Fünf Fragen zur europäischen Schuldenkrise

Der spanische Journalist Ignacio Escolar stellt auf seinem Blog Escolar.net fünf eher rhetorische, aber durchaus entblössende Fragen, die ich meinen LeserInnen nicht vorenthalten möchte:

  1. Was für eine belanglose Union stellt Europa dar, wenn es nicht fähig ist, eine Krise zu meistern, die durch die Rettung eines so kleinen Landes wie Griechenland ausgelöst wurde, einem Land, das lediglich zwei Prozent zum EU-weiten Bruttoinlandsprodukt beiträgt?
  2. Warum werden für die Rettung der griechischen Bürger (mit Darlehen von 110 Milliarden Euro) so harsche Bedingungen gestellt, während anderseits die Rettungsmassnahmen für die europäischen Banquiers bedingungslos waren (311,4 Milliarden Euro als direkte Kapitalspritzen, insgesamt 3,7 Billionen Euro, wenn man Bürgschaften, Darlehen und andere Hilfen dazuzählt)? Warum verlangte man für den fahrlässigen Finanzsektor kaum «strukturelle Reformen»?
  3. Welche Beweise brauchen wir noch – nach fast drei Jahren Opfergang, um die Märkte zu «beruhigen», erfolglos notabene –, um einzusehen, dass diese magersüchtige Austeritätspolitik [Sparpolitik] nicht funktioniert? Wenn das Grundproblem die Angst der Investoren vor einem Zahlungsausfall wegen fehlenden Wachstums ist: Wie kann die Lösung dafür in einer Politik liegen, welche die öffentlichen Ausgaben einfriert und in der Folge die wirtschaftliche Erholung abwürgt?
  4. Wie viele «schwarze Montage» brauchen wir noch, bis sich Angela Merkels Hand lockert und der EU sowie der Europäischen Zentralbank ermöglicht, die Spekulanten zu bändigen? Braucht es zwei neue Weltkriege und eine weitere grosse Depression, um die europäische Solidarität zurückzugewinnen?
  5. Wenn, wie die PP [Partido Popular, Volkspartei] sagt, die Schuldenkrise ganz einfach zu lösen sei, indem die Wahlen vorgezogen werden und die Regierung hinausgeschmissen wird: Warum ist dann Portugal, das vor zwei Monaten vorgezogene Wahlen abgehalten und eine sozialistische Regierung durch eine rechte ersetzt hat, inzwischen mit seinen Anleihen auf Ramschniveau angelangt? Und hat Zapatero (oder Rubalcaba) auch Schuld an der Situation in Italien?

Wer überprüfen möchte, ob ich richtig übersetzt habe, findet hier das Original des Beitrags.

IWF-Studie: Kluft zwischen Arm und Reich schuld an der Krise

Ausgerechnet eine IWF-Studie weist auf die fatale Wirkung der ungleichen Einkommensverteilung hin – und empfiehlt unerhörte Rezepte. – Ein völlig subjektiver Bericht.

Den Glauben an die Wirtschaftswissenschaft als Wissenschaft hatte ich bereits aufgegeben. Zu sehr schien mir die Ökonomie von Ideologie geprägt. Zu unsensibel, ja, oft genug geradezu immun war und ist sie gegenüber der Lebensrealität der meisten Menschen. Schön hat das Kai Wright in Le Monde diplomatique vom November 2010 ausgedrückt: „Es mag ja sein, dass die Wirtschaft ‚wächst‘, aber dieses Wachstum ist falsch und betrifft die wirklichen Menschen nur insofern, als es sich auf ihre Kosten vollzieht.“

