Wort des Monats: Superwahljahr

Dieses Wort des Monats hat das Zeug, zum Wort des Jahres zu werden: Superwahljahr. Es weist auf ein Jahr hin, in dem weltweit besonders viele und besonders wichtige Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen anstehen. Ein Superjahr für die Demokratie, könnte man meinen. Doch das ist noch nicht ausgemacht. Das Gegenteil könnte der Fall sein. – Eine Tour d’Horizon.

Wikipedia listet für das Jahr 2024 77 Wahltermine in 53 Ländern auf und merkt gleich an: «Die Aufnahme in diese Liste bedeutet nicht, dass jede aufgeführte Wahl voraussichtlich nach international anerkannten demokratischen Standards durchgeführt werden wird.» An die zwei Milliarden Menschen sind dieses Jahr zur Wahl aufgerufen, rund die Hälfte der Weltbevölkerung im wahlfähigen Alter. Welche Wahlen die wichtigsten sind, ist natürlich eine Frage der  Perspektive. Für jedes Land sind die eigenen Wahlen die entscheidenden. Trotzdem sei mir gestattet, die aus meiner Sicht bedeutendsten Wahlen in chronologischer Reihenfolge kurz zu erläutern:

Taiwan

Die Wahlen wurden am 13. Januar klar zugunsten des bisherigen Präsidenten Lai Ching-te der Demokratischen Volkspartei (DPP) entschieden. Das Resultat gilt als deutliche Absage an eine Annäherung an Festlandchina, das Taiwan als Teil der Volksrepublik versteht und damit droht, sich die Insel mit militärischer Gewalt wieder einzuverleiben. Auch bei den gleichzeitig stattfindenden Wahlen des Legislativ-Yuans, dem wichtigsten Teil des Parlaments, legte die DPP zu, liegt allerdings nur knapp vor den Kuomintang, die eine Annäherung an China befürworten. Die Wahlen in Taiwan können als frei und fair bezeichnet werden. Gemäss dem Demokratie-Report 2023 des V-Dem Institute (PDF) liegt Taiwan im oberen Fünftel des Demokratie-Rankings. Das Forschungsinstitut der Universität Göteborg rapportiert alljährlich den Entwicklungsstand sowie den Trend des Demokratisierungsprozesses der Länder weltweit.

Russland

Vom 15. Bis 17. März finden in Russland Präsidentschaftswahlen statt. Es ist davon auszugehen, dass der bisherige Präsident Putin die Wahlen gewinnen wird. Russland liegt im untersten Fünftel des Demokratie-Rankings des V-Dem Institute und gehört zu den Ländern, die in den letzten zehn Jahren eine deutliche Entwicklung Richtung Autokratie erlebt haben.

 

 

 

 

 

Indien

Vom Aufwand her könnten die Wahlen des Unterhauses in Indien als die Superwahlen im Superwahljahr bezeichnet werden: Eine Milliarde Inderinnen und Inder sind wahlberechtigt. Da das Wahlgesetz vorschreibt, dass im Umkreis von zwei Kilometern um jeden Wohnsitz ein Wahllokal erreichbar sein muss, werden elf Millionen Wahlhelfer unterwegs sein, um die Stimmabgabe aller zu ermöglichen.

Derzeit besitzt die BJP von Indiens Präsident Narendra Modi mit 303 von 543 Sitzen die absolute Mehrheit im indischen Unterhaus, dem Lok Sabha. Weit abgeschlagen mit 52 Abgeordneten liegt die Kongresspartei, die einzige nennbare Opposition. Wer im Lok Sabha gewinnt, ernennt einen der Abgeordneten zum Premierminister. Es besteht kein Zweifel, dass Modi für vier weitere Jahre indischer Premierminister sein wird, zu sehr prägte er das Land in den letzten Jahren. Er bescherte ihm wirtschaftlich eine Modernisierung, die vielenorts im Land spürbar ist. Gleichzeitig zelebriert er einen Hindunationalismus, der rückwärtsgewandt ist und manche Regionen Indiens zum Pulverfass werden lässt, da dort die Moslems, im Landesdurchschnitt immerhin 14 Prozent der Bevölkerung, zunehmend in Bedrängnis geraten. Indien liegt in der unteren Hälfte des Demokratie-Rankings, gleichauf etwa mit Benin oder den Philippinen und mit einer klaren Tendenz hin zur Autokratie.

Europäische Union

Im Juni dieses Jahres finden in allen Mitgliedsstatten der EU Direktwahlen fürs Europäische Parlament statt. Es sind die zehnten seit Bestehen der Europäischen Union. Laut Prognosen wird vor allem die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) deutlich zulegen, eine national-konservative, EU-kritische, teils rechtspopulistische Fraktion. Haare lassen werden die Grünen müssen. Die EKR würde so zur drittstärksten Kraft im Europäischen Parlament aufsteigen, hinter der Fraktion der Europäischen Volkspartei und den Sozialdemokraten. Es spiegelt sich darin dieselbe Tendenz wie in vielen Mitgliedsländern der EU (und der Schweiz).

Deutschland

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Keine zusätzlichen Millionen für Frontex!

