Europas Bauern in der Sackgasse

Die aktuellen Bauernproteste sind offenbar ansteckend. Seit die niederländischen Bauern letztes Jahr teils gewaltsam protestierten, weil die Behörden den Stickstoffnotstand ausgerufen hatten und den Viehbestand in Hollands Ställen massiv verringern wollten, verbreiten sich die Proteste der Bauern in ganz Europa. Steine des Anstosses sind Umweltauflagen, bürokratische Hürden, Subventionskürzungen und der Zerfall der Produzentenpreise. Wut und Verzweiflung der Bauern münden oft in rohe Gewalt. Was läuft hier falsch? – Der Versuch einer Deutung.

Lange Zeit galt die niederländische Landwirtschaft als modern und zukunftsgerichtet. Ihre Produktivität war unvergleichlich. Zugleich flossen die Subventionen seitens der EU in Strömen, zumindest zu den grössten Betrieben. Der Umbau hin zur unternehmerischen Landwirtschaft, verbunden mit einer Spezialisierung auf wenige Produktionszweige, wurde durch diese Geldströme befeuert. Auf der Strecke blieb die bäuerliche, kleinräumige Landwirtschaft. Sie konnte im Preiskampf nicht mithalten. Viele Kleinbauern waren vor die Wahl gestellt, entweder aufzugeben oder zu expandieren. «Wachse oder weiche», war die Forderung der Zeit. Die bäuerliche Landwirtschaft wurde ab den 1960er Jahren zunehmend an den Rand gedrängt, die unternehmerische bis hin zur industriellen Landwirtschaft immer dominanter, nicht nur in den Niederlanden.

Der Preis dieses industriellen Modells, das grossflächige Bewirtschaftung und einen bedeutenden technischen Aufwand voraussetzt, ist fatal, und zwar für alle Beteiligten: Die Böden verarmen und können nur mit bedeutendem Aufwand an Düngemitteln bewirtschaftet werden. Die grossflächigen Monokulturen sind anfällig für Krankheiten und Schädlinge, was zu massivem Einsatz von Pestiziden führt. Die Umwelt leidet drastisch unter der industriellen Landwirtschaft. Kommt hinzu, dass die Umstellung hin zu diesem landwirtschaftlichen Modell kapitalintensiv ist und zur Abhängigkeit der Bauern von Banken und grossen Agrarkonzernen führt. Ferner hat die Produktivitätssteigerung eine entsprechende Mengenausweitung der Agrarprodukte zur Folge – und damit ihr Preiszerfall.

Die industrielle Landwirtschaft als Fehlentwicklung

Die grossflächige, industrielle Landwirtschaft, lange von Staates wegen gehätschelt und gefördert, stösst an ihre Grenzen und gerät in Konflikt mit den gesellschaftlichen Bestrebungen wie dem Umweltschutz und der Eindämmung der Klimakrise. Die Wirtschaftsweise der Bauern, die heute mit ihren schweren Traktoren die Autobahnen blockieren, wird zum Auslaufmodell. Die industrielle Landwirtschaft ist zeitfremd geworden. Was in den letzten Jahrzehnten mit riesigem finanziellen und technischem Aufwand aufgebaut worden ist, erweist sich nun als Fehlentwicklung.

Kein Wunder, sind die Frustrationen der Bauern gross. Ihr Lebenswerk und ihre wirtschaftliche Existenz stehen auf dem Spiel. Sie fordern ihr «Recht» ein, diesen Pfad, der nun mal eingeschlagen wurde, weiterzuverfolgen. Bei den niederländischen Bauern äussert sich dies zum Beispiel in der Weigerung, ihren Viehbestand zu verringern, obschon die Stickstoffkrise so weit fortgeschritten ist, dass immer mehr Gebiete in den Niederlanden regelrecht sticksoffverseucht sind.