Die Mechanik der Krise
Ich habe deshalb meinen Ohren nicht getraut, als ich von einer Studie ausgerechnet aus der IWF-Küche vernahm, welche die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich als Ursache für die aktuelle Wirtschaftskrise ansieht. Auch im Vorfeld der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahrer wurde das Ungleichgewicht der Einkommen so extrem, dass es zum Zusammenbruch kam. Der Mechanismus ist in etwa der folgende: Während die Wenigverdienenden sich verschulden müssen, damit sie ihren – oft schon prekären – Lebensstandard in etwa halten können, haben die Besserverdienenden zunehmend „überschüssiges“ Geld, das möglichst gewinnbringend angelegt werden will. Unter dem Druck von beiden Seiten, den Ärmsten wie den Reichsten – gut, vielleicht hauptsächlich unter dem Druck der Reichsten –, werden unrealistische Kreditbedingungen geschaffen, zum Beispiel auf dem Hypothekenmarkt, aber nicht nur dort, Bedingungen, die den Geldkreislaufmotor zwar brummen lassen – allerdings nicht auf realwirtschaftlicher Grundlage, sondern auf Pump. Es sind Kredite, die zwar leicht zu haben sind – was zunächst die Wenigverdienenden freut –, die aber wegen des Risikos ganz schön teuer sind – zur Freude wiederum der Geldgeber und Investoren. In einem solch windigen Umfeld genügt eine unvorhergesehene Entwicklung, zum Beispiel dass die Immobilienpreise nicht wie gewohnt weiterwachsen, um das wacklige Gebäude einstürzen zu lassen. So geschehen in den USA zu Beginn der Krise im Jahr 2007. So geschehen auch im Jahr 1929, zu Beginn der grossen Depression der 1930er Jahre.

Gegensteuer durch Umverteilungspolitik
Vollends gestaunt habe ich, als ich die Schlussfolgerungen von Romain Rancière, einem der Verfasser der Studie, hörte (in einem Beitrag des Echo der Zeit von Radio DRS). Er empfahl der Politik, darauf hin zu wirken, dass die Einkommen der Angestellten erhöht würden, damit sie ihre Schulden abbauen könnten. Die Gewerkschaften müssten zu diesem Zweck gestärkt werden. Ferner liesse sich durch eine angepasste Steuerpolitik das Ungleichgewicht der Einkommen mässigen. Stichworte dazu: Löhne steuerlich entlasten, dafür höhere Steuern auf Einkommen durch Besitz von Boden von von natürlichen Ressourcen – oder auf Einkommen im Finanzsektor. Eine solche Umverteilungspolitik käme die Volkswirtschaft wesentlich günstiger zu stehen als Rettungspakete und Umschuldungen.

Natürlich wusste ich schon vorher, dass es in der Wirtschaftswissenschaft nicht nur Ideologen, sondern auch echte, unvoreingenommene Forscher gibt. Trotzdem ist das Ansehen der Gilde vor meinen Augen deutlich gestiegen. – Und vielleicht ist auch beim IWF noch nicht aller Tage Abend. Man wird ja wohl noch träumen dürfen.

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Weiterführende Links:

Wachstum ≠ Fortschritt

Endlich wird von höchster Stelle bestätigt, was vielen schon lange schwant und manchen Gewissheit ist: Fortschritte bei der menschlichen Entwicklung sind auch ohne rasches Wirtschaftswachstum möglich – und starkes Wachstum führt nicht unbedingt zu besseren Entwicklungsbedingungen für die Menschen. Dies macht der neueste Bericht der Vereinten Nationen zur menschlichen Entwicklung klar: „Eines der überraschendsten Ergebnisse der Forschung zu menschlicher Entwicklung in jüngster Zeit ist die fehlende signifikante Korrelation zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Verbesserungen im Gesundheits- und Bildungsbereich.“[1]

Auch demokratische Teilhabe und gerechte Verteilung sind ohne grosses Wirtschaftswachstum möglich, und die grössten Entwicklungsfortschritte geschehen mitunter in Ländern ohne rasantem Wirtschaftswachstum, zum Beispiel in Nepal und Tunesien, wobei Entwicklung anhand des Human Development Index (HDI) abgebildet wird, der die Lebensqualität des Menschen umfassender wiedergibt als etwa das Bruttoinlandprodukt, das zum Beispiel die Weltbank beim Ländervergleich verwendet.

