Alfonsina und das Meer

AlfosinaStorniAlfonsina Storni (1892 – 1938), argentinische Journalistin, Schriftstellerin und Poetin mit Schweizer Wurzeln, war ihrer Zeit weit voraus. Schon von früh an wehrte sie sich «gegen hergebrachte Stereotypen des Weiblichen als des ‹sanften, unterwürfigen Elements›» (Wikipedia) und führte von jung an ein nonkonformistisches und selbstbestimmtes Leben. Heute würde man sie eine Feministin nennen. Im Argentinien jener Zeit war dies eine grosse Herausforderung an die Männerwelt, zumal ihre Gedichte immer mehr Anklang fanden. Als ledige Mutter flüchtete sie vor Ausgrenzung und Diffamierung nach Buenos Aires, wo sie sich und ihren Sohn mit unterschiedlichsten Arbeiten über Wasser hielt: Sie war unter anderem Kassiererin in einer Apotheke und Korrespondentin einer Handelsfirma. Wann immer möglich schrieb sie Gedichte, weil Schreiben für sie lebensnotwendig war.

Trotz der vielen literarischen Preise und der Berühmtheit, die sie mit der Zeit erlangte, blieb sie ihrem eigenen Kosmos treu: eine eigenwillige, rätselhafte Frau und Dichterin bis heute. Vollends zur Legende in Lateinamerika wurde sie durch ihren Freitod in den Wellen des Atlantiks bei Mar del Plata.

Davon zeugt das bekannten Lied «Alfonsina y el Mar» von Ariel Ramirez (Musik) und Felix Luna (Text). Mercedes Sosa machte dieses Lied und somit die mutige und traurige Lebensgeschichte Alfonsina Stornis weltberühmt. Es gibt aber eine Vielzahl von Vertonungen, von folkloristisch bis jazzig.

Zunächst die Übersetzung des Liedtextes von meiner Hand:

Auf dem weichen Sand, beleckt vom Meer,
verliert sich die Spur ihrer kleinen Füsse.
Ein einsamer Pfad in Schmerz und Stille führte
bis zum tiefen Wasser.
Ein einsamer Pfad in stummem Kummer führte
bis zur Gischt.

Weiss Gott, welch‘ Ängste dich begleiteten,
welch alter Schmerz deine Stimme zerbrach,
um dich beim Gesang der Meeresmuscheln
in den Schlaf zu wiegen,
beim Lied der Muscheln
in der dunklen Tiefe des Meeres.

In deiner Einsamkeit gehst du hin, Alfonsina.
Welch‘ neue Verse gingst du suchen?
Eine alte Stimme von Wind und Salz
umschmeichelt deine Seele und nimmt sie mit sich.
Du gehst hin, wie in Träumen, Alfonsina,
schlafend und vom Meer umhüllt.

Fünf Meerjungfern werden dich
über Wege von Seetang und Korallen geleiten.
Und schillernde Seepferdchen
werden dich umschwärmen.
Und bald werden die Wasserwesen
an deiner Seite spielen.

Dämpfe mir das Licht etwas.
Lass mich in Ruhe schlafen, Amme.
Und wenn er mich ruft, sag nicht dass ich da bin,
sag ihm, dass Alfonsina nicht zurückkehrt.
Und wenn er mich ruft, sagt nie, dass ich da bin.
Sag, dass ich gegangen bin.

In deiner Einsamkeit gehst du hin, Alfonsina.
Welch‘ neue Verse gingst du suchen?
Eine alte Stimme von Wind und Salz
umschmeichelt deine Seele und nimmt sie mit sich.
Du gehst hin, wie in Träumen, Alfonsina,
schlafend und vom Meer umhüllt.