Das Referendum gegen den Ausbau des Schweizer Beitrags an die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) dürfte es an der Urne schwer haben. Aufrüstung liegt nun mal im Trend. Und was Frontex bei der Sicherung der europäischen Aussengrenzen alles anstellt, interessiert nur eine Minderheit. Allerdings sollte bedacht werden, dass Werte wie Menschenrechte und Völkerrecht, die Europa und mit ihm die Schweiz gegen den Aggressor in der Ukraine ins Feld führt, andernorts durch Frontex verraten werden. – Eine Streitschrift gegen die Scheinheiligkeit.

Am kommenden 15. Mai entscheiden die Schweizer Stimmberechtigten unter anderem über die Aufstockung des Schweizer Beitrags an die Grenzschutzagentur Frontex. Der jährliche Beitrag an Frontex soll von heute 24 Millionen auf 61 Millionen Franken bis im Jahr 2029 angehoben werden. Ferner sollen die von Schweizer Beamten besetzten Vollzeitstellen von 6 auf 40 aufgestockt werden. Es geht dabei um den Nachvollzug des von der Europäischen Union im Jahr 2019 verabschiedeten Frontex-Ausbaus, einen Nachvollzug, zu dem die Schweiz als Mitglied des Schengen-Raums verpflichtet ist. Das Schweizer Parlament hat diese Verordnung respektive deren Nachvollzug gutgeheissen, wogegen das Referendum ergriffen wurde.

Ein Novum in der Schweiz und darüber hinaus: Zum ersten Mal wird über Frontex und damit über das europäische Grenzregime in breiter Öffentlichkeit und direktdemokratisch verhandelt. Denn was wie eine Selbstverständlichkeit daherkommt – Überwachung der EU-Aussengrenze, nachdem die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft worden sind –, ist in der heutigen Form eine Ungeheuerlichkeit. Die Flüchtlingstragödien an den EU-Aussengrenzen sind menschengemacht. Die Frontex als ausführende Behörde des europäischen Grenzregimes trägt dafür eine grosse Verantwortung – und damit auch wir in der Schweiz.

Krieg gegen Migration

FRONTEX-Beamter bei der ersten gemeinsamen Patrouille mit der griechischen Polizei an der griechisch-türkischen Grenze in Kastania

Frontex ist hauptsächlich eine Agentur zur Abwehr von Flüchtlingen und MigrantInnen geworden. Sie ist mitverantwortlich für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen an Europas Aussengrenzen. Unter ihren wachsamen Augen ertranken in den letzten Jahren Tausende MigrantInnen und Flüchtlinge im Mittelmeer. Und es werden immer mehr. Gleichzeitig wird die Seenotrettung durch humanitäre Organisationen entlang der Flüchtlingsrouten immer mehr unterbunden und kriminalisiert. Frontex arbeitet mit den libyschen Behörden zusammen, die – etwa mit ihrer Küstenwache – an der zentralen Mittelmeerroute als Türsteher gegen Flüchtlinge fungieren und im Zusammenhang mit dieser Rolle schwere Menschenrechtsverletzungen verüben.

Frontex steht für die Militarisierung der EU-Aussengrenzen – und einen regelrechten Krieg gegen Migration. Mit zusätzlichen Mitteln, auch aus der Schweiz, wird dieser Krieg noch befeuert. Sogenannte Realisten und Pragmatiker werden entgegnen, mit einer solchen Fundamentalopposition gegen Frontex würde an den EU-Aussengrenzen für die Flüchtlinge gar nichts besser. Im Gegenteil: Eine auch finanziell gut ausgestattete Grenz- und Küstenwache sei gerade in menschenrechtlichen Belangen besser aufgestellt. Zudem stehe eine solche Agentur unter behördlicher Aufsicht und sei der «Geschäftsprüfung des Europaparlaments» unterstellt, so zum Beispiel Rudolf Strahm in einer Kolumne im Tagesanzeiger.

Und warum ist es dann möglich, dass unter dieser angeblichen Kontrolle Hunderte, wenn nicht Tausende Pushbacks stattfanden, also Flüchtlinge an der Wahrnehmung ihres Grundrechtes auf Prüfung ihrer Fluchtgründe gehindert werden, wie inzwischen ans Licht kommt und für welche Frontex zumindest mitverantwortlich ist?

Frontex als Handlanger einer verfehlten Flüchtlingspolitik

Warzaw Spire, der Sitz der Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) in Warschau, Polen

Frontex darf nicht mit zusätzlichem Geld alimentiert werden, solange die menschenverachtenden Praktiken nicht aufgearbeitet und beendet sind. Vielmehr muss der Grenzschutzagentur das Geld entzogen werden, um Schlimmeres zu verhindern. Doch das eigentliche Problem ist die europäische Asyl- und Migrationspolitik. Frontex ist nur das ausführende Organ. «Die EU ist de facto im Kriegszustand gegen MigrantInnen», wie der spanische Professor für Rechts- und politische Philosophie an der Universität von Valencia Javier des Lucas schon vor Jahren sagte. Weiter: «Und das ist ein Kampf mit allen Mitteln, auch jenseits rechtlicher Normen, mit dem einzigen Ziel, die vermeintliche Zuwanderungs- und Flüchtlingslawine aufzuhalten. Zu den bevorzugten Mitteln gehören dabei die polizeilichen Kontrollmechanismen, die sich von militärischen Mitteln kaum noch unterscheiden.» Frontex ist Handlanger dieser Politik.

