Wort des Monats: Superwahljahr

Dieses Wort des Monats hat das Zeug, zum Wort des Jahres zu werden: Superwahljahr. Es weist auf ein Jahr hin, in dem weltweit besonders viele und besonders wichtige Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen anstehen. Ein Superjahr für die Demokratie, könnte man meinen. Doch das ist noch nicht ausgemacht. Das Gegenteil könnte der Fall sein. – Eine Tour d’Horizon.

Wikipedia listet für das Jahr 2024 77 Wahltermine in 53 Ländern auf und merkt gleich an: «Die Aufnahme in diese Liste bedeutet nicht, dass jede aufgeführte Wahl voraussichtlich nach international anerkannten demokratischen Standards durchgeführt werden wird.» An die zwei Milliarden Menschen sind dieses Jahr zur Wahl aufgerufen, rund die Hälfte der Weltbevölkerung im wahlfähigen Alter. Welche Wahlen die wichtigsten sind, ist natürlich eine Frage der  Perspektive. Für jedes Land sind die eigenen Wahlen die entscheidenden. Trotzdem sei mir gestattet, die aus meiner Sicht bedeutendsten Wahlen in chronologischer Reihenfolge kurz zu erläutern:

Taiwan

Die Wahlen wurden am 13. Januar klar zugunsten des bisherigen Präsidenten Lai Ching-te der Demokratischen Volkspartei (DPP) entschieden. Das Resultat gilt als deutliche Absage an eine Annäherung an Festlandchina, das Taiwan als Teil der Volksrepublik versteht und damit droht, sich die Insel mit militärischer Gewalt wieder einzuverleiben. Auch bei den gleichzeitig stattfindenden Wahlen des Legislativ-Yuans, dem wichtigsten Teil des Parlaments, legte die DPP zu, liegt allerdings nur knapp vor den Kuomintang, die eine Annäherung an China befürworten. Die Wahlen in Taiwan können als frei und fair bezeichnet werden. Gemäss dem Demokratie-Report 2023 des V-Dem Institute (PDF) liegt Taiwan im oberen Fünftel des Demokratie-Rankings. Das Forschungsinstitut der Universität Göteborg rapportiert alljährlich den Entwicklungsstand sowie den Trend des Demokratisierungsprozesses der Länder weltweit.

Russland

Vom 15. Bis 17. März finden in Russland Präsidentschaftswahlen statt. Es ist davon auszugehen, dass der bisherige Präsident Putin die Wahlen gewinnen wird. Russland liegt im untersten Fünftel des Demokratie-Rankings des V-Dem Institute und gehört zu den Ländern, die in den letzten zehn Jahren eine deutliche Entwicklung Richtung Autokratie erlebt haben.

 

 

 

 

 

Indien

Vom Aufwand her könnten die Wahlen des Unterhauses in Indien als die Superwahlen im Superwahljahr bezeichnet werden: Eine Milliarde Inderinnen und Inder sind wahlberechtigt. Da das Wahlgesetz vorschreibt, dass im Umkreis von zwei Kilometern um jeden Wohnsitz ein Wahllokal erreichbar sein muss, werden elf Millionen Wahlhelfer unterwegs sein, um die Stimmabgabe aller zu ermöglichen.

Derzeit besitzt die BJP von Indiens Präsident Narendra Modi mit 303 von 543 Sitzen die absolute Mehrheit im indischen Unterhaus, dem Lok Sabha. Weit abgeschlagen mit 52 Abgeordneten liegt die Kongresspartei, die einzige nennbare Opposition. Wer im Lok Sabha gewinnt, ernennt einen der Abgeordneten zum Premierminister. Es besteht kein Zweifel, dass Modi für vier weitere Jahre indischer Premierminister sein wird, zu sehr prägte er das Land in den letzten Jahren. Er bescherte ihm wirtschaftlich eine Modernisierung, die vielenorts im Land spürbar ist. Gleichzeitig zelebriert er einen Hindunationalismus, der rückwärtsgewandt ist und manche Regionen Indiens zum Pulverfass werden lässt, da dort die Moslems, im Landesdurchschnitt immerhin 14 Prozent der Bevölkerung, zunehmend in Bedrängnis geraten. Indien liegt in der unteren Hälfte des Demokratie-Rankings, gleichauf etwa mit Benin oder den Philippinen und mit einer klaren Tendenz hin zur Autokratie.

Europäische Union

Im Juni dieses Jahres finden in allen Mitgliedsstatten der EU Direktwahlen fürs Europäische Parlament statt. Es sind die zehnten seit Bestehen der Europäischen Union. Laut Prognosen wird vor allem die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) deutlich zulegen, eine national-konservative, EU-kritische, teils rechtspopulistische Fraktion. Haare lassen werden die Grünen müssen. Die EKR würde so zur drittstärksten Kraft im Europäischen Parlament aufsteigen, hinter der Fraktion der Europäischen Volkspartei und den Sozialdemokraten. Es spiegelt sich darin dieselbe Tendenz wie in vielen Mitgliedsländern der EU (und der Schweiz).

