Die Zukunft gehört den Kleinbauern, nicht den Agrarmultis

Ernährungskrise, immer mehr Hungernde, Getreide als Kriegswaffe: Wer hätte gedacht, dass uns im 21. Jahrhundert solche Tatsachen um die Ohren fliegen? Doch die Probleme sind nicht neu. Und sie sind hausgemacht. Eine wichtige Ursache ist die weltweite Verdrängung der Kleinbauern durch die industrielle Landwirtschaft. – Eine Bestandesaufnahme.

Unser Ernährungssystem ist krank: Weltweit hungern 828 Millionen Menschen, Tendenz steigend. Zugleich leiden 1,9 Milliarden Menschen über 18 Jahre an Übergewicht. 650 Millionen davon sind krankhaft fettleibig. Bis zu einer halben Million Kinder erblinden jährlich wegen Vitamin-A-Mangel.

Unser Ernährungssystem macht krank. Beispiel Pestizide in der Landwirtschaft: Neben den verheerenden Langzeitfolgen für die Umwelt sterben jährlich 200’000 Menschen an akuter Pestizidvergiftung. Beispiel zunehmender Einsatz von Kunstdünger: Er schadet der Umwelt und sorgt langfristig nicht wesentlich für Mehrerträge. Im Gegenteil: Die Böden laugen aus und verwandeln sich in Agrarwüsten, wo sich ohne massiven Mitteleinsatz kein Anbau mehr lohnt. Zudem ist die heutige Landwirtschaft eine der wichtigsten Ursache für die Klimaerhitzung.

Eine Agrarwüste entsteht – trotz aller Schönheit der Abendstimmung.

Unser Ernährungssystem wird von Grosskonzernen beherrscht, die mehr und mehr die ganze Produktionskette kontrollieren, vom Saatgut über den Anbau bis zur Verarbeitung der Nahrungsmittel. Gleichzeitig ist das Kleinbauerntum, das historisch gesehen bis vor kurzem für die Welternährung zuständig war und noch heute den grösseren Teil dazu beiträgt, ein sterbender Berufsstand, erdrückt und vertrieben durch eben diese Konzerne und die Kräfte des freien Markts, der die Nahrungsmittelpreise dank Technologieschüben und Produktivitätssteigerung, also durch eine massive Industrialisierung ins Bodenlose fallen liess, so dass die Bauern nicht mehr mithalten können, es sei denn, sie industrialisieren ihren Betrieb auf ein hohes Niveau und begeben sich so in Abhängigkeit von den grossen Playern. Dazu müssen Agrarflächen zusammengelegt und Monokulturen angebaut werden. Dies führt zu einem weiteren Preiszerfall bei den Landwirtschaftsprodukten. Ein Teufelskreis, bei dem es keine Gewinner gibt, ausser die Aktionäre der Agrarmultis.

Die «Grüne Revolution» frisst ihre Kinder

Alles begann mit der «Grünen Revolution» in den 1960er Jahren. Ertragssteigerungen durch neue Anbaumethoden und Züchtungen, durch Dünger, Pestizide und grosse Maschinen sollten den Hunger besonders im globalen Süden verringern. Mit Erfolg. So wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, in Indien im Jahr 2003 sechsmal mehr Weizen produziert als noch 1961. Seit den 1970er Jahren ist Indien in der Lage, seine Bevölkerung mit den Grundnahrungsmitteln selbst zu versorgen.

Doch die Revolution hat ihre Kehrseite: Die Ertragssteigerung führte zu einem Preiszerfall bei den landwirtschaftlichen Produkten, so dass die Bauern immer mehr produzieren mussten, um die sinkenden Einnahmen auszugleichen. Eine Katastrophe für sie. Viele gingen bankrott. Das war die Geburtsstunde der industriellen Landwirtschaft, zum Beispiel in den USA. Grosskonzerne sprangen in die Lücke und kauften Farm um Farm auf. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen – die Liberalisierung – förderten zusätzlich das schrankenlose Wachstum dieser Konzerne. Die Folge war eine strukturelle Überproduktion, zum Beispiel von Weizen. Diese ging in den Export und flutete den Weltmarkt. Viele Länder des globalen Nordens schützten ihre landeseigene Getreideproduktion durch Importzölle. Der Süden konnte das nicht – weil er handelspolitisch in einer deutlich schwächeren Position war.