Kein Schengen-Rauswurf auf die Schnelle

Die Abstimmung zum Frontex-Referendum wird von den Gegnern zum Ja oder Nein zur Mitgliedschaft beim Schengen-Raum hochstilisiert. Gerade beim zurzeit angespannten Verhältnis zwischen der Europäischen Union und der Schweiz drohe bei einem Nein zur Aufstockung des Schweizer Beitrags an die Frontex ein Rauswurf aus dem Schengen-Raum.

Um diese Frage geht es beim Frontex-Referendum nur indirekt. Es gibt diesbezüglich keinen Automatismus. Allerdings müsste die Schweiz mit der EU verhandeln, wie die Zusammenarbeit fortgesetzt werden soll. Keine der beiden Seiten kann ein Interesse daran haben, die inzwischen komplex gewordene Kooperation im Schengen-Raum mit einem Federstrich aufzukündigen. Laut Rainer J. Schweizer, ehemaliger Staatsrechtsprofessor an der Universität St. Gallen, wäre dies auch rechtlich so vielschichtig, dass es ein eigentliches Austrittsverfahren bräuchte, zu vergleichen vielleicht mit dem Brexit, um den Schengen-Vertrag zwischen der EU und der Schweiz aufzulösen.

Bei der Diskussion im Schweizer Parlament wurden seitens der Befürworter des Referendums, hauptsächlich von SP und Grünen, Vorschläge gemacht, wie als humanitäre Ausgleichsmassnahme zur Aufstockung des Schweizer Frontex-Beitrags das Asylrecht gestärkt werden kann, etwa durch die Aufnahme von mehr Resettlement-Flüchtlingen, durch die Wiedereinführung des Botschaftsasyls und einem Ausbau der humanitären Visa. Dies wurde von bürgerlicher Seite abgeschmettert – was das Referendum gegen die einseitige Vorlage zur Folge hatte …

Es würde der Schweiz gut anstehen, ihre sogenannte «humanitäre Tradition» nicht nur wie eine Monstranz vor sich her zu tragen, sondern auch danach zu handeln. Die Rückweisung der einseitig auf Flüchtlingsabwehr ausgerichteten Frontex-Vorlage bietet eine Gelegenheit dazu.


Bilder

oben: «NoFrontex» von 2le2im-bdc, CC-Lizenz via Wikimedia Commons
Mitte: «Mitglied der Frontex» von Rock Cohen, CC-Lizenz via flickr
unten: «Warzaw Spire» von Neil Williamson, CC-Lizenz via flickr

 

Gegen die Normalisierung des Unmenschlichen

Neben der Kriminalisierung der Menschlichkeit ist die ebenso beunruhigende Tendenz zu beobachten, dass wir uns an den menschenverachtenden Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen gewöhnen. Wer schreckt schon auf, wenn einmal mehr im Mittelmeer oder auf dem Ärmelkanal ein Flüchtlingsboot kentert? Wer wundert sich noch, wenn Flüchtlinge – Männer, Frauen und Kinder – als Manövriermasse für politisches Kalkül missbraucht werden? – Ein Aufruf gegen die Normalisierung des Unmenschlichen.

Die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen werden immer mehr beschnitten. Hauptziel: Sie sollen davon abgehalten werden, nach Europa zu kommen. Das ist nicht neu. Seit Jahrzehnten überbieten sich die Staaten in diesem Wettlauf hin zur Rechtlosigkeit von Flüchtlingen. Einzig internationale Vereinbarungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention, die UN-Antifolterkonvention sowie die Europäische Menschenrechtskonvention setzen der Absicht Grenzen, die unerwünschte Migration zu verunmöglichen. Doch selbst diese minimalen Rechte werden zunehmend in Frage gestellt – oder schlicht missachtet, selbst von offizieller Seite.

So sind etwa die illegalen Pushbacks an den EU-Aussengrenzen Normalität geworden. Sie sind Teil einer Abwehrstrategie, die rabiater kaum sein könnte. Bei den Pushbacks werden Flüchtlinge durch die jeweilige Grenzpolizei oft gewaltsam über die Grenze zurückgedrängt. Geschieht dies auf hoher See, werden die Flüchtlingsboote in internationale Gewässer geschleppt und dort nicht selten manövrieruntauglich gemacht. Es soll dadurch verhindert werden, dass die MigrantInnen ein Asylgesuch stellen und ihre Fluchtgründe darlegen können – und sie sollen davor zurückschrecken, die EU-Aussengrenze erneut zu überqueren.

Zwielichtige Rolle von Frontex

Der Frontex, der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, kommt hierbei eine entscheidende Rolle zu, die zwielichtiger nicht sein könnte. Entstanden ist die Agentur zum Schutz der EU-Aussengrenze zu der Zeit, als die Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums abgeschafft wurden. Seither wächst Frontex wie keine zweite europäische Agentur: Die Budgets steigen jährlich steil nach oben, und es wird fleissig aufgerüstet. (Details dazu siehe hier.)

Immer wieder werden Vorwürfe laut, dass Frontex an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sei, gerade im Zusammenhang mit Rückschiebungen und Pushbacks wie oben beschrieben. Zumindest sollen Mitarbeitende der Agentur solche beobachtet und toleriert haben. Man muss davon ausgehen, dass an der EU-Aussengrenze täglich solche Pushbacks stattfinden[1] – unter den technisch hochgerüsteten Augen von Frontex. Unzählige davon sind dokumentiert, etwa durch die NGO Mare Liberum. Um wie viel grösser wird die Dunkelziffer sein?

