Der typische und nervige Artikel gegen die Fussball-Weltmeisterschaft

Wie sage ich es meinen Gesinnungsgenossen, die zwar politisch engagiert, aber auch fussballverrückt sind, WM-verrückt, und die ihr politisches Bewusstsein für die Zeit des WM-Taumels entweder gänzlich abschalten oder dank fadenscheiniger Argumente auf Sparflamme brennen lassen? Der spanische Schriftsteller und Journalist Isaac Rosa redet ihnen ins Gewissen – aller Voraussicht nach allerdings vergeblich. – Übersetzung: Walter B.

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Bild: Evil Preacher (CC-Lizenz via flickr)
Bildunterschrift: Jedes Mal, wenn ich nach Spanien komme, begegnen mir Menschen mit diesem Problem.

Bevor ihr es mir unter die Nase reibt, sage ich es lieber selber: Fussball gefällt mir nicht, weil ich davon nichts verstehe. Ich bin ein armer Tropf, dass ich mir so etwas Grossartiges entgehen lasse. Ich fühle mich intellektuell und moralisch überlegen. Ich bin voller Widersprüche und heuchlerisch, denn ich habe Hobbys und Verhaltensweisen, die nicht minder kritikwürdig sind. Ich bin verbittert und nachtragend, weil ich von der Begeisterung der Mehrheit ausgeschlossen bin. Gut denn! Nun ist es gesagt, und ich stehle euch weder Zeit noch Aufmerksamkeit, die ihr doch für das Non-stop-Fussballgaudi der nächsten Wochen braucht.

Wenige Dinge wecken mehr Widerwille, als wenn man gegen den Fussball anschreibt.

Wenige Dinge wecken mehr Widerwille, als wenn man gegen den Fussball anschreibt. Du magst zu jeder anderen Sache deine Meinung äussern: zu Monarchie, Religion, Nationalismus, Stierkämpfen, ETA. Bei keinem anderen Thema erntest du so viel Unverständnis und Verachtung, wie wenn du das Fussballgeschäft, die Informationsflut in diesem Zusammenhang, die Allgegenwärtigkeit des Fussballs kritisierst. Wenn unter uns irgend ein Konsens besteht, so ist das zweifellos der Fussball, der zudem in letzter Zeit eine intellektuelle Tünche erhalten hat, damit auch noch der letzten Widerstand gebrochen wird.

Also hasst mich! Aber ich kann nicht anders: Fussball gefällt mir nun mal nicht. Und wenn ich Fussball sage, so meine ich nicht den Sport an sich, sondern ebendas, was euch so gefällt: gerade nicht der Fussball ohne jegliche Zutat, sondern jene Mischung aus Spektakel und Geschäft, die zurzeit ihre glanzvollsten Wochen erlebt.

Eben erst hat die Weltmeisterschaft begonnen, und schon bin ich all die Spezialsendungen satt, all die Sonderseiten, die Nachrichtensendungen zu einem einzigen Thema, die fussballverseuchten sozialen Netzwerke, all die stornierten Termine, weil sie mit Partien zusammenfallen, die Verschiebungen, die Werbeflut, die allgemeine Ablenkung und Neutralisierung der sozialen Spannungen.

Natürlich habe auch ich meine Hobbys. Und es gibt nichts daran auszusetzen, dass die Leute die Möglichkeit nutzen, ihrem Alltag zu entfliehen, dass sie ihre Entspannung haben und ihre Leidenschaften. Aber keine ist so stark und anziehend wie der Fussball. Und da spreche ich noch nicht einmal vom plötzlich aufbrechenden Hurrapatriotismus, der für einmal nicht mit kurzgeschorenen Haaren einhergeht. Überall prangen die Nationalfarben Rot und Gelb. Und alle sind vereint im selben Traum. Und so weiter. Und so weiter. Sagt mir bloss nicht, ich solle doch einfach darüber hinwegsehen und mein Leben leben! Ich solle die Zeit während der Fussballspiele nutzen, um etwa ins Kino zu gehen. Denn in Wirklichkeit gibt es kein Ausserhalb des Fussballs. Er nimmt alles in Beschlag.

