Wildwuchs-Festival: Ein Jubiläum unter besonderen Umständen

Wildwuchs feiert sein zwanzigjähriges Bestehen. Vom 27. Mai bis 6. Juni gibt es zehn Tage lang in und um Basel Theater, Tanz, Performance, Zirkus, Akrobatik, Spaziergänge, Musik und mehr zu erleben. Und das ist alles andere als selbstverständlich. – Eine Ankündigung, auch in eigener Sache.

Wie plant man in diesen Zeiten ein Festival? Man rechnet mit allem und bäckt kleinere Brötchen. Alles andere wäre tollkühn. Nun steht also das Programm des kommenden Wildwuchs-Festivals. Und schon ein erster Blick zeigt: Kleinere Brötchen sind nicht zwingend weniger herzhaft. Dazu Gunda Zeeb, die künstlerische Leiterin des Festivals: «Auch wenn vieles, was in der Vergangenheit ein Festival ausgemacht hat – grosse internationale Produktionen, volle Säle, lebendige Nachgespräche, volle Festivalzentren und persönliche Begegnungen mit KünstlerInnen – im Moment so nicht möglich ist, feiern wir doch mit einem abwechslungsreichen Programm aus Performance, Theater, Tanz und anderem die Diversität unserer Gesellschaft und die Kraft der Kunst.»

Die Vielfalt unserer Gesellschaft in der Kunst abzubilden sowie Kunst und Kultur allen zugänglich zu machen, ist das Hauptanliegen von Wildwuchs seit zwanzig Jahren – mit einem grossen Festival alle zwei Jahre und immer mehr Veranstaltungen während des Jahres, so dass die Kernbotschaft nach und nach besser gehört und schliesslich zur Normalität wird: ein offener, diskriminierungsfreier Kulturbetrieb für alle, ob in den Zuschauerrängen oder auf der Bühne. Dann braucht es Wildwuchs nicht mehr und kann als Verein getrost aufgelöst werden.

Doch so weit sind wir noch nicht. Noch sind weite Teile der Gesellschaft vom Kultur- und Kunstbetrieb ausgeschlossen, sei es aufgrund ihrer Behinderung, aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Aufenthaltsstatus oder sei es, weil sie sich Kunst und Kultur schlicht nicht leisten können. Wildwuchs möchte dafür sensibilisieren und Abhilfe schaffen.

Mein kleiner Beitrag

Das war Motivation genug für mich, im Vorstand des Vereins Wildwuchs mitzuwirken. Seit jeher hat mich das Spannungsfeld zwischen Kunst und (Gesellschafts-)Politik beschäftigt (siehe etwa da oder da). Den Ausschluss vom Kulturbetrieb habe ich am eigenen Leib erfahren. Zwar ist es in den letzten Jahren besser geworden, was den Zugang zur Kultur betrifft. Doch noch kann der Verein Wildwuchs nicht aufgelöst werden …

Auch künstlerisch kann ich beim aktuellen Festival etwas beisteuern: Im Rahmen eines musikalisch-literarischen Rundgangs durch das Museum der Kulturen werde ich mit einer Kurzlesung zum Thema Sterben und Tod einen Beitrag zur Belebung der Ausstellung leisten. Mir gleich tun es fünf weitere Menschen mit und ohne Behinderung sowie ein musikalisches Duo, das von Station zu Station führen wird. Teilnahme leider nur auf Anmeldung und mit beschränkter Anzahl.


Hier lang gehts zum Gesamtprogramm des Wildwuchs-Festivals.
Und hier zum Programmpunkt des musikalisch-literarischen Rundgangs im Museum der Kulturen.

Zu den Bilder:

Geigenspieler und Seifenblasenmann

Der Tag begann neblig. Dann setzte sich mehr und mehr die Sonne durch. Es wurde ein strahlender und warmer Frühlingstag. Als ich am frühen Nachmittag in die Stadt kam, fiel mir ihre hektische Oberflächlichkeit auf. Die Geschäftigkeit in ihren Strassen erschien mir als Lüge, als vergeblicher Versuch, die Verunsicherung unserer Gegenwart zu übertünchen. Auch ich lasse mich belügen, laufe irgendwelchen Dingen hinterher, die mich kurzzeitig befriedigen, kaufe hier etwas, das ich scheinbar brauche, tausche da meine Sehnsucht nach einem erfüllten Leben gegen ein Buch ein, das diese Erfüllung verspricht.

Dann beim Basler Münster vor der Galluspforte ein Geigenspieler. Innig und mit musikalischer Tiefe spielt er eine Partita von Bach. Zweifellos ein Berufsmusiker, ein Geigenvirtuose, aber ohne Schlips und Kragen. Vielmehr im bunten Wollpullover und mit langem, dünnen Haar. Gross und hager steht er da, leicht gekrümmt und verschmolzen mit seinem Instrument. In diesem Augenblick verkörpert er reine Musikalität, vorgetragen ohne jegliche Allüren. Die Musik dringt direkt in mein Herz. Die Touristen stören nur wenig.