Der Human Development Index widerspiegelt neben wirtschaftlichen Faktoren auch solche der Lebenserwartung und des Bildungsgrades. Neu sollen auch Ungleichheiten in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Einkommen in den Index einfliessen, denn Durchschnittswerte sind gerade in diesen Zeiten der sich öffnenden Einkommensschere oft trügerisch.

Womöglich trägt die Entzauberung des Wirtschaftswachstums als Entwicklungsmotor dazu bei, vermehrt den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, gerade im Wirtschaftlichen, was ja durchaus ein Gebot der Logik und der Vernunft wäre.

Man wird ja wohl noch träumen dürfen …


Fussnote:

[1] Kurzfassung des Human Development Report in deutscher Übersetzung, S. 14. (PDF, 3,5 MB)

Weiterführende Links:

Wirtschaftswachstum: Dogma und Wahn

Es gilt als Allerheilmittel, als oberstes Gebot und ist Rechtfertigung für einen weitgehenden Umbau der Gesellschaften in der ganzen Welt. Längst hat  das wirtschaftliche Wachstum den Status eines Dogmas erhalten. Und wer dessen Vorrang in Frage stellt, gilt als Ketzer. Doch kann das heutige Konzept des Wachstums um jeden Preis sein Versprechen auch halten? Eine Spurensuche.

Dem Wirtschaftswachstum wird inzwischen so viel natürliche und kulturelle Substanz geopfert, dass die Frage nach Sinn und Berechtigung grundsätzlich gestellt werden muss. Wohin führt es uns? Wem hilft es? Welche Entwicklungen begleiten es? Was wächst in seinem Schatten? Einige Antworten seien hier zusammengetragen.

Wachsende Rücksichtslosigkeit

Es steigt die Zahl der Millonäre und der Milliardäre – und gleichzeitig wird die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben müssen, nicht wesentlich verringert. Laut Fokus Money online besass im Jahr 2006 das reichste Prozent der Weltbevölkerung – das sind 37 Millionen Erwachsene – 40 Prozent des weltweiten Vermögens. Zahlen, die zwar nicht im Detail, aber vom Trend her weitherum bekannt sind. Laut dem Bericht der UNO des Jahres 2009 zu den Millenniums-Entwicklungszielen sind keine grossen Fortschritte bei der Bekämpfung der extremen Armut zu erwarten. Im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise 2008 „… wird geschätzt, dass 2009 zwischen 55 und 90 Millionen Menschen zusätzlich in die extreme Armut getrieben werden.“[1] Diese Zahlenbeispiele zeigen – und es liessen sich viele weitere finden –, dass zumindest das Versprechen, das wirtschaftliche Wachstum sei zum Wohle aller, nicht stimmen kann. Die Trickle-down-Theorie, wonach entstehender Reichtum und Wohlstand automatisch durch die unteren und bis zu den ärmsten Schichten sickern (trickle down), ist durch die Wirklichkeit widerlegt.

Wachsende Arbeitslosigkeit

Auch das Versprechen der sinkenden Arbeitslosigkeit im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Aufschwung überzeugt wenig. Es sind hauptsächlich die prekären, zeitlich begrenzten Arbeitsverhältnisse, die immer mehr die Festanstellungen ersetzen. Zahlen erübrigen sich hier. Wir erfahren es täglich in unserem Umfeld. Die Automatisierung und Produktivitätssteigerung wird die Arbeitslosenrate in viel schnellerem Masse wachsen lassen, als sie je durch das Wirtschaftswachstum wird kompensiert werden können.[2]

Wachsende Zukunftslosigkeit

Die zerstörerischen Auswirkungen des Wachstums auf die Umwelt sind allgemein bekannt und weitgehend unbestritten. Von einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum, das nicht die Grundlagen der kommenden Generationen schädigt und verbraucht, sind wir meilenweit entfernt. Ökologisch und in Bezug auf unsere Zukunftshoffnungen ist das Wirtschaftswachstum, wie es heute propagiert und angestrebt wird, eine Katastrophe. Die Lebensgrundlage wird der ganzen Menschheit zunehmend entzogen.