Ich höre schon meine Aktivistenkumpels sagen: Fussball gehört nicht den Rechten. Und kommt mir bloss nicht mit diesem oder jenem Denker, Poeten oder Revolutionär, der fussballbegeistert war. Das wäre dasselbe Totschlagargument, wie es die Anhänger des Stierkampfs bemühen. Zudem gehe ich davon aus, dass ihr bei all dem Fussball nicht den König und das Referendum [zur Monarchie in Spanien] vergesst, die Vereinigte Linke, die Sparmassnahmen, die Zwangsräumungen und das Abtreibungsgesetz. Ich gehe davon aus, dass ihr an den nächsten Kundgebungen nicht fehlen werdet, auch wenn diese zweifellos so organisiert sein werden, dass sie nicht mit den wichtigsten Fussballspielen zusammenfallen.

Ich weiss, dass ihr gegenüber den Protesten der Brasilianer nicht unsensibel seid – und auch nicht gegenüber der Repression, die diese auslösen. Ich weiss, dass ihr eure Augen vor dem weltmeisterschaftlichen Pomp in einem Land mit so viel Ungleichheit nicht verschliesst. Bestimmt lassen euch auch die toten Arbeiter auf den Baustellen der brasilianischen WM und auch jene in Katar nicht kalt. Ich weiss, dass ihr fähig seit, «Tor» zu rufen und zugleich all diese Anklagen zu retweeten.

Ich bewundere eure Fähigkeit zur Dissoziation, wenn es um Fussball geht. Ihr seid fähig zu geniessen, verrückt zu werden und zu feiern, auch wenn ihr wisst, dass dies ein gigantisches Geschäft ist in Händen von korrupten Organisationen wie der FIFA, von dunklen Magnaten, welche die Clubs besitzen, von widerlichen Sponsoren und von Regierenden, die beide Augen zudrücken: die einen, weil sie vor den Organisatoren einknicken, die anderen, indem sie den Besitzern der lokalen Mannschaft zum Beispiel Grundstücke zuschanzen. Ihr feiert das grosse Fussballfest, auch wenn ihr wisst, dass die Spiele von frühreifen Millionären bestritten werden, die zum sozialen Vorbild werden und letztlich über eure Petitionen, die Extraprämien doch bitte zu spenden, nur lachen. (Wie dies schon in früheren Meisterschaften geschehen ist, welche dieselbe Debatte ausgelöst haben.)

Die Dinge ändern sich. Wir sind nicht mehr dieselben wie noch vor einigen Jahren. Wir sind als Gesellschaft reifer geworden. Unsere Ansprüche sind gestiegen. Wir wollen dieses gefallene Land verändern … Doch der gewichtigste Wandel geschähe an dem Tag, an dem wir aus Solidarität mit jenen, die protestieren, darauf verzichten, uns ein WM-Spiel anzuschauen. Oder an dem Tag, wo wir unsere Mannschaft aufgeben, weil wir ihre mafiöse Führung ebenso wie die steuerlichen und städtebaulichen Privilegien ablehnen, die ihr von der Regierung oft zugestanden werden. Wenn dies eintrifft, werde ich fortan alles für möglich halten.

Hier ist er also. Jemand musste ja den typischen und nervigen Artikel gegen die Fussball-Weltmeisterschaft schreiben. Und nun hat es halt mich getroffen. Für diese Frechheit bitte ich euch um Entschuldigung. Aber ich kann beruhig sein: Bestimmt habt ihr euch die nächste Fussballpartie nicht vermiesen lassen. – Hallo! Hallo! Ist hier jemand?


Hier geht es zum Original des Artikels von Isaac Rosa auf eldiario.es.

