Sonntag – Abschied

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Bild: Hamed Saber (CC-Lizenz via flickr)
Sunday is gloomy

 

Am Vortag machte Vater oft einen Zopf. Er ging jeweils energisch ans Werk. Beim Klopfen des Teigs stellte er die Schüssel auf den Boden und klatschte den Teigklumpen aus beträchtlicher Höhe – er war an die zwei Meter gross – und mit aller Kraft hinein, so dass es knallte und ihm Schweissperlen auf die Stirn trieb. Einmal zerschmetterte er so die Schüssel. Wir Kinder wussten nicht, ob wir lachen durften. Das Lachen war uns zuvorderst, doch wir kannten Vaters Spannungszustände nur zu gut und wollten ein Donnerwetter vermeiden. Wie erlöst waren wir, als Vater selber zu lachen begann, und wir einstimmten konnten! Der Sonntagmorgenzopf fiel damals aus.

Mir ging durch den Kopf, dass ich mich verstecken könnte. Doch das ist im Rollstuhl gar nicht so einfach. Oder ich könnte weggehen, für immer weggehen – von zuhause, vom Heim, vom Sonntag, von allem. Doch auch das schien mir aussichtslos.

Diesen Sonntag gab es Zopf, doch schon beim Aufstehen war diese leise Trauer da. Abschied lag in der Luft. In der Küche klirrte und klapperte es zwar munter. Mutter bereitete das Morgenessen vor, deckte den Tisch. Es roch nach Kaffee. Doch dieser Duft und die Geschäftigkeit der Mutter vermochte die Abschiedsstimmung nur vorübergehend zu vertreiben. Am Nachmittag musste ich zurück ins Heim und durfte erst zwei, drei Wochen später wieder nach Hause kommen. Erst viele Jahre später machte mir das nichts mehr aus. Damals, an jenem Sonntag, hätte ich alles gegeben, um nicht wieder von zuhause fort zu müssen. Mir ging durch den Kopf, dass ich mich verstecken könnte. Doch das ist im Rollstuhl gar nicht so einfach. Oder ich könnte weggehen, für immer weggehen – von zuhause, vom Heim, vom Sonntag, von allem. Doch auch das schien mir aussichtslos.

Als wir alle am Tisch sassen, meine drei Geschwister, die Eltern und ich, verflogen diese düsteren Gedanken wieder, machten dem Kinderalltag Platz. Ich glaube, wir spielten nach dem Essen auf dem Wohnzimmerboden Halma oder Elferraus. Möglich, dass die Schwester, die älteste von uns Kindern, sich bald in ihr Zimmer zurückzog. Denn ihre Brüderchen waren ihr alle ein bisschen zu klein – und zu kindisch. In der Küche wurde bereits das Mittagessen vorbereitet. Es gab Hähnchen mit Pommes Frites und gedämpfte Tomaten. Als Mutter das Hähnchen im heissen Fett anbriet, zischte es laut aus der Küche. Regelmässig holte sie sich dabei durch einzelne Spritzer leichte Verbrennungen an Händen und Oberarmen. Oft half Vater am Sonntag in der Küche. Abwaschen war sein Spezialgebiet. Mit unglaublichem Eifer polierte er jeweils am Schluss den Chromstahl des Waschbeckens und der Kombination, dass wir daran zweifelten, ob wir die Küche je wieder betreten durften.

Nach dem Mittagessen rückte der Abschied in bedrohliche Nähe. Zwar ging es erst etwa um 15 Uhr los. Aber die Zeit bis dann war verlorene Zeit – Zeit, die unerbittlich vorrückte und nicht mehr die Kraft hatte, das Unausweichliche vergessen zu machen. Zu packen gab es nur wenig, vielleicht ein paar frisch gewaschene Kleider und ein Mitbringsel, das mich im Rossfeld an zuhause erinnern sollte. Die restliche Familie stand oft draussen, als Vater und ich uns auf den Weg machten. Der eine oder die andere verdrückte eine Träne, zumindest die ersten Jahre. Die Fahrt mit dem Auto dauerte jeweils eineinhalb bis zwei Stunden. Bis zum Passwang – damals gab es im Baselbiet noch keine Autobahn – bewegten wir uns in heimatlichen Gefilden. Die Fremde begann erst in Balsthal, wo wir dann bald auf die Autobahn kamen.