Antidemokratische Proteste

Die protestierenden Bauern – weit über die Niederlanden hinaus – stellen sich als Opfer dar, die der Willkür des Staates ausgeliefert sind und fordern letztlich, ihre Art des Wirtschaftens fortführen zu dürfen, obschon sie den gesellschaftlichen Interessen widerspricht. Die Proteste tragen somit in sich einen antidemokratischen Kern. Und die Behörden knicken vor der schieren Gewalt der Proteste ein und buchstabieren in Sachen Umweltschutz zurück, statt die Landwirtschaft neu zu denken, damit sie zukunftstauglich wird. Die Erkenntnisse sind vorhanden, Lösungswege längst auf dem Tisch.

Ein Umbau der Landwirtschaft hin zu kleinräumigeren Strukturen ist notwendig. Denn hier liegt das landwirtschaftliche Modell, das zukunftsfähig ist und mit den gesellschaftlichen Bestrebungen hin zum Schutz der Umwelt und des Klimas im Einklang ist. Schon der Weltagrarbericht des Jahres 2008, ausgearbeitet vom Weltagrarrat, der von der Weltbank und den Vereinten Nationen ins Leben gerufen wurde, fordert eine weltweite Förderung der Kleinbauern, um die Hungerkrise zu überwinden und gleichzeitig eine ökologisch Landwirtschaft zu ermöglichen. Die Zukunft gehört den Kleinbauern, nicht den Agrarmultis.


Quellen:

Bildnachweis: German farmers, von conceptphoto.info, CC-Lizenz via flickr.com

Die Zukunft gehört den Kleinbauern, nicht den Agrarmultis

Ernährungskrise, immer mehr Hungernde, Getreide als Kriegswaffe: Wer hätte gedacht, dass uns im 21. Jahrhundert solche Tatsachen um die Ohren fliegen? Doch die Probleme sind nicht neu. Und sie sind hausgemacht. Eine wichtige Ursache ist die weltweite Verdrängung der Kleinbauern durch die industrielle Landwirtschaft. – Eine Bestandesaufnahme.

Unser Ernährungssystem ist krank: Weltweit hungern 828 Millionen Menschen, Tendenz steigend. Zugleich leiden 1,9 Milliarden Menschen über 18 Jahre an Übergewicht. 650 Millionen davon sind krankhaft fettleibig. Bis zu einer halben Million Kinder erblinden jährlich wegen Vitamin-A-Mangel.

Unser Ernährungssystem macht krank. Beispiel Pestizide in der Landwirtschaft: Neben den verheerenden Langzeitfolgen für die Umwelt sterben jährlich 200’000 Menschen an akuter Pestizidvergiftung. Beispiel zunehmender Einsatz von Kunstdünger: Er schadet der Umwelt und sorgt langfristig nicht wesentlich für Mehrerträge. Im Gegenteil: Die Böden laugen aus und verwandeln sich in Agrarwüsten, wo sich ohne massiven Mitteleinsatz kein Anbau mehr lohnt. Zudem ist die heutige Landwirtschaft eine der wichtigsten Ursache für die Klimaerhitzung.

Eine Agrarwüste entsteht – trotz aller Schönheit der Abendstimmung.

Unser Ernährungssystem wird von Grosskonzernen beherrscht, die mehr und mehr die ganze Produktionskette kontrollieren, vom Saatgut über den Anbau bis zur Verarbeitung der Nahrungsmittel. Gleichzeitig ist das Kleinbauerntum, das historisch gesehen bis vor kurzem für die Welternährung zuständig war und noch heute den grösseren Teil dazu beiträgt, ein sterbender Berufsstand, erdrückt und vertrieben durch eben diese Konzerne und die Kräfte des freien Markts, der die Nahrungsmittelpreise dank Technologieschüben und Produktivitätssteigerung, also durch eine massive Industrialisierung ins Bodenlose fallen liess, so dass die Bauern nicht mehr mithalten können, es sei denn, sie industrialisieren ihren Betrieb auf ein hohes Niveau und begeben sich so in Abhängigkeit von den grossen Playern. Dazu müssen Agrarflächen zusammengelegt und Monokulturen angebaut werden. Dies führt zu einem weiteren Preiszerfall bei den Landwirtschaftsprodukten. Ein Teufelskreis, bei dem es keine Gewinner gibt, ausser die Aktionäre der Agrarmultis.