 

Aufruf zu internationalen gewaltlosen Protesten am 15. Oktober 2011

Zu etwas anderen Protesten, als sie derzeit in England stattfinden, ruft die spanische Demokratiebewegung «Democracia Real Ya!» (Echte Demokratie jetzt!) für den 15. Oktober auf. Sie hat mehrfach bewiesen, dass sie es mit der Gewaltlosigkeit ernst meint – und trotzdem Erfolge gefeiert. Hier der Aufruf der Bewegung in originalgetreuer Übersetzung:

Internationale Mobilisierung am 15. Oktober

Am 15. Oktober werden wir Bürgerinnen und Bürger der ganzen Welt auf die Strasse gehen, um unsere Empörung über den Verlust unserer Rechte zu zeigen – Rechte, die uns durch ein Bündnis zwischen grossen Unternehmen und der politischen Klasse entzogen werden. Wir von der Bewegung «Democracia Real Ya!» laden euch ein, an dieser friedlichen internationalen Protestaktion teilzunehmen, indem ihr euch unserem Aufruf anschliesst oder indem ihr eure eigenen Aufrufe für dieses Datum erlässt. Es ist der Augenblick gekommen, die Stimme zu erheben. Unsere Zukunft steht auf dem Spiel, und niemand kann der Kraft von Millionen von Menschen trotzen, wenn sie sich in gemeinsamer Absicht vereinen.

«Democracia Real Ya!» ist eine spanische Koordinationsplattform von unterschiedlichen Gruppen zur Mobilisierung von Bürgerinnen und Bürgern. Unter der Devise «Wir sind keine Marionetten in den Händen von Politikern und Banquiers» gingen wir am 15. Mai zu Tausenden auf die Strasse, um mehr demokratische Teilhabe zu fordern, uns gegen die Korruption des politischen Systems aufzulehnen und unseren Einspruch gegen die Kürzungen im Sozialbereich zu bekunden. Nach dem Erfolg dieser ersten Kundgebung entstanden unterschiedliche Bewegungen, und auf vielen Plätzen des ganzen Landes wurden Zeltlager aufgebaut, ganz ähnlich der ersten Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo. Dort wurden Volksversammlungen durchgeführt, wo die BürgerInnen ihre Ziele in einem horizontalen, alle Anwesenden einschliessenden Entscheidungsprozess entwickelten. Die Bewegung 15M strahlte bald über die Landesgrenzen hinaus und ermutigte in vielen Städten der Welt zu Aktionen, darunter am vergangenen 19. Juni zu einer koordinierten Massenkundgebung gegen den Euro-Pakt.

Unter dem Druck der Finanzherrschaft arbeiten unsere Regierenden zugunsten ein paar weniger, ohne sich um die sozialen, menschlichen und ökologischen Kosten zu kümmern, die dadurch entstehen können. Die herrschenden Klassen rauben uns das Rechts auf eine freie und gerechte Gesellschaft, indem sie Kriege mit wirtschaftlichen Zielen führen und ganze Völker ins Elend stürzen.

Deshalb laden wir euch ein, euch diesem gewaltlosen Kampf anzuschliessen, indem ihr die Botschaft verbreitet, dass wir gemeinsam diese unannehmbare Situation ändern können. Nehmen wir uns die Strasse am 15. Oktober! Es ist Zeit, dass sie uns zuhören. Gemeinsam werden wir unsere Stimmen erheben.

Original in spanischer Sprache

Massenproteste in Spanien – und die Medien schweigen

Seit letzten Sonntag, 15. Mai, kommt es in Madrid und in vielen weiteren Städten Spaniens zu Massenprotesten, die – will man Twitter, Facebook und diversen Blogs glauben – immer mehr Zulauf erhalten und vielenorts zu Protestcamps führen. Doch die etablierten Medien schweigen …

Wie wenn die Welle von den arabischen Ländern übers Mittelmeer nach Südeuropa schwappen würde: Nun scheinen die Proteste auch in Spanien angekommen zu sein. Und ein innerer Zusammenhang ist nicht auszuschliessen: Hüben wie drüben geht es nämlich weniger um den Ruf nach Demokratie – und bestimmt nicht um eine Demokratie europäischen Zuschnitts, denn diese ist nicht nur in Europa inzwischen ziemlich diskreditiert –, vielmehr geht es um mehr Teilhabe, nicht nur politisch – das auch –, sondern hauptsächlich wirtschaftlich. Es geht um ein Auskommen und eine Lebensperspektive. Und es geht um ein tief verletztes Gerechtigkeitsgefühl – hüben wie drüben.

