Europas Bauern in der Sackgasse

Die aktuellen Bauernproteste sind offenbar ansteckend. Seit die niederländischen Bauern letztes Jahr teils gewaltsam protestierten, weil die Behörden den Stickstoffnotstand ausgerufen hatten und den Viehbestand in Hollands Ställen massiv verringern wollten, verbreiten sich die Proteste der Bauern in ganz Europa. Steine des Anstosses sind Umweltauflagen, bürokratische Hürden, Subventionskürzungen und der Zerfall der Produzentenpreise. Wut und Verzweiflung der Bauern münden oft in rohe Gewalt. Was läuft hier falsch? – Der Versuch einer Deutung.

Lange Zeit galt die niederländische Landwirtschaft als modern und zukunftsgerichtet. Ihre Produktivität war unvergleichlich. Zugleich flossen die Subventionen seitens der EU in Strömen, zumindest zu den grössten Betrieben. Der Umbau hin zur unternehmerischen Landwirtschaft, verbunden mit einer Spezialisierung auf wenige Produktionszweige, wurde durch diese Geldströme befeuert. Auf der Strecke blieb die bäuerliche, kleinräumige Landwirtschaft. Sie konnte im Preiskampf nicht mithalten. Viele Kleinbauern waren vor die Wahl gestellt, entweder aufzugeben oder zu expandieren. «Wachse oder weiche», war die Forderung der Zeit. Die bäuerliche Landwirtschaft wurde ab den 1960er Jahren zunehmend an den Rand gedrängt, die unternehmerische bis hin zur industriellen Landwirtschaft immer dominanter, nicht nur in den Niederlanden.

Der Preis dieses industriellen Modells, das grossflächige Bewirtschaftung und einen bedeutenden technischen Aufwand voraussetzt, ist fatal, und zwar für alle Beteiligten: Die Böden verarmen und können nur mit bedeutendem Aufwand an Düngemitteln bewirtschaftet werden. Die grossflächigen Monokulturen sind anfällig für Krankheiten und Schädlinge, was zu massivem Einsatz von Pestiziden führt. Die Umwelt leidet drastisch unter der industriellen Landwirtschaft. Kommt hinzu, dass die Umstellung hin zu diesem landwirtschaftlichen Modell kapitalintensiv ist und zur Abhängigkeit der Bauern von Banken und grossen Agrarkonzernen führt. Ferner hat die Produktivitätssteigerung eine entsprechende Mengenausweitung der Agrarprodukte zur Folge – und damit ihr Preiszerfall.

Die industrielle Landwirtschaft als Fehlentwicklung

Die grossflächige, industrielle Landwirtschaft, lange von Staates wegen gehätschelt und gefördert, stösst an ihre Grenzen und gerät in Konflikt mit den gesellschaftlichen Bestrebungen wie dem Umweltschutz und der Eindämmung der Klimakrise. Die Wirtschaftsweise der Bauern, die heute mit ihren schweren Traktoren die Autobahnen blockieren, wird zum Auslaufmodell. Die industrielle Landwirtschaft ist zeitfremd geworden. Was in den letzten Jahrzehnten mit riesigem finanziellen und technischem Aufwand aufgebaut worden ist, erweist sich nun als Fehlentwicklung.

Kein Wunder, sind die Frustrationen der Bauern gross. Ihr Lebenswerk und ihre wirtschaftliche Existenz stehen auf dem Spiel. Sie fordern ihr «Recht» ein, diesen Pfad, der nun mal eingeschlagen wurde, weiterzuverfolgen. Bei den niederländischen Bauern äussert sich dies zum Beispiel in der Weigerung, ihren Viehbestand zu verringern, obschon die Stickstoffkrise so weit fortgeschritten ist, dass immer mehr Gebiete in den Niederlanden regelrecht sticksoffverseucht sind.