Die «Grüne Revolution» frisst ihre Kinder

Alles begann mit der «Grünen Revolution» in den 1960er Jahren. Ertragssteigerungen durch neue Anbaumethoden und Züchtungen, durch Dünger, Pestizide und grosse Maschinen sollten den Hunger besonders im globalen Süden verringern. Mit Erfolg. So wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, in Indien im Jahr 2003 sechsmal mehr Weizen produziert als noch 1961. Seit den 1970er Jahren ist Indien in der Lage, seine Bevölkerung mit den Grundnahrungsmitteln selbst zu versorgen.

Doch die Revolution hat ihre Kehrseite: Die Ertragssteigerung führte zu einem Preiszerfall bei den landwirtschaftlichen Produkten, so dass die Bauern immer mehr produzieren mussten, um die sinkenden Einnahmen auszugleichen. Eine Katastrophe für sie. Viele gingen bankrott. Das war die Geburtsstunde der industriellen Landwirtschaft, zum Beispiel in den USA. Grosskonzerne sprangen in die Lücke und kauften Farm um Farm auf. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen – die Liberalisierung – förderten zusätzlich das schrankenlose Wachstum dieser Konzerne. Die Folge war eine strukturelle Überproduktion, zum Beispiel von Weizen. Diese ging in den Export und flutete den Weltmarkt. Viele Länder des globalen Nordens schützten ihre landeseigene Getreideproduktion durch Importzölle. Der Süden konnte das nicht – weil er handelspolitisch in einer deutlich schwächeren Position war.

Das führte weltweit zu einem Bauernsterben – im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Ganze Landstriche wurden entvölkert, etwa in Frankreich, weil sich die bäuerlichen Strukturen auflösten und die Menschen in die Städte zogen, um Arbeit zu finden. In Indien trieben und treiben die landwirtschaftlichen Zwänge hunderttausende Kleinbauern in den Suizid, hauptsächlich wegen Überschuldung. Sie wurden durch die «Grüne Revolution» von der aufstrebenden Agrarindustrie abhängig oder schlicht von ihrem Land vertrieben. Auch in der Schweiz halbierte sich laut der landwirtschaftlichen Strukturerhebung des Bundesamtes für Statistik seit 1996 die Anzahl Landwirtschaftsbetriebe von rund 80’000 auf etwas über 40’000.

Kleinbauern als Rückgrat der Welternährung

Kleinräumige Landwirtschaft in Hoi An, Vietnam.

Wie wir inzwischen überdeutlich erfahren, stecken unser Ernährungssystem und damit die Landwirtschaft in einer Sackgasse. Wir sind im Begriff, unsere natürlichen Lebensgrundlagen an den Meistbietenden zu verhökern. Saatgut, Boden und Nahrungsmittel werden der gesellschaftlichen Verfügungsmacht entrissen und landen in den Händen von Konzernen. Wir geraten vollends in deren Abhängigkeit. Ganze Länder, ja Kontinente werden so erpressbar. [Read more…]

Steht der Schweiz eine agrarpolitische Wende bevor?

Wohl kaum! – Doch am 23. September 2018 wird gleich über zwei Initiativen abgestimmt, die eine kleinräumige Landwirtschaft – im Gegensatz zur industriellen Landwirtschaft – befördern möchten. Das macht viel Sinn, auch wenn die Forderungen der Initiativen dem Zeitgeist zuwiderlaufen. – Eine Tour d’Horizon.