Mit äusserster Härte gegen Flüchtlinge und MigrantInnen

Mit Recht kann behauptet werden, dass zumindest an der EU-Aussengrenze das Unmenschliche zur Normalität geworden ist. Ob entlang der Zentralen Mittelmeerroute von Libyen bis Süditalien, ob auf der Balkanroute und zwischen der Türkei und Griechenland, ob in der Strasse von Gibraltar oder auf dem Ärmelkanal: Überall wird mit äusserster Härte und oft ausserhalb des gesetzlichen Rahmens gegen Flüchtlinge und MigrantInnen vorgegangen.

Und vielenorts ist Frontex dabei. Ob aktiv oder passiv, ist nicht einmal so entscheidend. Die Verrohung im Umgang mit Flüchtlingen findet unter den Augen der offiziellen EU statt – und unter der Mithilfe der Schweiz. Denn die Schweiz ist als Mitglied des Schengener Abkommens seit 2009 finanziell wie personell an Frontex-Operationen beteiligt. Ihr Beitrag wird stets ausgebaut. Erst vor kurzem hat der Nationalrat einer Aufstockung auf 61 Millionen Franken jährlich bis 2027 zugestimmt. Dagegen wurde das Referendum ergriffen.

Man muss es klar benennen. Die systematische Abwehr von Flüchtlingen in Europa und anderswo richtet sich gegen zivilisatorische Errungenschaften, die angesichts des Flüchtlingselends nach dem Zweiten Weltkrieg erzielt wurden: Flüchtlinge und MigrantInnen müssen die Möglichkeit haben, Asyl zu beantragen, indem sie ungehindert ihre Fluchtgründe darlegen können. Und sie dürfen nicht in ein Land zurückgeschickt werden, wo ihnen Folter oder andere Menschenrechtsverletzungen drohen. Die beiden Grundsätze eines humanitären Umgangs mit Flüchtlingen werden heute systematisch missachtet. Und niemand übernimmt dafür die Verantwortung. So verweist etwa Frontex seit Jahren auf die örtlichen Grenzbehörden und kommt damit bis jetzt ungeschoren davon.

Ein anderer Umgang mit Flucht und Migration

Nun ist es ja nicht so, dass es beim Umgang mit MigrantInnen und Flüchtlingen keine Alternativen gibt. Sie liegen seit langem auf dem Tisch, sind allerdings im gesellschaftlichen Diskurs noch kaum angekommen. Die wichtigsten sind:

  • Bekämpfung der Fluchtursachen statt der Flüchtlinge. Ganz wichtig sind hier zum Beispiel gerechtere Handelsbeziehungen mit den Ländern des globalen Südens und damit die Überwindung der postkolonialen Verhältnisse. Erst wenn vor Ort Perspektiven für ein menschenwürdiges Leben vorhanden sind, geht Migration zurück.
  • Migration nicht verleugnen, sondern zukunftsfähige Konzepte entwickeln – in den einzelnen Staaten, europaweit, weltweit.
  • Legale Migration statt Grenzschliessung. Denn Migration lässt sich durch Grenzschliessungen nicht verhindern. Stattdessen fördern sie das Schlepperwesen und sorgen für immer gefährlichere Migrationsrouten. Fähren statt Frontex!
  • Integration erleichtern, zum Beispiel in Form von politischer Teilhabe in den Aufnahmeländern.

Das Thema Flucht und Migration ist allerdings politisch so aufgeladen, dass wir weit davon entfernt sind, solche Ideen in die Tat umzusetzen. Doch wenn wir vom menschenverachtenden Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen loskommen wollen, müssen wir damit beginnen – heute.


Anmerkungen:

[1] Siehe etwa die Recherche der Rundschau von SRF vom 3. Dezember 2021 oder der Bericht von Mare Liberum.

Bild: Graffiti beim Ratswegkreisel in Frankfurt, CC-Lizenz von universaldilletant via flikr

«Alle Staaten möchten die Menschen fernhalten, ob sie nun das Recht auf Asyl haben oder nicht.»

Je aufgeregter in Europa das Thema «Migration und Flüchtlinge» diskutiert wird, umso mehr scheinen die Verpflichtungen gegenüber internationalem Recht in den Hintergrund zu treten, etwa gegenüber der Genfer Flüchtlingskonvention. Daria Davitti, Rechtsprofessorin der Universität Nottingham in Grossbritannien und langjährige Kennerin der Migrationspolitik, nimmt Stellung zur Idee von «regionalen Auffangzentren» in Nordafrika. Mit ihr gesprochen hat Icíar Gutiérrez für eldario.es. Übersetzung aus dem Spanischen: Walter B.

Vor kurzem konnte man erfahren, dass die EU die Idee prüfe, sogenannte «regionale Ausschiffungsplattformen» in Nordaftrika zu schaffen. Was halten Sie von diesem Vorschlag, Zentren zu errichten, um ausserhalb Europas das Recht von MigrantInnen und Flüchtlingen auf Asyl zu prüfen?

Es besteht kein Zweifel, dass dieser Vorschlag, wenn er denn angenommen wird, die Externalisierung der Grenzen der Europäischen Union weiter vorantreibt und die EU und ihre Mitgliedsstaaten somit ihre internationalen Schutzverpflichtungen an Drittstaaten delegieren.