Antidemokratische Proteste

Die protestierenden Bauern – weit über die Niederlanden hinaus – stellen sich als Opfer dar, die der Willkür des Staates ausgeliefert sind und fordern letztlich, ihre Art des Wirtschaftens fortführen zu dürfen, obschon sie den gesellschaftlichen Interessen widerspricht. Die Proteste tragen somit in sich einen antidemokratischen Kern. Und die Behörden knicken vor der schieren Gewalt der Proteste ein und buchstabieren in Sachen Umweltschutz zurück, statt die Landwirtschaft neu zu denken, damit sie zukunftstauglich wird. Die Erkenntnisse sind vorhanden, Lösungswege längst auf dem Tisch.

Ein Umbau der Landwirtschaft hin zu kleinräumigeren Strukturen ist notwendig. Denn hier liegt das landwirtschaftliche Modell, das zukunftsfähig ist und mit den gesellschaftlichen Bestrebungen hin zum Schutz der Umwelt und des Klimas im Einklang ist. Schon der Weltagrarbericht des Jahres 2008, ausgearbeitet vom Weltagrarrat, der von der Weltbank und den Vereinten Nationen ins Leben gerufen wurde, fordert eine weltweite Förderung der Kleinbauern, um die Hungerkrise zu überwinden und gleichzeitig eine ökologisch Landwirtschaft zu ermöglichen. Die Zukunft gehört den Kleinbauern, nicht den Agrarmultis.


Quellen:

Bildnachweis: German farmers, von conceptphoto.info, CC-Lizenz via flickr.com

Die Operation Mediterranea als politischer Akt

Im Gespräch mit Sandro Mezzadra, einem der Initianten der Operation Mediterranea, deren Seenot-Rettungsschiff Mare Jonio kürzlich von der italienischen Regierung beschlagnahmt worden ist, wird schnell klar, dass für ihn die Rettung von Flüchtlingen vor der libyschen Küste nicht primär humanitären Charakter hat, sondern ein politischer Akt gegen die Kriminalisierung des humanitären Handelns und damit gegen die italienische Regierung ist. Mit ihm gesprochen hat der spanische Aktivist und Buchautor Amador Fernández-Savater. Übersetzung aus dem Spanischen: Walter B.

In der Wirklichkeit Italiens treten die politischen Tendenzen, die in den letzten Jahren in ganz Europa zu beobachten waren, verschärft zutage. Die Wirtschaftskrise, die Unfähigkeit der Linken, mit innovativer Sozialpolitik darauf zu reagieren, der autoritäre Nationalismus als Reaktion auf den Neoliberalismus, der Rassismus von oben und von unten, aber auch neue Widerstandsformen, seitens der Frauen etwa oder im Zusammenhang mit dem Thema Migration, Widerstandsformen die eine neue politische Kreativität erfordern: Wenn wir auf Italien blicken, so sehen wir Europa. Dieselben Hauptlinien werden sichtbar, welche die Gegenwart und die Zukunft prägen.

Mit Sandro Mezzadra haben wir über dieses «italienische Labor» gesprochen. In mehreren Büchern[1] setzt er sich mit der Wirklichkeit von Rassismus und Migration auseinander. Und als politischer Aktivist ist er seit vielen Jahren in unterschiedlichen Bewegungen und politischen Kämpfen aktiv. Kürzlich hat er zusammen mit Gefährten die Operation Mediterranea ins Leben gerufen, eine Plattform für Diskussionen und Aktionen rund um Migrationen, die inzwischen sogar über ein eigenes Schiff für Rettungseinsätze, die Mare Jonio, verfügt.

Amador Fernández-Savater: Sandro, kannst du mir zunächst eine konkrete Erfahrung schildern, die für die politische Situation in Italien aufschlussreich ist?

Sandro Mezzadra: Nun ja, ich bin letzten Sommer wieder nach Italien gezogen, nachdem ich drei Jahre lang weg war. Viel Zeit habe ich in der kleinen Stadt verbracht, in der ich geboren und aufgewachsen bin, eine Stadt an der Küste neben Genua mit einer bedeutenden Industriegeschichte. Als ich Kind war, in den 1970er Jahren, bekam die Kommunistische Partei in dieser Stadt jeweils 75 bis 80 Prozent der Stimmen, und seitdem wurde sie von einer Mitte-Links-Regierung geführt. Jeden Tag habe ich mir etwas Zeit genommen, um an den Strand zu gehen, kein Touristenstrand, sondern einer, der von den Menschen besucht wird, die in der Stadt leben. Das Niveau der Diskussionen dort hat mich erschüttert. Ich bin ja nicht weltfremd. Schon in den 1990er Jahren begann ich, die Kriminalisierung der MigrantInnen anzuprangern. Nun wurde mir allerdings deutlich, dass in den letzten zwei, drei Jahren eine Grenze überschritten worden ist.