Kommen in der Schweiz vermehrt Initiativen mit utopischem Charakter zur Abstimmung? Oder liegt es am rückwärtsgewandten Zeitgeist, der jede gute Idee gleich als Utopie erscheinen lässt? Verbot von Kriegsmaterialexport, öffentliche Krankenkasse, Grundeinkommen, Vollgeld – die Reihe der guten Ideen will nicht abreissen, die in der Stimmbevölkerung immerhin so viel Unterstützung bekommen, dass sie mit der nötigen Unterschriftenzahl (100’000) eingereicht werden können. An der Urne scheitern sie zumeist kläglich (unter 25% Zustimmung) oder feiern einen Achtungserfolg (über 30% Zustimmung). Doch sie scheitern allesamt. Das ist traurig. Doch zumindest wird über die fortschrittliche Idee – die vermeintliche Utopie – diskutiert und abgestimmt. Offenbar brauchen gute Ideen ihre Zeit – historisch betrachtet … Irgendwann schaffen sie den Durchbruch. Siehe zum Beispiel das Frauenstimmrecht in der Schweiz!

Grosse unmittelbare Chancen gebe ich auch den beiden agrarpolitischen Initiativen nicht, die am 23. September zur Abstimmung kommen. Die Ideen dahinter haben allerdings etwas Zukunftsweisendes, das den Abstimmungstermin überleben wird.

Fair-Food-Initiative

Mit der Fair-Food-Initiative sollen umweltschonende, tierfreundliche und fair gehandelte Lebens- und Futtermittel gefördert werden, indem auf Bundesebene für die Produktion und Verarbeitung in der Schweiz entsprechende Vorgaben gemacht werden. Diese Vorgaben sollen grundsätzlich auch für importierte Lebensmittel gelten. So dürften etwa Eier oder Fleisch aus industrieller Massentierhaltung nicht mehr eingeführt werden. Längerfristig sollen diese Vorschriften auch für verarbeitete Produkte gelten, etwa für Teigwaren oder Tiefkühlpizzas.

Der Bund wird zudem beauftragt,

  • Vorschriften zur Deklaration der Produktions- und Verarbeitungsweisen von Lebens- und Futtermitteln zu erlassen;
  • die Vermarktung und Verarbeitung von regional und saisonal produzierten Lebensmitteln zu fördern;
  • Massnahmen zur Eindämmung der Lebensmittelverschwendung zu ergreifen.

Ferner kann er mit der Lebensmittelbranche und den Importeuren verbindliche Zielvereinbarungen im Sinne der Initiative abschliessen.

Initiative für Ernährungssouveränität

Auch die Volksinitiative für Ernährungssouveränität zielt auf eine grundlegende Änderung der Landwirtschaftspolitik, allerdings nicht mit Hauptaugenmerk auf die KonsumentInnen, sondern auf die ProduzentInnen. Sie kommt denn auch aus der (klein-)bäuerlichen Ecke und wird unterstützt von der Bauerngewerkschaft Uniterre und vielen links-grünen Gruppierungen und Parteien, nicht aber vom mächtigen Bauernverband.

Kurz zum Begriff «Ernährungssouveränität»: Im Gegensatz zum Modell des internationalen Freihandels mit Lebens- und Futtermitteln möchte das Konzept der Ernährungssouveränität prioritär die regionale Versorgung mit Lebensmitteln fördern und möglichst sicherstellen. Sie steht für das Recht der einzelnen Menschen, der Gemeinschaften, Völker und Staaten, auf demokratische Weise ihre eigene Landwirtschafts- und Ernährungspolitik festzulegen, ohne anderen Regionen damit zu schaden. Der lokale und regionale Handel mit Landwirtschaftsprodukten soll Vorrang haben vor dem Export und dem internationalen Handel. (Zur Polarität zwischen Ernährungssouveränität und Freihandel siehe: Ernährungssouveränität vs. Agrarfreihandel.)

Die Initiative möchte eine vielfältige einheimische bäuerliche Landwirtschaft fördern, die umweltverträglich ist und ohne Gentechnik auskommt. Dies soll geschehen, indem die Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen erhöht wird und deren Arbeitsbedingungen verbessert werden. Ferner sollen die Kulturflächen erhalten bleiben, der Lebensmittelmarkt mit dem Ziel gerechterer Preise transparenter gestaltet werden, und die einheimischen Produkte geschützt werden, zum Beispiel indem Zölle auf eingeführte Landwirtschaftsprodukte erhoben werden, die nicht den schweizerischen Normen entsprechen. Deren Einfuhr soll auch gänzlich verboten werden können. Subventionen für ausgeführte Landwirtschaftsprodukte und Lebensmittel werden gestrichen.

