«Lasst uns das Beste daraus machen …»

Die Welt, wie ich sie gekannt habe, bröckelt mir weg. Ich fühle mich zunehmend fremd in ihr, erkenne sie nicht wieder in ihren Entwicklungen, Krisen und Katastrophen. Einerseits politisch: Selbst in meinem Bekanntenkreis findet rechtskonservatives bis rechtsextremes Gedankengut in moderner Form und teilweise verschleiert fruchtbaren Boden. Es ist beklemmend, wie Denken vom rechten Rand zunächst salonfähig und nun gesellschaftsfähig wird. Woran ich das festmache? Einmal an der Selbstverständlichkeit, wie Herkunft und Rasse der Menschen kategorisiert wird und die, die «nicht zu uns gehören», ausgeschlossen, entmenschlicht oder in den Tod getrieben werden. Ferner ist das populistische Element charakteristisch für den Politbetrieb der Gegenwart. Die Wahrheit wird zur Nebensache. Behauptungen entgegen jede Wahrheit werden in die Welt gesetzt. Wider jede Vernunft wird an Lügen und Halbwahrheiten festgehalten. Sie werden in den Populus «einmassiert», bis dieser die Lüge für wahr hält und die Wahrheit für eine Lüge. Die Politik ist nicht mehr ein Wettbewerb der besseren Argumente– wenn sie das überhaupt je war –, sondern eine Schlacht der Emotionen. Charakteristisch für den heutigen Populismus von rechts ist zudem die Lüge, alles für die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft zu tun, gleichzeitig aber den krudesten Sozialdarwinismus anzustreben. (Daseinsberechtigt sind die Durchsetzungsfähigsten.)

Solange ich Gestaltungsmacht habe

Nein, das ist nicht mehr meine Welt. Und doch: Ich kann mich ihr nicht entziehen. Ich habe die Gegenwart mitgeformt, trage also Verantwortung dafür, was wir angerichtet haben. Und ich will die Gegenwart weiterhin mitgestalten, solange ich Gestaltungsmacht habe. Im Kleinen, versteht sich. Ich kann mich nicht einfach aus dem Staub machen. Die Herausforderungen an die Menschheit türmen sich auf wie eine Monsterwelle. Viele sind nur gemeinsam zu meistern: Klimaerhitzung, Zähmung des Kapitalismus, menschengerechte Weltordnung. Doch wir steuern in eine andere Richtung. Die Staaten igeln sich ein. Man rüstet auf und führt Kriege oder bereitet sich darauf vor. Man könnte den Glauben an die Menschheit – an den Menschen? – verlieren. Was für düstere Aussichten! Und ich mittendrin, auch einer dieser Menschen, an die man den Glauben verlieren könnte.

Es ist nicht einfach zurzeit. Da ist zudem mein alternder Körper, der jederzeit eine Katastrophe gesundheitlicher Art produzieren kann. Der Tod kommt in Reichweite, ohne dass ich Grund hätte anzunehmen, dass er unmittelbar bevorsteht. Auch in diesem Sinne bröckelt mir die Welt weg. Zuweilen tröstet mich, dass ich das ganze Menschheitstheater – pardon! – nicht mehr allzu lange mitmachen muss. Wobei: Solange ich Gestaltungsmacht habe …

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Aus «Warten auf Godot» von Samuel Beckett:

VLADIMIR: Lasst uns etwas tun, solange wir die Chance haben … an diesem Ort, in diesem Moment der Zeit, ist die ganze Menschheit wir, ob wir wollen oder nicht. Lasst uns das Beste daraus machen, bevor es zu spät ist! Lasst uns ein einziges Mal die üble Brut, zu der uns ein grausames Schicksal gemacht hat, würdig vertreten! Was sagt ihr dazu?

Pandemie der Entfremdung

Die Pandemie hat wenig neu erfunden, aber manche Entwicklungen beschleunigt und verstärkt, die sich schon länger abzeichneten. Sie hat die gesellschaftliche und politische Polarisierung vorangetrieben, der Digitalisierung einen raketenartigen Schub verliehen und die wirtschaftliche Ungleichheit weiter auf die Spitze getrieben. Vieles andere liesse sich hier noch anführen. Und sie hat uns ein Stück weit gegenseitig entfremdet – bis hinein in den Familien- und Freundeskreis. – Eine verstörende Beobachtung.