Was meinst du damit?

Die Gespräche dort waren auf eindrückliche Art politisiert. Doch es war eine rassistische Politisierung. Die «Flüchtlinge» – nicht einmal die «MigrantInnen» – galten als Feinde: «Sie kommen aus Libyen. Gott sei Dank haben wir eine Regierung, die bereit ist, die Invasion zu stoppen!» Solche Dinge wurden gesagt. Ich weiss nicht, ob in Spanien darüber berichtet wurde, dass in einem belebten Stadtteil von Rom ein Typ mit einem Luftgewehr aus dem Fenster seines Hauses schoss und das zwei Monate alte Mädchen einer MigrantInnenfamilie verletzte. Am nächsten Tag waren am Strand zwei Kerle, die sagten: «Nächstes Mal bitte mit richtigem Blei.» Ist dir klar, wie grausam das ist? Mich hat’s beeindruckt, erschüttert.

Ein Erlebnis, das uns den Rassismus der Strasse vor Augen führt, dessen molekulare Dimension in Italien, im Gegensatz zum institutionellen Rassismus von oben.

Ja! Allerdings endet mein Erlebnis nicht damit. Danach ging ich an einen Strand nebenan. Und dort war es ganz anders: Der Strand war von MigrantInnen bevölkert, es wurden fünf, sechs Sprachen gesprochen, und es war spürbar, dass die MigrantInnen im sozialen Gefüge dieser Stadt verwurzelt sind. Wir haben also auf der einen Seite die Sprache des Hasses, ja der extremen Grausamkeit, und auf der anderen Seite die Normalität der Migration. Mir scheint, dass dieser Strand uns ein sehr verlässliches Bild der politischen Situation Italiens vermittelt: Der Rassismus und der Kampf gegen Migration sind heute in einer Situation entfesselt worden, in der Migration bereits völlig normal geworden ist. Es handelt sich nicht um einen Rassismus, der vertreiben will.

Was für ein Rassismus ist es dann?

Es ist nicht ein Rassismus, der darauf abzielt, alle MigrantInnen aus dem Land zu vertreiben. Denn MigrantInnen sind bereits ein fester Bestandteil dieses Landes. Sie machen etwa acht Prozent der italienischen Bevölkerung aus. Dieser Rassismus ist etwas anderes. Das ist ein Rassismus, der auf die eine oder andere Weise die Bedingungen für eine äusserst aggressive Disziplinierung und Unterwerfung von Männern und Frauen schafft, die bereits ein struktureller Teil des Landes sind.

Was ist in diesen drei Jahren passiert, wie erklärst du diese «Grenzüberschreitung» in Bezug auf den Rassismus?

Rassismus ist nichts Neues. Als Phänomen hat er eine lange Geschichte. Das zu verstehen, ist sehr wichtig. Es würde sehr lange dauern, über die Geschichte dieses aktuellen Rassismus zu sprechen. Um es kurz zu machen: Der Raum, in dem er Gestalt angenommen hat, wurde durch die Unfähigkeit der gemässigten reformistischen Kraft aufgetan – dem Partito Democratico –, der Krise, die Italien sehr hart trifft, etwas entgegenzusetzen. Die Fähigkeit fehlte völlig, angesichts der Krise eine innovative und wirksame Sozialpolitik zu betreiben. Hinzu kommt ein zweiter wichtiger Faktor: Die letzte Mitte-Rechts-Regierung, die Gentiloni-Regierung, hat eine sehr harte Politik gegen MigrantInnen gefahren. Diese Politik hat die Voraussetzungen für Salvinis heutiges Handeln geschaffen.