Hier eine wunderschön dramatische Vertonung von Jairo und Lito Vitale: [Read more…]

Ernesto «Paco» Echagüe: Weltenwanderer und Grenzgänger

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Es ist vollendet, dein Leben – endlich vollbracht. Deine letzten Jahre hast du in der Gosse von Mendoza, Argentinien, gedarbt, deine letzten Monate im Spital daselbst. Am Schluss hat dich der Krebs besiegt. Doch womöglich kümmerte dich das ebensowenig wie dein erbärmliches Leben in den Strassen von Mendoza. Radikal hast du dich dem natürlichen Lauf des Schicksals hingegeben. Radikal hast du dich dem «guten Leben» verweigert, warst ganz unten – und das nicht erst am Schluss.

Dieses «Ganz unten» hat dich ein Leben lang angezogen. Schon als Jugendlicher hast du – will man den Erzählungen glauben – in der Gosse gelebt: Als Sohn eines argentinischen Diplomaten in Kinshasa, damals noch Zaire, bist du von zuhause ausgerissen, hast aus Hunger gestohlen, dir aus Tabakresten aufgesammelter Stummel Zigaretten gedreht. Und hast einen Scheck, der dir dein Vater zukommen liess, empört zerrissen. Es ist, wie wenn sich am Schluss deines Lebens die Jugendzeit gespiegelt hätte. Bloss war da kein Vater mehr, der dir einen Scheck hätte zukommen lassen. Hättest du ihn wieder zurückgewiesen?

Was mag dich an diesem «Ganz unten» angezogen haben? War es das Gegenbild zum «Ganz oben», zu deiner Herkunft als Sohn eines Diplomaten? War es das ärmliche, schnörkellose Leben als Grossstadt-Gaucho? War es schlicht die Verweigerung bis zum Äussersten eines bürgerlichen Lebens? Oder war es Unvermögen, dich oben zu halten, oder in der Mitte – irgendwo anders eben als ganz unten?

Und dabei hat es dir am Vornehmen nicht gefehlt, nicht in deinem Äusseren, nicht in deinem Innern, Don Paco. Als stattlicher, welterfahrener junger Mann hat es dich in die Schweiz gespült, wo du geheiratet hast und Vater von zwei Kindern wurdest. Bald beengte dich das Leben hier, und es fror dich. Du passtest einfach nicht hierher und wolltest auch nicht hierher passen. Die Schweizer Enge war dir ungewohnt, die biedere Rechtschaffenheit zu klein. Den Rest besorgte der Alkohol: Deine abgrundtiefe Herzensgüte wurde zur Empfindlichkeit, der man nichts recht machen konnte. Dein Genie wurde zum Wahn, deine Freunschaft zur Last, deine Fabulierlust zum Delirium.

Doch wo viel Schatten, ist auch viel Licht: Dein grundehrliches Zugewandtsein etwa: Ein Glücklicher, wer so wie ich dein Freund sein durfte! Dein Herz war offen wie ein Scheunentor – wie das eines naiven, treuherzigen und wehrlosen Kindes.

Dann wieder erzähltest du von deinem früheren Leben als Weltenwanderer. Manchmal schien es mir fast ein bisschen zu abenteuerlich. Und all deine Sprachen! Hebräisch, Brasilianisch, Französisch, Englisch, Deutsch, Schwiizerdütsch – all dies sprachst du leidlich bis perfekt, und natürlich Spanisch und Argentinisch, was nicht dasselbe ist. Du hättest, zumindest von den Sprachen her, einen guten Diplomaten abgegeben. Stattdessen lebtest du ganz unten, am anderen Ende der Skala.

Wenn ich an dich denke, so kommt mir das Bild eines tiefen Sodbrunnens. Da ist zunächst nur ein schwarzes Loch, eine dunkle Tiefe. Und zuunterst ein kleines Licht, das man zunächst kaum wahrnimmt. Doch je mehr man sich an die Dunkelheit gewöhnt, umso heller wird auch dieses Licht. Und heute ist es hauptsächlich das Licht, das in Erinnerung bleibt. Die Dunkelheit deines Lebens – wenn es für dich wirklich dunkel war, dein Leben – erzeugt bei mir auch so etwas wie Bewunderung: für deine radikale, womöglich selbstlose Absage an das gute, behagliche Leben.