Und schon ist sie da, die Erfüllung. An diesem Frühlingsnachmittag in der Stadt erlebe ich einen langen Augenblick der Poesie. Unweit des Musikers hält ein älterer Mann mit wildem Haar und weissem Vollbart seine Seifenblasen feil. Die Kinder tanzen um ihn, jagen den schillernden Kugeln nach, um sie zum Platzen zu bringen. Einzelne dieser Luftschiffe überleben den Tanz, schmiegen sich in den warmen Wind, nur um einen Augenblick später zu vergehen. Mein Tag ist gerettet.


Bild: Bubble – Seifenblase von Dörk_Hö , CC-Lizenz via flickr

Tamás

Vor gut einem Jahr habe ich Tamás ein letztes Mal gesehen. Er ist ein Strassenmusiker aus Ungarn, den ich über Jahre immer wieder in Basels Gassen angetroffen habe. Mit seinen melodiösen und melancholischen Liedern hat er mich jeweils zum Innehalten und Hinhören gebracht. Bald kam es auch zu Gesprächen: er in gebrochenem Deutsch, ich in Hochdeutsch. Die meisten seiner wunderschönen Lieder sind selbstgemacht. Dazu begleitet er sich mit der Gitarre.

Fast etwas versteckt sass er damals auf einer Treppe im Schatten einer Bauabschrankung. Ich war auf dem Weg zum Bahnhof. Beinahe hätte ich ihn übersehen. Im letzten Augenblick bemerke ich ihn und steuere spontan und weil wir uns inzwischen etwas besser kennen, auf ihn zu. In seinem narbigen Gesicht lag schon immer, leicht verborgen zwar, eine Melancholie, dieselbe, wie sie auch in seinen Liedern erklingt. Doch heute scheint er richtig niedergeschlagen.

Er sei müde und habe einen schlechten Tag gehabt, erzählt er. «Von der Strassenmusik kann ich nur noch ganz knapp leben. Zudem machen meine Stimmbänder nicht mehr mit. Singen geht fast nicht mehr. Doch ich habe keine andere Wahl.» Achthundert Franken monatlich sei das Minimum, von dem er leben könne. Ein äusserst prekäres Minimum, wenn man in Basel lebt. «Und das erreiche ich meist nur knapp. Ich muss wohl in eine andere Stadt ziehen. Doch wohin? Zurück nach Ungarn geht nicht, da mich dort zwei Jahre Gefängnis erwarten.» Und das komme für ihn nicht in Frage. Mehr noch: Seine Frau lebe in Ungarn und bäte ihn, nach Hause zu kommen. «Auch Kinder haben wir. Doch ich kann wegen der Gefängnisstrafe nicht zurück. Ich muss mich im restlichen Europa durchschlagen – überall, bloss nicht zu Hause. Es ist unmöglich, etwas Geld zur Seite zu legen. Was ich mit meinen Liedern verdiene, reicht immer weniger zum Leben. Vielleicht sollte ich Panflöte spielen lernen. Das würde meiner Stimme gut tun. Und man hört mich besser. Ich erreiche die Leute besser. Ich sehe sonst keine Chance und weiss nicht mehr, was ich tun soll. Manchmal habe ich Hunger. Aber zumindest habe ich ein kleines Zimmer für hundert Franken. Das will ich nur ungern aufgeben. Weisst du, wo ich eine günstige Panflöte kaufen kann?» «Versuche es am Samstag auf dem Flohmarkt. Aber schau, ob sie auch spielbar und tonrein ist», empfehle ich ihm. Das wolle er tun, antwortet er. Und sein Gesicht füllt sich wieder mit Leben. Er gehe am Samstag auf den Flohmarkt. Vielleicht habe er ja Glück und finde ein brauchbares Instrument. Er werde schnell lernen und freue sich darauf. «Ich glaube, eine Panflöte ist meine Chance.» Tamás setzt nun alle Hoffnung auf die Panflöte.

Seither habe ich ihn nie mehr gesehen. Doch wenn ich in den Strassen Basels Panflötenklänge höre, kann ich nicht anders als nachzusehen, wer hier spielt.

Undine und der Hafen St. Johann

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Undine ist ein weiblicher Wassergeist, eine halbgöttliche Nymphe, die in der Mythologie den Lokal- oder Elementargeistern zugeordnet ist. Es gibt Baumnymphen, Waldnymphen, Berg- und Höhlennymphen. Es gibt Grotten- und Talnymphen – und eben Undine, die Wassernymphe. Sie ist jung und hübsch. Und da sie eine niedere, unvollständige Gottheit ist, hat sie keine Seele. Die erhält sie erst, wenn sie sich mit einem Menschen vermählt. Und wird ihr der Gatte untreu, so bringt sie ihm den Tod. – Soweit die Mythologie.