Wachsende Entwurzelung

Das Wachstum nach dem Geschmack der wirtschaftlichen und politischen Eliten entzieht vielen Menschen – hauptsächlich in den Entwicklungsländern – schon heute die Lebensgrundlagen, z.B. in der Landwirtschaft. Historisch gewachsene und funktionierende Kulturen verfallen im Zuge der einseitigen und blinden Wachstumsmaxime, was Millionen Menschen entwurzelt und Migrationsströme entlang des Wohlstandsgefälles Richtung Städte und Richtung reiche Länder auslöst. Egoismus, Materialismus und Konkurrenzdenken verdrängen erfolgreich die Idee der Gemeinschaft, der Zusammenarbeit und Solidarität in allen Gesellschaften rund um den Erdball.

Wachsende Sprachlosigkeit

Das wirtschaftliche Wachstum der Gegenwart raubt den Menschen die Sprache. Menschenrechte und Demokratie sind nicht Bestandteil dieses Wachstumskonzepts. Vielmehr hebelt es demokratische Prozesse aus, indem z.B. übernationale Konzerne und Organisationen wie der IWF (Internationaler Währungsfonds) oder die WTO (Welthandelsorganisation) demokratisch gewählte Regierungsbeamte zu Geiseln ihrer Bestrebungen machen. Sprach- und Perspektivelosigkeit herrscht auch unter den einzelnen Menschen, die entweder im Hamsterrad der wirtschaftlichen Prosperität verstummen oder als Arbeislose in der Versenkung verschwinden.

Wachsende Sinnlosigkeit

Das wirtschaftliche Wachstum als Selbstzweck macht die Menschen zu Sklaven einer Ideologie, deren Versprechen sich mehr und mehr als Mythen erweisen. Es untergräbt nicht nur die regionalen wirtschaftlichen Grundlage, sondern auch das seelisch-geistige Fundament der einzelnen Menschen. Hoffnung, Sinn und Kreativität gehen verloren oder werden in rein materielle Bahnen gelenkt. Der Mensch wird zum konsumierenden Automaten, was ein grober Missbrauch seines Wesens ist.

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Es ist keine Frage, vielmehr ein Gebot der Menschlichkeit – und der Logik –, dass dort, wo wirtschaftlicher Mangel herrscht, sehr wohl Wachstum stattfinden muss. Tatsache ist indessen, dass gerade dort – bei den Ärmsten – die Früchte des Wachstums nicht ankommen. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen sind nicht entsprechend ausgebildet. Vielmehr sind sie heute so beschaffen, dass Wirtschaftswachstum gerade dort wieder nur einige wenige reich macht und ausbeuterische Verhältnisse zementiert.

Krebsartiges Wachstum

Stellt man bei einem lebenden Organismus ein solch sinnloses Wachstum fest, das gewachsene Strukturen zerstört und die Lebensgrundlage des ganzen Organismus gefährdet, bezeichnet man das als Krebs. Die Wucherungen stellen sich als überschiessende Lebenskraft dar – und sind doch zerstörerisch. Das Wirtschaftswachstum der heutigen Machart muss als krebsartiges Wachstum bezeichnet werden. Eine Therapie ist dringend angezeigt.


Fussnoten:

[1] Siehe Kurzbericht 2009 zu den Milleniums-Entwicklungszielen, S. 1. (PDF – 57 KB)
[2] Siehe zum Thema „Arbeit und Einkommen“ auch meinen Artikel Ketzerische Fragen zum Begriff der Arbeit.

Weiterführende Links:

  • Umfangreiche und hervorragende Textsammlung zu Wachstumskritik und Alternativen auf Attac.de
  • Texte aus Nicanor Perlas Buch „Die Globalisierung gestalten – Zivilgesellschaft, Kulturkraft und Dreigliederung“, dessen Lektüre mich zu diesem Artikel inspiriert hat.