Sapo cancionero – Die singende Kröte

Du, singende Kröte der Nacht,
die du am Ufer deines Teichs sitzest und träumst.
Skurriler Tenor des Tümpels,
du bist trunken vor Liebe zum Mond.
Skurriler Tenor des Tümpels,
du bist trunken vor Liebe zum Mond.

Ich kenne dein Leben, fern jeglicher Glorie,
ich weiss von der Tragödie deiner unruhigen Seele.
Ich weiss auch, wie wahnsinnig du dem Mond huldigst,
ein Wahnsinn, der alle Poeten befällt.
Ich weiss auch, wie wahnsinnig du dem Mond huldigst,
ein Wahnsinn, der alle Poeten befällt.

Sängerkröte, du singst dein traurig Lied
vom trostlosen Leben,
das nur dank einer Illusion lebbar ist.
Du singst vom trostlosen Leben,
das nur dank einer Illusion lebbar ist.

Du bist hässlich und entstellt. Und du weisst es.
Deshalb versteckst du dich tagsüber.
Und nachst singst du dir die Melancholie vom Leibe.
Und dein Gesang klingt wie eine endlose Klage.
Und nachst singst du dir die Melancholie vom Leibe.
Und dein Gesang klingt wie eine endlose Klage.

Deine eigensinnige Stimme widerhallt unermüdlich.
Deine Verse sind ebenso nutzlos, wie sie schön sind.
Vielleicht weisst du ja nicht, wie kalt der Mond ist,
denn er gab sein ganzes Blut den Sternen.
Vielleicht weisst du ja nicht, wie kalt der Mond ist,
denn er gab sein ganzes Blut den Sternen.

Sängerkröte, du singst dein traurig Lied
vom trostlosen Leben,
das nur dank einer Illusion lebbar ist.
Du singst vom trostlosen Leben,
das nur dank einer Illusion lebbar ist.

***

Sapo cancionero

Sapo de la noche, sapo cancionero
que vives soñando junto a tu laguna.
Tenor de los charcos, grotesco trovero,
que estas embrujado de amor por la luna,
Tenor de los charcos, grotesco trovero,
que estas embrujado de amor por la luna.

Yo se de tu vida, sin gloria ninguna,
se de la tragedia de tu alma inquieta.
y esa tu locura de adorar la luna,
que es locura eterna de todo poeta.
y esa tu locura de adorar la luna,
que es locura eterna de todo poeta.

Sapo cancionero, canta tu canción,
que la vida es triste
si no la vivimos con una ilusión.
que la vida es triste
si no la vivimos con una ilusión.

Tu te sabes feo, feo y contrahecho
por eso de día tu fealdad ocultas,
y de noche cantas tu melancolía
y suena tu canto como letanía.
y de noche cantas tu melancolía
y suena tu canto como letanía

Replican tus voces, en franca porfía,
tus coplas son vanas como son tan bellas.
¿No sabes acaso que la luna es fría,
porque dio su sangre para las estrellas?
¿No sabes acaso que la luna es fría,
porque dio su sangre para las estrellas?

Sapo cancionero, canta tu canción,
que la vida es triste
si no la vivimos con una ilusión.
que la vida es triste
si no la vivimos con una ilusión.

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Ein wunderbares argentinisches Volkslied voller Schmerz und Traurigkeit – und voller Leidenschaft, wie es so typisch ist für argentinische Volkslieder. Manchen ist die Melancholie und Leidenschaft etwas zu dick aufgetragen …

Text: Jorge Chagra, Musik: Nicolás Toledo.

Eine recht unverfälschte Vertonungen seht ihr hier:

Das Bild ganz oben stammt von Marrakech99 (via Flickr) und steht unter einer cc-Lizenz.