Wie beurteilst du den Rechtsrutsch, der ja nicht nur Italien, sondern den ganzen Globus erfasst hat? Man denke nur an den Brexit, an Trump, Bolsonaro und andere. Ist das reiner Rechtsextremismus, Faschismus?

Ich glaube nicht, dass ich dir endgültig darauf antworten kann. Ich spreche lieber von «parafaschistischen Tendenzen», in dem Sinne, dass man sich einer Rhetorik bedient, die deutlich faschistische Züge aufweist. Gleichzeitig dünkt mich aber, dass wir nicht von einer Neuauflage des klassischen Faschismus sprechen können.

Salvini bedient sich ausgiebig dieser Rhetorik. Zum Beispiel äusserte er sich am Tag von Mussolinis Geburtstag so: «Tanti nemici, tanti onore.» («Viel Feind, viel Ehr».) Das ist ein Zitat Mussolinis und entspricht der typische Rhetorik des historischen italienischen Faschismus. Hier gibt es eine Zäsur in der Geschichte der Lega Nord. Denn Umberto Bossi, ihr Gründer, betonte immer, dass der Antifaschismus eines der Vermächtnisse der Lega sei. Allerdings kann die Lega heute auch nicht einfach als faschistische Partei betrachtet werden. Sie hat auch andere Züge.

Deshalb ist es für mich sinnvoll, von parafaschistischen Tendenzen zu sprechen. Gleichzeitig glaube ich nicht, dass wir uns heute in einer Situation befinden, in der man etwas Ähnliches wie den historischen Faschismus wiederaufleben lassen kann. Er ist ein Etikett, das auf einer deskriptiven Ebene funktioniert; er ist aber kein Konzept. Wir müssen weiterhin beobachten, den Verstand gebrauchen und natürlich versuchen, gegen die offensichtlichen Bedrohungen vorzugehen, denen wir ausgesetzt sind.

Die Operation Mediterranea als offensiver Akt

Sandro, jetzt möchte ich dich zur Initiative mit dem Schiff befragen. Bitte erkläre uns, wie diese entstanden ist, welche Erfahrungen und Entdeckungen ihr dabei macht und welche Erkenntnisse sich daraus ergeben.

Die Initiative geht auf den Juni 2018 zurück, als Salvini damit begann, die Häfen für die Schiffe von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu schliessen, die MigrantInnen aus Seenot gerettet hatten. Damals kam es im ganzen Land, insbesondere in den Hafenstädten zu Protesten. Zusammen mit Gefährten, mit denen wir viele politische Abenteuer erlebt hatten, fragten wir uns, was wir tun könnten. Wir hatten den Eindruck, dass etwas jenseits des Widerstands nötig sei. Widerstand als etwas rein Negatives verstanden, als eine Reihe von Praktiken, die sich gegen das Vorgehen der Regierung richten. Unsere Frage war: Was können wir tun, um aus dieser simplen Gegenposition herauszukommen? [Read more…]

Paris entblösst uns

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Messerscharf und mit spitzer Feder analysiert der spanische Journalist Ramón Lobo die Lage vor und nach den Anschlägen in Paris und die unglaubwürdige Haltung des Westens im Syrienkonflikt. Er ist sich sicher: «Gesellschaften ohne Gedächtnis können keinen Krieg gewinnen – und den Frieden schon gar nicht.» – Übersetzung: Walter B.

Es gibt drei Antworten auf einen Angriff wie den in Paris. Die erste Antwort kommt aus dem Bauch und wird von Marine Le Pens Front National bereits ins Feld geführt: Moscheen sollen geschlossen, islamische Organisationen verboten werden. Die zweite Antwort besteht darin zu behaupten, wir seien im Krieg, und zu fordern, die Bombardierungen in Syrien seien zu intensivieren, die Toten zu rächen. Die dritte Antwort zielt darauf, die Ursachen zu beseitigen, welche dem radikalen Islamismus zugrunde liegen, und die moderaten Moslems zu stärken sowie die Bildung zu fördern. Es ist möglich, dass keine der drei Antworten hilft, geschweige denn eine alleine. Doch alles der Reihe nach!

