit würde der Allgemeinheit zugute kommen – nicht um die Freuden und die Macht des Lebens zu steigern, sondern um mehr Aufgaben und Verantwortung übernehmen zu können.
Die Schönheit in all ihren künstlerischen Formen wie der Malerei, Bildhauerei, Musik und Literatur wäre für alle in gleicher Weise zugänglich. Die Möglichkeiten, sich an den Künsten zu erfreuen, wäre einzig durch die Fähigkeiten jedes einzelnen begrenzt und nicht durch seinen materiellen Reichtum oder seine soziale Stellung. Die Arbeit wäre nicht dafür da, sein Leben zu verdienen, sondern sich auszudrücken und seine Fähigkeiten und Möglichkeiten zu kultivieren, was der Gesamtheit der Gruppe dient, die ihrerseits für die existenziellen Bedürfnisse und guten Rahmenbedingungen jedes einzelnen sorgt.
Insgesamt wäre das ein Ort, wo die menschlichen Beziehungen, die gewöhnlich weitgehend auf Konkurrenz und Kampf beruhen, durch solche des Wetteiferns nach dem Guten, der Zusammenarbeit und wirklicher Brüderlichkeit ersetzt werden.
Die Erde ist nicht bereit, dass ein solches Ideal verwirklicht werden könnte. Denn die Menschheit besitzt noch nicht genügend Kenntnisse, um dieses verstehen und umsetzen zu können, und auch nicht die dafür notwendige Bewusstseinskraft. Deshalb nenne ich es einen Traum.

Mirra Alfassa, August 1954

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