Wenn wir auch noch wenig über die in diesem Vorschlag vorgesehenen «regionalen Ausschiffungszentren» wissen, so ähneln sie doch sehr der Idee von Offshore-Verfahrenszentren, wodurch MigrantInnen und Schutzsuchenden nie wirklich europäisches Territorium betreten und in Drittländern ausserhalb Europas ein Verfahren durchlaufen. Das wird als Versuch dargestellt, im Mittelmeer Leben zu retten. Doch sterben die Menschen ja gerade im Mittelmeer, weil wir alle legalen Wege verschlossen haben, auf denen sie nach Europa kommen und Schutz suchen können.

In Ihrem letzten Bericht noch vor Bekanntwerden der neuesten Pläne geben Sie zu bedenken, dass solche Zentren ein «alter Plan» der EU seien. Seit wann werden solche Ideen erwogen?

Im letzten Bericht des Human Rights Law Centre, den Marlene Fries, Marie Walter-Franke und ich gemeinsam verfasst haben, stellen wir fest, dass dies eine «alte Idee» sei, weil die Mitgliedsstaaten der EU seit mindestens 1986 mit dem Gedanken von Verfahrenszentren ausserhalb Europas gespielt haben, damals noch auf Vorschlag der dänischen Regierung. 1993 brachte die niederländische Regierung die Idee ein und 1998 von neuem die österreichische.

Manche beziehen sich heute auf den Vorschlag von Tony Blair aus dem Jahr 2003, der «regionale Schutzzonen» näher der Herkunftsländer vorsah, möglicherweise unter der Verantwortung des UNHCR, des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge. Doch dies war nicht der erste Versuch, das einzuführen, was auch unter der Bezeichnung «exterritorialer Schutz» bekannt ist.

Seither wurden weitere Vorschläge in dieser Richtung eingebracht. Wann immer die Zahl der Menschen ansteigt, die nach Europa gelangen, scheint die Idee von Offshore-Verfahren wieder auf den Tisch zu kommen. Doch bis heute wurden sie nicht eingeführt. Und das aus gutem Grund: Es ist praktisch unmöglich, ein Verfahren solcher Art einzuführen, ohne gegen internationales Recht zu verstossen.

Glauben Sie, dass die Idee nun an Fahrt gewinnt und die europäischen Regierungschefs sogar definitiv vereinbaren könnten, sie in die Tat umzusetzen?

Ich hoffe, das wird nicht geschehen. In der Folge einer solchen Entscheidung würden höchstwahrscheinlich das UNHCR und die IOM, die Internationale Organisation für Migration, mitwirken – zumindest zu Beginn. Allerdings würden sie sich bald wieder zurückziehen, ebenso bald, wie die Verletzung internationalen Rechts offensichtlich würde. In so etwas werden sie nicht verwickelt sein wollen.

Momentan sind die Mitgliedsstaaten der EU nicht bereit, Personen aus Drittstaaten anzusiedeln. Menschen aus den Hotspots in Griechenland und Italien werden schon heute nicht konsequent umverteilt, ebensowenig solche aus der Türkei. Die Zahl der in den Mitgliedsstaaten der EU angesiedelten Personen unter internationalem Schutz [die sogenannten Kontigentsflüchtlinge] ist äusserst gering. Woher sollen wir die Gewissheit nehmen, dass das Vorgehen anders sein wird, wenn es um die Ansiedlung aus den Verfahrenszentren ausserhalb Europas geht?

Aus Sicht des Verfahrens selbst gibt es viele weitere Fragen: Wie wird garantiert, dass das vorgeschriebene Verfahren zur Klärung der Schutzbedürftigkeit eingehalten wird? Wie steht es um eine angemessene Rechtsvertretung und ein Berufungsverfahren? Wie wird ein System geschaffen, das gerecht und fähig ist, die Verletzlichsten zu identifizieren, also die Kinder, die Opfer von Menschenhandel, von sexueller Gewalt oder Folter, um nur einige zu nennen?

Die sogenannten «Salvaguardias» [Schutzgarantien] sind in keinem der Offshore-Systeme, die wir kennen, respektiert worden, weder in den australischen Zentren noch in jenen, die von den USA für die Boatpeople eingerichtet wurden, die HaitianerInnen, die auf unsicheren Wegen übers Meer kamen. Alle Staaten möchten die Menschen fernhalten, ob sie nun das Recht auf Asyl haben oder nicht.

Sie haben betont, dass die Argumente zugunsten eines Verfahrens ausserhalb der EU nicht haltbar sind. Warum sind sie Ihrer Meinung nach falsch?

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Sechs Jahre nach dem Arabischen Frühling

Tahrir-Platz, Kairo, 18. November 2011

Der Politologe und langjährige Kenner der arabischen Welt Gilbert Achcar wirft in seinem jüngsten Buch einen differenzierten Blick auf die revolutionären Aufstände des «Arabischen Frühlings» – und was daraus geworden ist. Eine Buchbesprechung von Bernard Schmid für die Zeitschrift «Archipel». Übersetzung aus dem Französischen: Walter B.

Wie konnte sich die Hoffnung, die weit über nationale und kontinentale Grenzen hinaus geteilt wurde, in Verdruss, ja Entsetzen verwandeln, zumindest fürs Erste? Diese Frage haben viele Beobachterinnen und Beobachter der politischen Entwicklung in den arabischen und arabischsprachigen Ländern seit 2011 gestellt, dem Jahr der Revolten und der international weit um sich greifenden Euphorie.