Oft fuhren wir schweigend, Vater und ich: Vater, weil er gerne schwieg beim Autofahren, vielleicht konnte er sich so besser konzentrieren; ich, weil ich bedrückt war. Die letzte Strecke zwischen dem Jura und Bern liessen wir viel zu schnell hinter uns, und bald waren wir vor der gläsernen Porte des Schulheims Rossfeld.

Wenn es bloss andere Kinder gehabt hätte! Wenn es bloss nicht so still und dunkel gewesen wäre. Vater brachte mich durch den langen, einsamen Gang «auf die Familie», wo ich von der Familienmutter in Empfang genommen wurde. Vater verabschiedete sich eher förmlich als herzlich. Und als er gegangen war, überkam mich eine bodenlose Verlassenheit, eine untröstliche Einsamkeit, die, solange die Familienmutter im Raum war, zu Stummheit gerann. War ich später allein im Zimmer, weinte ich.

Seitdem und bis heute ist der Sonntag der traurigste Tag der Woche, besonders nachmittags und abends. Er schmeckt nach der grauen Watte des Abschieds von dem, was mir am liebsten ist. Er schmeckt nach Trauer, Melancholie, nach schwarzer Galle.

Abschied

Liebe Leserinnen, liebe Leser, liebe Freunde und Bekannte

Ich habe mich entschlossen, das Bloggen sein zu lassen – zumindest vorläufig und bis auf weiteres. Nicht dass mir die Themen ausgingen. Im Gegenteil! Sie springen mich förmlich von allen Seiten an. Und ich könnte immerzu weiterfahren mit Kommentaren zum Zeitgeschehen, mit Tagebucheinträgen, mit Sprachsplittern. Das Bloggen ist eine spannende Sache und hat meinem Schreiben Flügel verliehen. Immerhin sind in den letzten gut drei Jahren gegen 250 Texte entstanden, die bald 100’000 Klicks und über 600 Kommentare ausgelöst haben.

Doch ich merke, dass da noch mehr und anderes in mir schlummert, das sprachlich zum Ausdruck kommen möchte. Und diesem Mehr, diesem Anderen soll mit diesem Schritt Raum geschaffen werden. Denn das Bloggen entwickelt – zumindest bei mir – auch einen gewissen Sog, eine bestimmte Dynamik, etwa in Richtung schnelle, vielleicht manchmal auch übereilte Texte. Oder man schielt bei der Auswahl der Themen und der Art und Weise, wie man diese behandelt, auf die Zahl der potentiellen Klicks, die der Text auslösen könnte. Poesie hat es da schwer, politisch knackige Texte hingegen klicken sich leichter. Gleichzeitig ist das Bloggen sehr zeitaufwendig. Denn man ist ja nicht alleine im Blog-All. Und als Blogger möchte man am Puls der Blog-Welt sein. Da tut sich ein offenes Feld auf, auf dem man sich auch leicht verlieren kann.

Und noch etwas erfüllt mich beim Bloggen nicht ganz: So gross und unglaublich vielfältig das Blog-All ist, es ist Teil des virtuellen Raums. Und diesen Raum empfinde ich nach wie vor als nicht ganz wirklich. Er ist ein Paralleluniversum zur Wirklichkeit und spiegelt diese unglaublich facettenreich. – Aber er ist nicht ganz Wirklichkeit. So zumindest meine Empfindung. Drum versuche ich nun den Sprung zurück in die Wirklichkeit. Ein Experiment mit offenem Ausgang …

Ich werde nicht verstummen. Vielleicht werde ich auf meine alten Tage noch ein berühmter Schriftsteller – obwohl, die Zeit der berühmten Schriftsteller (der berühmten, nicht der kommerziell erfolgreichen) scheint mir abgelaufen –, oder man findet nach meinem Tod eine Truhe voller sprachlicher Perlen, voller Gold und Tand und sieht sich gezwungen, einen Nachlassverwalter einzusetzen.

Nun denn: Bis demnächst in einem anderen Theater!

Walter B

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Bild «Goodbye» von Magic Madzik via Flickr (CC-Lizenz)