Das führte weltweit zu einem Bauernsterben – im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Ganze Landstriche wurden entvölkert, etwa in Frankreich, weil sich die bäuerlichen Strukturen auflösten und die Menschen in die Städte zogen, um Arbeit zu finden. In Indien trieben und treiben die landwirtschaftlichen Zwänge hunderttausende Kleinbauern in den Suizid, hauptsächlich wegen Überschuldung. Sie wurden durch die «Grüne Revolution» von der aufstrebenden Agrarindustrie abhängig oder schlicht von ihrem Land vertrieben. Auch in der Schweiz halbierte sich laut der landwirtschaftlichen Strukturerhebung des Bundesamtes für Statistik seit 1996 die Anzahl Landwirtschaftsbetriebe von rund 80’000 auf etwas über 40’000.

Kleinbauern als Rückgrat der Welternährung

Kleinräumige Landwirtschaft in Hoi An, Vietnam.

Wie wir inzwischen überdeutlich erfahren, stecken unser Ernährungssystem und damit die Landwirtschaft in einer Sackgasse. Wir sind im Begriff, unsere natürlichen Lebensgrundlagen an den Meistbietenden zu verhökern. Saatgut, Boden und Nahrungsmittel werden der gesellschaftlichen Verfügungsmacht entrissen und landen in den Händen von Konzernen. Wir geraten vollends in deren Abhängigkeit. Ganze Länder, ja Kontinente werden so erpressbar.

Wie konnte es so weit kommen, dass afrikanische Länder bis zu hundert Prozent von Getreidelieferungen aus der Ukraine oder Russland abhängig sind? Weshalb wurde in den letzten Jahrzehnten völlig ausgeblendet, dass – wo Ackerbau überhaupt sinnvoll und möglich ist – nur mit den lokalen Bauern Ernährungssicherheit zu erreichen ist? Statt die kleinräumigen, regionalen landwirtschaftlichen Strukturen zu stärken und mit modernen Mitteln auszustatten, öffneten manche afrikanische Regierungen den Agrarmultis Tür und Tor, oft genug im Zusammenhang mit ungerechten Handelsverträgen. Wie sich heute herausstellt, eine Art kollektiver Selbstmord.

Dabei legt ein Bericht der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) schon 2014 dar, dass die Kleinbauern das Rückgrat der Welternährung darstellen. Es waren diese, die 80% der weltweit konsumierten Lebensmittel produzierten. Gleichzeitig kontrollierten sie nur 8% der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Ein grosses Potenzial liegt hier brach.

Heute muss in Sachen Ernährungssicherheit, (sicherer Zugang zu Grundnahrungsmitteln) und Ernährungssouveränität (das Recht aller Völker, Länder und Ländergruppen, ihre Landwirtschafts- und Ernährungspolitik selbst zu definieren) ein grosses Umdenken stattfinden. Nicht die Menge der Nahrungsmittel ist das Problem, sondern die Verteilung und der sichere Zugang weltweit. Der Welthunger ist eine Folge der ungerechten Handelsbeziehungen und damit ein koloniales Erbe. Er kann nicht bekämpft werden durch mehr Massenproduktion. Vielmehr müssen die Handelsstrukturen gerechter und der lokale Anbau gefördert werden.

Auch die schiere Logik spricht für Ernährungssouveränität und den Erhalt sowie die Förderung des Kleinbauerntums: Wo stabile lokale und regionale Strukturen zwischen Produzenten und Konsumentinnen erhalten bleiben oder neu entstehen, sind die Wege kurz, die Feldfrüchte lokal verankert und die Verfügungsmacht der Bevölkerung über die Nahrungsmittel gross. Lokaler und regionaler Handel sollen Vorrang haben vor dem Export von Agrarprodukten. Entsprechend müssen internationale Handelsverträge und nationale Gesetze angepasst werden.

Ein frommer Wunsch?

Angesichts des Gedröhns der Agrarlobbys im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg, die eine weitere Forcierung der landwirtschaftlichen Industrialisierung fordern, mögen solche Forderungen wie ein frommer Wunsch jenseits jeder Realität daherkommen. Dabei ist das Scheitern eben dieses Modells, das die Lobby vertritt, offensichtlich. Trotz Grüner Revolution und einem Überfluss an Nahrungsmitteln weltweit konnte der Welthunger nicht besiegt werden und ist neuerdings wieder auf dem Vormarsch. Von den fatalen Folgen für die Umwelt ganz zu schweigen.

Zugleich fasst das Konzept der Ernährungssouveränität immer mehr Fuss – viel zu langsam zwar, aber immerhin: Venezuela, Nepal und Senegal haben es in ihrer Verfassung verankert. Länder wie Mali und Bolivien sind auf dem Weg dazu. Sicherheit bei der Ernährung und Souveränität beim Anbau von Nahrungsmitteln ist nur mit kleinräumiger Landwirtschaft zu erreichen.

Comments

  1. wolfgang fubel says:

    Wir ernähren Uns im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode!!

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