Der dritte Tag in Berlin. So richtig warm werde ich nicht mit dieser Stadt. Obschon: Hier in Neukölln an der Herbrichtstrasse, wo ich im Hüttenpalast übernachte, einem kleinen, nicht allzu teuren Hotel, gibt es viele junge Menschen, StudentInnen, AussteigerInnen, BerufsaktivistInnen und nicht weniger AusländerInnen. Das ganze Quartier – ja, was ich bis jetzt gesehen habe, die ganze Stadt – ist mit Sprayereien übersät. Die Gegend wirkt leicht heruntergekommenen, jedenfalls wenn man den Anblick von Schweizer Städten gewohnt ist, hat aber einen durchaus sympathischen, menschenfreundlichen und freilassenden Charme. Es ist jener Charme, der Platz lässt, im Kleinen ein etwas anderes, sogenannt alternatives Leben zu führen, als das was einem die Gesellschaft ungefragt, aber mit aller Kraft anempfiehlt. Entsprechend viele kleine Läden, Kinderhorte, Kleinstunternehmungen, Bücherläden, Quartiersekretariate und soziale Anlaufstellen sind hier anzutreffen. Und es gibt viele, viele Kneipen – nicht bloss an jeder Ecke, auch dazwischen hat es Platz für zwei, drei dieser kleinen Lokale, wo tagsüber jeweils nur einzelne Leute sitzen, von denen man nicht sicher weiss, ob es Gäste sind oder die Besitzer selbst. Abends und nachts füllen sich die Kneipen mit Geselligkeit und Trinkerlaune. Abends breitet sich übers Quartier eine schöne, nicht allzu plakative Lebendigkeit, die man durchaus behaglich nennen kann.
Trotzdem werde ich nicht wirklich warm mit Berlin. Vielleicht ist es der Nieselregen, die verhaltene Temperatur, die zwanzig Grad kaum übersteigt, vielleicht ist es auch das Bewusstsein, dass gegenwärtig von Berlin aus Europa-, ja, Weltpolitik gemacht wird, die nichts Gutes verheisst: Die EU und die mit ihr verflochtene Finanzindustrie hat die linken, ungehorsamen Griechen – zumindest ihre Syriza-Regierung – zur Vernunft gezwungen, so dass nach aussen die europäische Einheit gewahrt bleibt, ein Grexit zunächst vom Tisch ist, aber gleichzeitig die inneren, sozialen Verwerfungen zunehmen werden, nicht nur in Griechenland. Und eine treibende Kraft ist Frau Merkel, die vom Berliner Kanzleramt aus, ein paar U-Bahn-Kilometer von meiner Unterkunft entfernt, die Geschicke Europas massgeblich prägt.
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