Deutschland

Ebenfalls im Juni finden in acht Bundesländern Kommunalwahlen sowie im September in Sachsen, Thüringen und Brandenburg Landtagswahlen statt. Im Rahmen der Kommunalwahlen werden Tausende von Gemeinderäten gewählt. Allein in Baden-Württemberg sind es 19’000. Die Parteizugehörigkeit spielt auf kommunaler Ebene eine untergeordnete Rolle.

Bei den Landtagswahlen im Osten Deutschlands wird gemäss Umfragen die AfD die deutlichsten Zugewinne erzielen und möglicherweise in einzelnen wenn nicht allen drei Bundesländern zur stärksten Kraft im Landtag werden. Dies auf Kosten aller anderer Parteien, am deutlichsten aber der Linken und der SPD. Proportional am meisten zulegen könnte indes das Bündnis Sahra Wagenknecht, das aus dem Stand heraus zur dritt- oder viertstärksten Kraft im Landtag werden könnte.

Nun ist das so eine Sache mit Wahlprognosen. Sie sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Doch es wäre eine grosse Überraschung, wenn der Trend nach rechts bis extrem rechts bei den Wahlen ins Europäische Parlament oder bei den Landtagswahlen im Osten Deutschlands gebrochen würde.

Vereinigte Staaten

Am 5. November erfolgt der Höhepunkt des Superwahljahres 2024, betrachtet man die möglichen Folgen für die Geopolitik und die Demokratien weltweit: die Präsidentschaftswahlen in den USA. Zeitgleich werden alle 435 Abgeordneten des Repräsentantenhauses sowie 34 der 100 Mitglieder des Senats neu gewählt. Wie eine überzeichnete Karikatur stehen diese Wahlen für manche andere in diesem Jahr: Ein mit allen Wassern gewaschener Populist, der mit einem Bein im Gefängnis steht, tritt einem Kandidaten entgegen, der umso blasser erscheint, je schillernder sein Herausforderer ist. Trotz unbestreitbarer Erfolge Joe Bidens etwa in Sachen Arbeitslosigkeit, Klimaschutz, Gesundheitswesen und Erneuerung der Infrastruktur scheint er bei den WählerInnen wenig zu punkten. Ihm steht ein Expräsident Trump gegenüber mit einer fanatisierten Wählerschaft, die wie ihr Führer zu allem bereit scheint.

Und der Ausgang ist ungewiss. So oder so wird er Auswirkungen auf die ganze Welt haben. Ein allfälliger Sieg Trumps könnte die populistischen Strömungen vielenorts stärken, die im Namen der Demokratie ebendiese Demokratie schleifen wollen. Die Demokratie ist bereits seit längerem auf dem Rückzug, wenn man Demokratie-Report 2023 des V-Dem Institute (PDF) glauben will. So ist der Grad der Demokratisierung im Jahr 2022 weltweit auf das Niveau von 1986 zurückgefallen, also noch vor dem Ende des Kalten Krieges. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren gibt es wieder mehr Autokratien als liberale Demokratien. 72 Prozent der Weltbevölkerung, 5,7 Milliarden Menschen, lebten 2022 in Autokratien. Tendenz steigend. Es gibt auch Länder, in denen die Demokratisierung voranschreitet. Doch es werden immer weniger. Das Superwahljahr verspricht wenig Gutes. Doch Überraschungen sind nicht ausgeschlossen.

Comments

  1. frau frogg says:

    Was Narendra Modhi im Kashmir gemacht hat, um die Vorherrschaft Indiens zu sichern, kann man in „Azadi“ nachlesen, einem Essay von Arundhati Roy. Das ist keine nette, kleine, etwas rechtsgerichtete Demokratie. Da werden knallhart Menschenrechte missachtet. Merkwürdigerweise komplett unbemerkt vom Westen.

    • frau frogg says:

      Ich zitiere aus dem Wikipedia EIntrag „Kaschmir-Konflikt“: Zudem verhängten die Behörden in der regionalen Hauptstadt Srinagar und in umliegenden Gebieten Ausgangssperren.[20] Schulen wurden geschlossen. Das Internet wurde gesperrt und das Handy- und Festnetz abgeschaltet. Mehrere Regionalpolitiker wurden unter Hausarrest gestellt[21]. Zudem hat die Lebensmittelversorgung einen katastrophalen Zustand, der einen Großteil der Bevölkerung in den Hunger zwingt. Das alltägliche Leben der Bevölkerung wurde komplett ausgeschlossen und sie wurden vom Rest der Welt abgeschottet.[22]

    • Das ist richtig. Und der derTempel in Ayodya (Bundesstaat Gujarat), den Modi vor kurzem mit viel Pomp eingeweiht hat, steht, wo früher eine Moschee stand, die im Jahr 1992 von einem fanatisierten hinduistischen Mob zerstört wurde, was in ganz Indien zu blutigen Unruhen zwischen Hindus und Moslems führte. Narendra Modi war damals Generalsekretär der BJP, der Hindunationsalistischen Parte in Gujarat … Siehe Wikipedia-Eintrag zur Moschee-Tempel-Auseinandersetzung in Ayodhya

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