Vor einem Selbstmörder kann man sich nicht schützen

So sehr man auch in allen Farben und Stufen Warnungen herausgibt, so sehr man auch unzählige Polizisten und Militärs in die Strassen ausschwärmen und an den Grenzen aufmarschieren lässt: Es gibt keinen wirklichen Schutz vor einem Angreifer, der zu sterben bereit ist. Er hat einen Vorteil auf seiner Seite: Er weiss, dass er töten wird. Sein Ziel ist im Nachteil: Es weiss nicht, dass es sterben wird.

Der klassische Terrorist versucht ein Attentat zu begehen, dann zu fliehen und sein Leben zu retten. Ihm gegenüber ist Abschreckung möglich. Der fanatisierte Attentäter, dem eine himmlische Prämie winkt, versucht einen grösstmöglichen Schaden bei der Zivilbevölkerung zu verursachen. Seine Zielobjekte sind nicht notwendigerweise politisch aufgeladen, zum Beispiel Gebäude mit symbolischer Bedeutung oder Amtsstätten, die sowieso normalerweise besser geschützt sind. Es genügt vielmehr, dass die Objekte leicht zugänglich sind. Opfer kann irgendwer sein, wie etwa im Mai 2013 in London, wo zwei Männer einem Soldaten in Zivil die Kehle durchschnitten.

Trotz allem ist Sicherheit notwendig. Ein Beispiel dafür ist das Stade de France, wo die Zutrittskontrolle einen der Attentäter entdeckte, worauf dieser sich auf der Fluch in die Luft sprengte. Gut möglich, dass die anderen zwei Attentäter, die sich in unmittelbarer Nähe aufhielten, ebenso die Absicht hatten, sich innerhalb des Stadions mit 80’000 Zuschauern in die Luft zu sprengen. Ein Stadion kann man schützen, nicht aber jeden Konzertsaal, nicht jedes Restaurant oder Café in einer Stadt wie Paris.

Verteidigen wir die Demokratie und die Freiheit!

Das ist die meist wiederholte Erklärung der Führer Europas und der Vereinigten Staaten. Das Problem ist nun allerdings, wo wir solch edle Werte denn überhaupt in die Tat umsetzen. Manchmal nicht einmal innerhalb unserer eigenen Landesgrenzen. Siehe zum Beispiel die Ley Mordaza[1]. Und wir übertragen sie schon gar nicht auf jene Länder, wo die Reichtümer herstammen, die erst unsere Art zu leben ermöglichen. Wo es Erdöl in Hülle und Fülle gibt, strategische Erze – und Sklavenarbeit, dort funktionieren diese Prinzipien nicht, weil wir sie durch unsere Interessen ersetzen.

Wenn aber Erklärungen solch pompöser Art fürs Heimpublikum ausgesendet werden, so vergrössert sich dadurch nur die Kluft zu den Welten der Armut, der Ungerechtigkeit, des Hungers, des Machismus und der Ausbeutung, weil es aufzeigt, dass wir nichts verstanden haben und weiterhin auf dem hohen Podest der moralischen Überlegenheit stehen bleiben, einer Überlegenheit, die uns ein Teil der Welt schlicht nicht mehr abkauft.

Was für eine Demokratie haben wir in Ägypten verteidigt, als die Muslimbrüder, welche die Wahlen gewonnen hatten, von der Macht entfernt wurden? Was für eine Freiheit wird in den von Israel besetzten Gebieten verteidigt? Für welche Werte kämpfen wir nach den Terroranschlägen vom 11. Sepember 2001 in all den Geheimgefängnissen, mit den Entführungen und gezielten Tötungen? Was für Prinzipien gaben den Anstoss für die Invasion des Irak, für den Sturz von Gaddafi und den Bürgerkrieg in Syrien? Was für eine Moral kann der Sicherheitsrat für sich beanspruchen, in dem die wichtigsten Waffenexporteure gleichzeitig die ständigen Mitglieder sind und ein Vetorecht innehaben? Wir herrschen. Aber es fehlt uns an Autorität. Und die Herrschaft kann mit Gegengewalt bekämpft werden. Genau dies geschieht jetzt.

Was bombardieren wir in Syrien?