Lassen wir das bekannte, seit 2012 kursierende und reichlich abgenutzte Wortspiel, «der Arabische Frühling hat einem islamistischen Winter Platz gemacht», beiseite und beschäftigen uns mit den tieferen Gründen für den Befund, der sich aufdrängt: Ja, sechs Jahre nach dem Höhepunkt der Revolten, die sich von Marokko bis nach Bahrain und Oman ausgebreitet hatten, ist der erhoffte fortschrittliche, demokratische und soziale Wandel ausgeblieben.

Der Intellektuelle und scharfsinnige Beobachter der arabischen Welt Gilbert Achcar, der 2013 bereits «Le peuple veut. Une exploration radicale du soulèvement arabe» [«Das Volk will. Eine radikale Erkundung des arabischen Aufstands»] veröffentlicht hatte, befasst sich in seinem jüngsten Buch, erschienen im Januar 2017, erneut mit den Veränderungen und Spannungen, welche die «arabische» Region seit mehreren Jahren umtreiben.

Zunächst warnt er in der Einführung ein für alle Mal vor falschen Denkmustern, die verhindern, dass die Wirklichkeit der Bewegungen, die sich in dieser Weltgegend ereignen, überhaupt ins Auge gefasst werden kann. Zwei falsche Grundhaltungen stehen einander gegenüber. Auf der einen Seite findet man die essentialistische, kulturalistische Sichtweise, die besagt, dass die Kultur und/oder die Religion der Völker mehrheitlich per se ein Hindernis für jeglichen Fortschritt darstelle und der Islam mit der Aufklärung und der Demokratie nicht vereinbar sei. Eine solche Ansicht hat viele Geister vor 2011 geprägt. Als Beispiele zitiert Gilbert Achcar Textstellen von Samuel Huntington und hauptsächlich von Francis Fukuyama. Diese Anschauung wurde allerdings durch die Umbrüche in jenen Monaten der Jahre 2010/2011, als mehrere Regime ins Wanken gerieten, weitgehend hinweggefegt.

Kein schneller Regimewechsel

Damals hat sich, so erinnert uns Gilbert Achcar, ein anderer, scheinbar diametral entgegengesetzter Diskurs entwickelt, der allerdings nicht weniger falsch ist. Dieser meint, in den Bewegungen der arabischsprachigen Länder die Wiederholung einer anderweitig beobachteten Tendenz zu erkennen, nämlich einen angeblich generellen Trend hin zur Demokratisierung des westlichen und liberalen Typs, wie in Südamerika der 1980er Jahre oder in Osteuropa zwischen 1989 und 1991. Viele Stimmen sagten nun einen schnellen Wechsel der Regime voraus. Deren Ende sei vorhersehbar und würde in ein weitgehend ähnliches politisches System münden, wie es zum Beispiel in der Europäischen Union herrsche. Diese Sichtweise ist völlig verkehrt. Weder in Ägypten noch in Syrien, weder in Libyen noch in Bahrain hat sich die Erwartung ihrer Anhänger und Anhängerinnen erfüllt. Ein solcher Umschwung ist in diesen und anderen Ländern ausgeblieben.

Der Autor legt dar, weshalb seiner Auffassung nach der Wandel in den Ländern des ehemaligen Ostblocks deutlich oberflächlicher war und deshalb auch schneller vonstatten ging als jener, der in der Mehrzahl der arabischen Länder als einzig möglicher erscheint. In den Ländern des ehemaligen «Realsozialismus» lag die Staatsmacht in den Händen einer sozialen Gruppe, «die nicht durch die besitzende Klasse dominiert war, sondern durch die Bürokraten der Staatspartei, also durch Funktionäre. Die allergrösste Mehrheit dieser Bürokraten, die wohlverstanden unten in der Pyramide angesiedelt waren, konnte damit rechnen, ihre Stelle zu behalten oder eine andere zu finden und mit dem Übergang zum Marktkapitalismus sogar ihre Kaufkraft zu erhöhen. Und ein beachtlicher Teil der Mitglieder der höheren Dienststufen konnte damit rechnen, kapitalistische Unternehmer zu werden, indem sie aus der wirtschaftlichen Privatisierung Nutzen zogen.»(Achcar S. 21 f.)

Nichts Derartiges lässt sich in der Mehrzahl der arabischen Länder beobachten. Hier, in den Staaten, die der Autor als «patrimonial» oder «neopatrimonial» bezeichnet, ist es oft eine durch erweiterte Familienzugehörigkeit oder durch «Blutsbande» definierte Gruppe, die Macht und Reichtum beansprucht. Das gilt ebenso für traditionelle Monarchien (Marokko, Jordanien, Golfstaaten) wie für Staaten, die zwar von einer bürokratischen Schicht regiert werden, in deren Inneren aber eine einzige Familie alle Schalthebel der Macht übernommen hat (der Irak von Saddam Hussein sowie das Syrien von Hafiz und später Baschar al-Assad) oder den Zugang zum Reichtum kontrolliert (Tunesien unter Ben Ali mit Unterstützung seiner angeheirateten Verwandtschaft). Abgesehen davon sind die meisten – aber nicht alle – arabischen Länder Rentierstaaten, die von der Monopolisierung der Einnahmen durch den Export von Bodenschätzen profitieren. Unter solchen Bedingungen ist es für die Machtelite eine Frage des sozialen Überlebens, dass sie sich an der Spitze des Staatsapparates halten kann. Im Fall eines Sturzes des Regimes riskiert diese mindestens den völligen Verlust ihrer Privilegien.