Wen wundert’s? In Spanien sind inzwischen über 20 Prozent der Bevölkerung arbeitslos, bei den Jugendlichen sind mehr als 40 Prozent – und das sind die offiziellen Zahlen, inoffiziell dürften es mehr sein. Zudem ist auch in Spanien das grosse Sparfieber ausgebrochen. Doch die Sparübungen und neoliberalen Flurbereinigungen (z.B. Aufweichung des Kündigungsschutzes) werden wie überall mit sehr viel Misstrauen beobachtet – und offenbar nicht mehr wie eine herbe, aber notwendige Fastenkur einfach hingenommen. Zu gut ist die unverhoffte Grosszügigkeit der Regierung bei der Bankenrettung in Erinnerung. Man versteht nicht mehr, warum die Bevölkerung auf Geheiss der Regierung die Verluste der spekulierenden Finanzindustrie tragen soll, während diese bereits wieder satte Gewinne einfährt. Hinzu kommt, dass am kommenden Wochenende Regionalwahlen stattfinden – und auf den Wahllisten über hundert PolitikerInnen stehen, denen Korruption und Klientelwirtschaft vorgeworfen wird. Die Protestierenden wollen deshalb die Demonstrationen und Protestcamps – diese unter dem sinnigen Titel „Yes we camp!“ – bis zum kommenden Wochende weiterführen und rufen gleichzeitig dazu auf, den grossen Parteien die Stimme zu verweigern.

Über das wahre Ausmass der Demonstrationen herrscht Unklarheit. Unabhängige Angaben darüber gibt es kaum. Dass die Proteste am Zunehmen sind, kann indessen als gesicherte Erkenntnis gelten. Auch kann davon ausgegangen werden, dass es sich bis jetzt um friedliche Kundgebungen handelt, wenn man von diesen in Granada absieht, wo ein Protestcamp von der Polizei geräumt wurde. Ein Dominoeffekt wie in den arabischen Ländern ist auch in Europa nicht auszuschliessen, zumal in den südlichen Ländern, wo der Leidensdruck vieler Menschen in den letzten Monaten erheblich gestiegen ist und wo es, wie etwa in Griechenland, bereits erhebliche Schwelbrände gibt.

Warum das alles bis jetzt in den etablierten Medien kein Thema ist, bleibt mir ein Rätsel. Und darüber spekulieren mag ich zurzeit nicht. Was ich hingegen mag: ausgewählte Links rund um die Ereignisse in Spanien weiterempfehlen:

  • interaktive Karte der bestehenden (grün) und geplanten (violett) Protestcamps auf ikiMap (Klick auf Abbildung, um zur Karte zu gelangen):

  • unabhängiges Nachrichtenportal Net News Express. Dort oben rechts in der Suchmaske „Spanien“ (oder so ähnlich) eingeben.
  • spannendes Interview in deutscher Sprache auf ohrfunk.de mit dem in Spanien lebenden und gut informierten Netzaktivisten Rafael Eduardo Wefers Verástegui.
  • #SpanishRevolution for outsiders: ein Blog in englischer Sprache, der erklärt, was in diesen Tagen in Spanien vor sich geht.
  • Le Bohémien: Spaniens Jugend auf der Straße – mit Live-Ticker zur „Spanischen Revolution“.
  • nochmals Le Bohémien: ein erhellendes Schlaglicht auf die möglichen Motive der arabischen Revolutionen wirft der ausgezeichnete Artikel Freiheit auf arabisch.
  • Schluss mit der Farce!, Artikel vom 18. Mai auf taz.de.

Aufdatierungen (=Updates)

  • Donnerstag, 19.5.11, 9.50 Uhr: Soeben bei Netzpiloten erschienen: ausführlicher, aber empfehlenswerter Artikel, fokussiert auf die Entwicklung der Wirtschaft und auf das spanisch-deutsche Spannungsverhältnis: Hintergründe der spanischen Revolution.
  • 11.45 Uhr: Die „spanische Revolution“ wird offenbar von den etablierten Medien wahrgenommen, z.B. von Spiegel online: Spaniens Jugend überrumpelt die Mächtigen.