Gegen die Logik des heutigen Wirtschaftens

Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass diese Forderungen der aktuellen Landwirtschaftspolitik, ja, dem Wirtschaftsmodell als Ganzem völlig entgegenstehen. Und doch entsprechen sie Erkenntnissen, wie sie etwa der Weltagrarbericht im Auftrag der Uno und der Weltbank schon vor Jahren festgehalten hat: Es ist die kleinräumige, bäuerliche und regionale Landwirtschaft, welche die Versorgung der Bevölkerung weltweit und auf Dauer garantieren wird, nicht die sogenannte «grüne Revolution», die eine grossräumige, industrielle Landwirtschaft – eine Landwirtschaft der Konzerne – propagiert, um das Welthungerproblem zu lösen.

Diesen Erkenntnissen will die Initiative für Ernährungssouveränität zum Durchbruch verhelfen. Sie ist die utopischere der beiden Landwirtschaftsinitiativen. Entsprechend schwerer wird sie es an der Urne haben. Beide Initiativen wollen Fehlentwicklungen korrigieren und streben eine Wende in der Agrarpolitik an. Angesichts ihrer einleuchtenden Logik schreckt es mich kaum, dass ihre Anliegen utopisch wirken. Im Gegenteil!

Ernährungssouveränität vs. Agrarfreihandel

Die industrielle Landwirtschaft, die mit dem Agrarfreihandel einhergeht, führt eindeutig in eine Sackgasse. Sie missachtet die Würde von Pflanzen und Tieren, ja, der Erde als ganzes. Sie beutet aus, statt zu pflegen. Sie missbraucht und zerstört. Und im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung der Landwirtschaft wird ein paar wenigen Firmen und Grossgrundbesitzern zugeschlagen, was der ganzen Menschheit gehört: die Natur. Das politische Konzept der Ernährungssouveränität will da Gegensteuer geben.

Befürworter der hochtechnisierten Landwirtschaft, der sogenannten grünen Revolution in den Ländern des Südens, argumentieren, ohne die damit verbundene Leistungssteigerung könne die Menschheit gar nicht mehr ernährt werden. Doch diese Aussage streut uns gleich in zweifacher Weise Sand in die Augen: Sie suggeriert zunächst, die Förderer der industriellen Landwirtschaft handelten aus selbstlosen, womöglich gar humanitären Motiven. Ferner lässt sie uns im Glauben, das Welthungerproblem sei darauf zurückzuführen, dass es – global gesehen – zu wenig Nahrungsmittel gebe.

Industrielle Landwirtschaft …

Agrarindustrie verdrängt Kleinbauern
Beides ist nachweislich falsch. Ja, die industrialisierte Landwirtschaft und die damit verbundene Liberalisierung des Agrarhandels sind im Gegenteil eine der Ursachen für chronische Ernährungskrisen in manchen Weltgegenden.[1] Die Agrarindustrie verdrängt radikal die kleinräumige Landwirtschaft – entweder physisch oder über ihre konkurrenzlosen, teils über Subventionen zusätzlich verbilligten Preise – und stösst weltweit Millionen von Kleinbauern in den Ruin. Auch ökologisch ist sie mit ihren Monokulturen eine reine Katastrophe. Und sie schafft unnötige Abhängigkeiten von globalisierten Nahrungsmittel- und Saatgutmärkten – und liefert so insbesondere die ärmere Bevölkerung den damit verbundenen Spekulationen aus.[2]