Es ist deshalb, so stellt der Autor fest, völlig illusorisch, in der Mehrheit der Länder dieser Region mit einem schnellen, friedlichen, gleichsam einvernehmlichen Wandel ohne Hindernisse zu rechnen. Wenn also der revolutionäre Prozess, der seit den Jahren 2010/2011 im Gange ist, ins Stocken zu geraten scheint, sich hinzieht und Rückschläge erleidet, so spricht das nicht gegen dessen Existenz, sondern ist im Gegenteil angesichts des Befundes, der eben dargelegt wurde, nichts als logisch. Seine Feinde sind weiterhin mächtig und entschlossen – aber hauptsächlich darin, als privilegierte soziale Gruppe das eigene Überleben zu sichern.

Zwischen zwei Feinden

Wie Gilbert Achcar in seinem Buch immer wieder betont, steht der revolutionäre Prozess nicht einem einzigen Feind gegenüber, nämlich der Konterrevolution, sondern zwei Feinden, die eine «doppelte Konterrevolution» darstellen. Auf der einen Seite sind das die Eliten an der Macht, die auf keinen Fall ihre beherrschende Stellung aufgeben wollen und sich dabei auf den Sicherheitsapparat stützen, dessen Ausbau sie mit einem «antiterroristischen» Diskurs begründen. Auf der anderen Seite sind es die pseudoalternativen Radikalen in Form der islamistischen Bewegung. Diese profitiert von einer Aura der Radikalität wegen ihres Diskurses der «kulturellen» Konfrontation mit den herrschenden – westlichen – Mächten, hat aber nie die Formen der wirtschaftlichen Dominanz in Frage gestellt. Die Mehrzahl der islamistischen Bewegungen verteidigt übrigens klar den wirtschaftlichen Liberalismus und beruft sich dabei auf Textstellen im Koran, wo die Welt des Handels gewürdigt wird.

Diese Bewegungen, fügt Gilbert Achcar an, könnten sich oft auf ein Dreigestirn von Mächten stützen, die alle wegen ihres Status als Ölmacht über beträchtliche Mittel verfügen. Es handelt sich dabei um das Königreich Saudi-Arabien, das Emirat Katar und die Islamische Republik Iran (S. 24).

Ein guter Teil des Buches besteht aus Untersuchungen der politischen Entwicklung einzelner Länder nach 2011 vor dem Hintergrund des analytischen Rasters, das auf der einen Seite eine Volksbewegung sieht, dessen verschiedene Lager ein besseres Leben für den Grossteil der Gesellschaft anstreben, und auf der anderen, gegenüberstehenden Seite die beiden Flügel der Konterrevolution. Diese Konstellation ist in dem Sinne dynamisch, als die beiden Flügel der Konterrevolution manchmal zur Zusammenarbeit bereit sind, um gemeinsam die «Ordnung» und den wirtschaftlichen Liberalismus zu verteidigen – zum Nachteil der Volksbewegung und der sozialen Interessen eines Grossteils der Bevölkerung –, und manchmal sich gegeneinander stellen und sogar gewaltsam bekämpfen. Die verschiedenen Lager der Volksbewegung werden deshalb in gewisser Weise zu Geiseln, die von beiden Seiten der Konterrevolution in die Zange genommen werden.

Der syrische Konflikt

Der zentrale Teil des Buches befasst sich mit der Untersuchung von zwei Fällen: diesen von Syrien (S. 35–109) und den von Ägypten (S. 111–225). Im syrischen Konflikt bleibt das repressive Regime des Assad-Clans der vorherrschende Akteur, Urheber schlimmster Gräuel, von der systematischen Anwendung der Folter bis hin zu den Fassbomben, die über Städte und Wohnquartiere abgeworfen werden. Es stützt sich auf die vereinte militärische Stärke Russlands und der iranischen Diktatur. Gilbert Achcar ist kein Anhänger einer Intervention westlicher Militärmächte, stellt aber fest, dass vor allem die Regierungen dieser Mächte selbst es nicht sind. «Aber die Administration Obama hat sehr wohl in Syrien eingegriffen», stellt Achcar fest, «und zwar auf ganz entscheidende Weise, indem sie ihre regionalen Verbündeten [die Türkei und die Golfstaaten] daran gehindert hat, der syrischen Opposition jene Waffen zu liefern, die diese gebraucht hätte. Damit hat Obama das Ungleichgewicht verstärkt, das durch die Intervention Russlands und des Irans entstanden ist.» (S. 40) Es geht hier um die Lieferung von Luftabwehrwaffen sehr kurzer Reichweite, die es erlaubt hätten, sich gegen Bombardierungen aus niedriger Höhe zu verteidigen. Ihre Lieferung war eine Zeitlang von sunnitischen Kräften – zumindest von gewissen Strömungen, die den syrischen Aufstand unterstützten – erwogen worden, ist aber stets am Veto der USA gescheitert. Der Grund dafür liegt in einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Vermögen der syrischen Opposition, einen kontrollierten und «vernünftigen» Übergang zu garantieren, die Interessen der USA zu wahren und diese des Nachbarstaates Israel nicht zu verletzen.