Undine hiess aber auch das Bauprojekt des neuen Rheinuferwegs beim ehemaligen Basler Hafen St. Johann zwischen Dreirosenbrücke und der Landesgrenze. Der Weg für Fussgänger, Stadtwanderer und Radfahrerinnen schafft eine durchgängige Verbindung nach St. Louis und Huningue und weiter über die Dreiländerbrücke nach Weil. Auf Basler Seite heisst der neue Weg Elsässerrheinweg. Das umfangreiche Bauprojekt wurde erst nach langjähriger Planung möglich – und nachdem sich die Stadt Basel und Novartis darauf geeinigt hatten, dass Novartis das Gelände des Hafens St. Johann von der Stadt Basel erwerben und in den Firmen-Campus integrieren kann, das gesamte Rheinufer bis zur Landesgrenze aber der Stadtallmend zugeschlagen wird. Beide Seiten hatten also etwas davon: die Novartis ein kompakteres Campusgelände und die Stadt einen durchgängigen Rheinuferweg. Ein Interessensausgleich wie bei einer Vermählung. Beide Seiten bringen ihre Mitgift ein.

All diese Tatsachen und Mythen gehen mir durch den Kopf, als ich das erste Mal den neuen Rheinuferweg betrete und Richtung St. Louis wandere. Da räkelst du dich also, Undine, am Rheinufer, und dein betörender Gesang klingt nach über den Wassern. Ich meine ihn zu hören zwischen Schiffshorn und Industriegesirre, zwischen dem leisen Rauschen des Rheins und dem Gebimmel der Fahrräder. Wunderbar bist du anzuschauen mit deinen sanft geschwungenen Formen in Stein, die dem strömenden Wasser abgelauscht sind. Nun bist du also ganz bei uns, ganz in der Erdenwelt angekommen – hast eine Seele bekommen, Undine. Nun bist du vollständig. Möge der Bund fürs Leben ewig halten, damit kein Unglück über uns komme!


Der «Stadtwanderer» erscheint monatlich als Kolumne in der «ProgrammZeitung».

Bild: Undine 06 von Georges Nijs, CC-Lizenz via flickr

Weitwandern in der Nordwestschweiz

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Kann man in und um Basel überhaupt weitwandern? Oder ist es einfach zu eng, zu provinziell, um hier Weite zu erfahren, um Weite zu erwandern? – Man kann. Allerdings muss der Begriff der Weite ganz schön weit gefasst werden. Mein Vorschlag heute: die «Weit-»wanderung vom Arlesheimer Dom zum Basler Münster, eine hübsche kleine Wanderung mit Suchtpotenzial. Ich habe sie gefühlte tausend Mal unternommen.

Sie beginnt mit dem Abstieg von Arlesheim in die Niederungen der Agglo in Richtung Dornach Brugg. Sinnigerweise benutzen wir dafür den Bruggweg, gehen vorbei an herrschaftlichen Anwesen in Pärken mit altem Baumbestand. Wie viel Grösse sich da hinter Hecken und Mauern versteckt, grad so als würde sie sich ihrer selbst schämen! Wir lassen sie links liegen, die diskrete Grandezza, und finden uns bald an der Birs wieder, folgen ihr flussabwärts durch die Reinacher Heide, dem Natur- und Naherholungsgebiet zwischen Aue und Autobahn. Wie in einem Freilichtmuseum ist hier die Natur didaktisch aufbereitet. Bunte Infotafeln säumen den Weg, den nicht zu verlassen weitere Schilder anmahnen.

Derart belehrt und ermahnt lassen wir die Birs bald schon wieder hinter uns, stechen durch etwas fade Wohnquartiere an Reinachs Ostflanke und erklimmen das Bruderholz Richtung Predigerhof. Das ist ein schöner Augenblick auf dieser Wanderung: die überwältigende Weite, sobald du die Anhöhe erreichst. Plötzlich dieser Überblick! Von der Agglo kommst du direkt in den Himmel.

Und in dieser Übersichtlichkeit bleibst du bis kurz vor dem Abstieg in die erneuten Niederungen des Gundeli. In deinem Rücken drücken die Juraketten schwer, während dich vorne der weite Blick in den Schwarzwald und die Vogesen stadtwärts zieht, vorbei am markanten Wasserturm, vorbei an Schrebergartenidyllen und zunehmend urbanen Anmutungen. Schliesslich baut sich vor deinen Augen die ganze Pracht der Stadt auf. Von weit her hörst du ihr Gesumm, ihr Gebrumm, ihr Gebrüll. Und plötzlich bist du unsicher, schrickst vor soviel Stadt zurück – und machst auf dem Absatz kehrt. Du suchst das Weite. Die Stadt, das Münster können warten. Zudem ist der Platz für deine Kolumne auch schon aufgebraucht. Weitwandern geht eben etwas länger.


Der «Stadtwanderer» erscheint monatlich als Kolumne in der «ProgrammZeitung».

Bild: «P1000618» von Patrik Tschudi CC-Lizenz via flickr