Wie ist es dazu gekommen, dass mir in den letzten zwei Jahren einige Menschen, die mir bisher nahe waren, fremd geworden sind, und zwar so fremd, als lebten wir unverhofft in zwei ganz unterschiedlichen Welten. Weltanschaulich und von der politischen Gesinnung her sind wir uns fremd geworden. Diese Menschen blicken anders auf die Pandemie als ich. Sie sind äusserst kritisch gegenüber den Coronamassnahmen, die sie als unzulässigen Eingriff in ihre Freiheitsrechte betrachten. Manche verneinen gar, dass es eine Pandemie überhaupt gibt. Sie misstrauen zutiefst der mRNA-Impfung gegen das Sars-Cov-2-Virus und sprechen den PCR-Tests, die das Virus nachweisen sollen, jegliche Berechtigung ab. Für einige von ihnen ist die Pandemie ein umfassender Plan, um die Menschheit in die Knechtschaft zu zwingen.

Für mich ist die Pandemie – eine Pandemie, eine Seuche, die die ganze Menschheit betrifft, eine Plage biblischen Ausmasses, hätte man früher gesagt. Heute heisst sie etwas profaner: eine Pandemie. Sie ist für mich eine Seuche, die es zu bewältigen gilt. Die Massnahmen zur Eindämmung der Ansteckungen erachte ich zumindest bei uns in der Schweiz nicht als willkürlich. Sie basieren auf Erkenntnissen, die zwar im Lauf des Geschehens immer wieder aktualisiert werden müssen, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Wenn man auch über einzelne Übertreibungen und Fehlentscheide diskutieren kann und muss – im Nachhinein ist man klüger –, so fühlte ich mich doch privilegiert, diese seltsamen zwei Jahre in der Schweiz erlebt zu haben und nicht etwa in Indien oder China – und auch nicht in Frankreich oder Deutschland.

Viel Zündstoff

Ich reibe mich weniger an den Ereignissen rund um die Pandemie als manche Freunde und Bekannte, die auf Widerstand setzen, zumindest auf Protest, und alles in Frage stellen, was gegen die Pandemie unternommen wird. Manche Entwicklungen bereiten auch mir Bauchschmerzen, etwa die – inzwischen zurückgenommene – Pflicht, ein Zertifikat vorzuweisen, wenn man Räume betreten will, die vormals allgemein zugänglich waren. Ist das nicht ein Dammbruch? Und können solche Massnahmen nicht bei nächster Gelegenheit wieder eingeführt werden – bis sie aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken sind?

Auch die Impfung wirft Fragen auf. Hätte ich die Wahl gehabt zwischen einem herkömmlichen Impfstoff und der mRNA-Impfung, so hätte ich ersteren gewählt. Denn auf die Schnelle weltweit eine ganz neue Impftechnologie anzuwenden, birgt Zündstoff und ruft notgedrungen Widerstand hervor, trotz aller Studien und – erst noch beschleunigter –Zulassungsverfahren, die dem Laien viel Vertrauen abverlangen, Vertrauen in die Behörden und in die Industrie, das schon länger angeschlagen ist …

Trotzdem liess ich mich impfen, aus Solidarität, vielleicht auch aus einem gewissen Fatalismus und weil mich medizinische Massnahmen nicht so sehr schrecken. Das ist einem Leben mit Behinderung geschuldet, in dem medizinische Massnahmen, insbesondere im Kindesalter, Normalität waren. Hinzu kommt, dass seitens der Impfgegner bald steile Thesen und falsche Behauptungen in die Welt gesetzt wurden, so dass sie in meinen Augen ihre Glaubwürdigkeit einbüssten. Trotzdem: Eine allgemeine Impfpflicht würde ich für falsch halten. Das empfände ich als Dammbruch in Sachen Machtausübung über den menschlichen Körper.

Drift nach rechts

Wie kam es dazu, dass in den letzten zwei Jahren mir einige Menschen, die mir bisher nahe waren, fremd geworden sind? Wir fanden uns plötzlich in unterschiedlichen Welten wieder. In manchen Fragen stand Aussage gegen Aussage, ihre Wahrheit gegen meine. Das ist das eine. Seltsam genug! Doch vielleicht könnte man damit leben lernen.

Echt schwierig wurde es für mich, als ich entdeckte, dass sich manche dieser Menschen politisch klar nach rechts bewegten, zum Beispiel mit der SVP zu sympathisieren begannen – weil diese Partei die einzige war, welche sich grundsätzlich gegen die Massnahmen stellte – oder aus demselben Grund Donald Trump neu etwas abgewinnen konnten, auch seinen kruderen Ansichten.

Unverhofft fand sich die politische Linke – und damit auch ich mich – in einer konformistischen Rolle, staatstreu und wenig massnahmenkritisch. Und eine populistische Rechte profitierte von der grassierenden Verunsicherung. Im richtigen Moment setzte sie ihr Segel in den strammen Wind. Doch für mich bleibt die rechte Gesinnung nihilistisch und menschenverachtend, auch wenn sie sich noch so sehr anbiedert. In diese Richtung Konzessionen zu machen, bin ich nicht bereit. Vielleicht ist es das, was mich von einigen Menschen, die mir nahe waren, entfremdet hat.