Während die syrische Opposition und das herrschende Regime die wichtigsten Gegenspieler sind, hat Letzteres die jihadistischen Strömungen der Al Kaida und vor allem des Islamischen Staats (IS) zu seinem «Lieblingsfeind» (S. 54) erkoren und zum Hauptfeind Syriens erklärt. Nun aber «wird das syrische Regime den IS nur insofern und in dem Masse bekämpfen, als es sich davon eine Stärkung seiner Position im Kampf gegen den wichtigsten Feind verspricht, gegen die mehrheitliche Opposition.» (S. 66) Abgesehen davon ist der Konflikt zwischen den beiden weitgehend künstlich und begrenzt, zudem ein «abgekartetes Spiel» (S. 64), verbunden mit einer provisorischen und teilweisen Gebietsaufteilung untereinander.

Ägypten

Was nun Ägypten angeht, so beschränken wir uns hier auf eine kurze Zusammenfassung der Situation durch den Autor (S. 157 f.): «Der revolutionären Welle, die am 25. Januar 2011 losbrach, haben sich kurze Zeit später die Muslimbrüder angeschlossen, die wichtigste reaktionäre Kraft der Opposition gegen das herrschende Regime. Mit diesen hatten die progressiven Kräfte, die Linken und die Liberalen, bis anhin unter schwierigen Bedingungen zusammengearbeitet. (…) Die erste revolutionäre Welle wurde am 11. Februar [2011] mittels eines konservativen Staatsstreichs durch das Militär beendet, so dass das alte Regime mit der Unterstützung der Muslimbrüder erhalten werden konnte. Die beiden Flügel der Konterrevolution (…) haben zusammengearbeitet, bis der wachsende Einfluss des islamischen integristischen Flügels dazu führte, dass eine Grenze überschritten wurde», indem die Muslimbrüder im Jahr 2012 einen der Ihren, Mohammed Mursi, zum Präsidenten wählen liessen und versuchten, den Einfluss der früheren Elite zu beschneiden. Und danach: «Die zweite revolutionäre Welle wurde ihrerseits am 3. Juli [2013 in der Folge von Massendemonstrationen gegen Präsident Mursi] durch einen reaktionären Staatsstreich beendet.» Die Zeit danach ist durch das extrem repressive Regime gekennzeichnet, das seit der Wahl des Präsidenten al-Sisi im Jahr 2014 alles tut, um das Land unter einer bleiernen Decke zu halten.

Im letzten Teil des Buches geht der Autor kurz auf andere Länder ein, die 2011 von der Welle der Revolten erfasst worden waren, darunter Jemen, Libyen, aber auch Tunesien. Gerade im Fall dieses letzteren Landes findet man ein Beispiel für eine «friedliche» Zusammenarbeit der beiden konterrevolutionären Flügel, insofern die Partei Nidaa Tounes, die im Jahr 2012 gegründet wurde und auf eine teilweise oder vollständige Restauration des alten Regimes hinarbeitet, seit den Wahlen Ende 2014 zusammen mit der islamistischen Partei Ennahda regiert. Gilbert Achcar stuft diese Situation als ein geringeres Übel ein, nicht so sehr wegen der zu erwartenden Ergebnisse der Regierungsarbeit, sondern weil dadurch die Volkskräfte nicht in einem Pseudokonflikt zwischen zwei konterrevolutionären Akteuren als Geisel genommen werden können. Zudem, so fügt der Autor an, verhindert dies, dass die tunesische Linke sich mit einem der beiden konterrevolutionären Akteure gegen den anderen verbündet. Im Jahr 2012 war anlässlich der Mobilisierung gegen die von der Ennahda geführten Regierung ein Teil der Volksfront versucht, in eine anti-islamistische Allianz mit Nidaa Tounes einzutreten. (S. 241)

Die Allianz zwischen den beiden grossen konterrevolutionären Kräften ist nach Achcar das von den USA und der Europäischen Union bevorzugte Szenario. Aber gerade aus dem soeben skizzierten Grund «stellt sich heraus, dass es auf eine sehr ungewohnte Weise auch aus progressiver Sicht das beste Szenario ist». (S. 245)

Es liegt an der arabischen Linken, so schliesst Achcar, Hoffnungsträgerin für eine sozialere, demokratischere und mit gleichen Rechten für die Frauen ausgestattete Zukunft zu sein. «Damit ein künftiger arabischer Frühling zu einem andauernden Frühling werden kann, müssen entschieden unabhängige progressive Leitmotive erarbeitet werden, die man bis anhin schmerzlich vermisst. Ohne solche Leitmotive wird es unmöglich sein, die soziopolitische Ordnung radikal umzustossen und eine neue aufzubauen (…).» (S. 251)

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Anmerkungen:

Gilbert ACHCAR: «Symptômes morbides. La rechute du soulèvement arabe», Sindbad – Actes Sud, Arles 2017, 279 Seiten, ISBN 978-2-330-07322-0, bisher nur auf Französich erschienen.

Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

Die Buchbesprechung ist in Deutsch in der Zeitschrift «Archipel», Juni 2017, erschienen.

Bild: Tahrir SQ. nov18 von Ahmed Abd El-Fatah, CC-Lizenz via flickr