Ernährungssouveränität als emanzipatorisches Projekt
Das Konzept der Ernährungssouveränität möchte die Entscheidungsgewalt über die Landwirtschaftspolitik dem Welthandel und seinen Organisationen wieder entreissen und den einzelnen Ländern und Regionen, ja, letztlich dem Individuum zurückgeben. Ernährungssouveränität ist das Recht der einzelnen Menschen, der Gemeinschaften, Völker und Staaten, auf demokratische Weise ihre eigene Landwirtschafts- und Ernährungspolitik festzulegen. Sie beinhaltet sowohl das Recht auf Nahrung wie das Recht, Nahrungsmittel zu produzieren. Das Konzept gilt grundsätzlich für arme und reiche Länder und ist nicht als Patentrezept und politischer Werkzeugkasten gedacht. Trotzdem enthält es Prinzipien und Strategien, die in aller Kürze so charakterisiert werden können[3]:

  • Fokus auf lokale Märkte und gerechte Handelsbeziehungen
  • gesicherter Zugang zu den natürlichen und genetischen Ressourcen, zu Krediten und Bildung für alle LebensmittelproduzentInnen
  • Umstellung auf ökologische, vielfältige, bäuerliche Produktion, was sich auch in der Agrarforschung niederschlagen muss.
  • Das Menschenrecht auf Nahrung hat Priorität vor anderen bi- oder multilateralen Abkommen.

Als erste hat die internationale Kleinbauern- und Landlosenorganisation Via Campesina, ein Zusammenschluss von mehr als hundert Kleinbauern-, Landarbeiter-, Landlosen- und Indigenenorganisationen aus Europa, Amerika, Afrika und Asien, das Konzept geprägt. Das ist nun 15 Jahre her, und inzwischen ist die Idee flügge geworden und beeinflusst Entscheidungen zum Beispiel auch in UNO-Gremien. Und dabei steht die Ernährungssouveränität deutlich dem Begriff der Ernährungssicherheit entgegen, erweitert diesen um eine entscheidende Dimension: um die Dimension der Emanzipation, der Selbstermächtigung der Menschen, die wieder die Kontrolle über die Produktion und Vermarktung der Nahrungsmittel zurückgewinnen.

… vs. kleinräumige Landwirtschaft

Was Ernährungssouveränität nicht ist
Ernährungssouveränität ist allerdings nicht mit Selbstversorgung gleichzusetzen. Vielmehr geht es darum, selbstbestimmt zu entscheiden, wie viel Handel und wie viel Selbstversorgung für die jeweilige Region sinnvoll sind. Ernährungssouveränität ist auch kein nationalistisches Konzept, um Märkte und Gesellschaften abzuschotten. Sie basiert auf internationaler Solidarität unter den BäuerInnen und auf den Erkenntnissen und Erfahrungen, die mit dem internationalen und liberalisierten Handel gewonnen wurden. Die lokalen Beziehungen, besonders zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen, sollen gestärkt werden, damit diese den globalen Herausforderungen begegnen können. Der überregionale, ja internationale Handel mit Lebensmitteln kann als zusätzliche Möglichkeit durchaus ins Auge gefasst werden. Manche Regionen, wenn man zum Beispiel an Wüsten denkt, sind gar auf diesen überregionalen Handel angewiesen. Doch auch dieser Handel muss gerechten Bedingungen unterliegen und den BäuerInnen ein faires Einkommen sichern.

Eine regionale, kleinräumige Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln ist unter vielen Gesichtspunkten deutlich sinnvoller als eine von aussen aufgenötigte Versorgung durch die Agrarweltkonzerne. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass nicht nur der Weltagrarbericht 2008, sondern ebenso der UNO-Klimabericht 2007 ohne Wenn und Aber für die kleinräumige Landwirtschaft eine Lanze brechen. Diese gibt nicht nur wirtschaftlich mehr Sinn, sondern ist auch ökologisch verantwortungsvoller.


[1] Siehe dazu: http://www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichtes/baeuerliche-und-industrielle-landwirtschaft.html.
[2] Siehe zum Beispiel „FAO will Spekulation mit Lebensmitteln bekämpfen“ auf tagesschau.de ((Link nicht mehr verfügbar))
[3] Gemäss dem Positionspapier von Swissaid zum Konzept der Ernährungssouveränität (PDF, 52 KB).

Bilder (CC-Lizenz) via Flickr: oben links tpmartins; unten rechts pfatter