Nach mehr als vier Jahren Krieg, nach 250’000 bis 300’000 Toten und vier Millionen Flüchtlingen fahren wir fort, ohne dass wir wissen, was wir in Syrien überhaupt verteidigen, wer unsere Verbündeten sind und was für Ziele wir haben. Zu Beginn wurde die Freie Syrische Armee unterstützt mit der Hoffnung, sie könne das Regime Baschar al-Assads stürzen. Nie gaben wir ihnen indessen die Waffen und nötigen Mittel, um professionelle Streitkräfte zu besiegen. Angesichts der operativen Unfähigkeit dieser Truppe tauchten andere, immer radikalere Gruppierungen auf wie die Al-Nusra-Front – welche der Al-Qaida huldigt – und die ISIS, aktuel Islamischer Staat (IS) oder Daesh genannt. Einige unserer Freunde am Golf, wie Katar und Saudi-Arabien, waren aktiv an ihrem Aufstieg beteiligt und lieferten Geld und Waffen. Wir könnten dazu auch unser Verteidigungsministerium befragen und die Spuren spanischer Munition nach Riad und bis nach Syrien verfolgen. Niemand ist in dieser Geschichte unschuldig. [Read more…]

Im Auge des Sturms

NOAA 19 northbound 58W at 24 Aug 2015 13:18:18 GMT on 137.10MHz, MSA enhancement, Normal projection, Channel A: 2 (near infrared), Channel B: 4 (thermal infrared)

NOAA 19 northbound 58W at 24 Aug 2015 13:18:18 GMT on 137.10MHz, MSA enhancement, Normal projection, Channel A: 2 (near infrared), Channel B: 4 (thermal infrared)
(Bild: Wanderlinse, CC-Lizenz via flickr)

Dieser Herbst ist ebenso von meteorologischen wie von menschengemachten Stürmen geprägt, von Krieg und Zerstörung im Osten, vom Zerfall ganzer Gesellschaften im Süden. Nichts Neues im Osten und Süden also. Was gehen uns diese Stürme überhaupt an? Hier in Europa? Hier in der Schweiz? – Eine herbstliche Betrachtung und die Frage, wo sich das Auge des Sturms befindet.

Es ist Herbst. Zu dieser Zeit fegt der Wind für gewöhnlich das Laub von den Bäumen und lässt es über Strassen und Plätze tanzen. Doch in der Schweiz ist es ruhig. Ein milder Herbst übt Nachsicht mit uns, vielleicht damit wir vor einem strengen Winter nochmals tief Luft holen können.

Es ist ja nicht so, dass der Herbst 2015 überall Milde walten lässt. Im Gegenteil: Neben den meteorologischen Stürmen – an der Côte d’Azur etwa, in Südengland oder Norddeutschland, den heftigsten seit rund zehn Jahren –, ziehen Stürme ganz anderer Art über Länder und Kontinente und hinterlassen Spuren von Elend und Zerstörung historischen Ausmasses. Die Levante, der östliche Mittelmeerraum ist in qualvoller Auflösung begriffen. Und alle möglichen und unmöglichen «Mitspieler» tragen mit ihrem zynischen «Bomben-Jekami» (Jeder kann mitmachen) dazu bei, dass eine Lösung in weite Ferne rückt. Der Sturm in der Levante (Syrien, Irak) und die Stürme weiter östlich (Jemen, Afghanistan) treiben Millionen Flüchtlinge vor sich her, unter anderem an Europas Küsten und Mauern, als seien sie Herbstlaub, die Flüchtlinge. Doch es sind Menschen, Kinder, Frauen, die vor der unglaublichen Brutalität fanatisierter Horden und vor dem Feuersturm fliehen. Und sie vermischen sich mit Menschen aus anderen Sturmgebieten, aus anderen Gebieten menschengemachter Katastrophen. Weite Teile Afrikas tragen mit ihren seit vielen Jahren zerrütteten Gesellschaften dazu bei, dass der Menschenstrom nicht abreisst. Ob Wirtschafts-, Klima- oder Gewaltflüchtlinge – die Bezeichnungen sind längst irrelevant, weil sich die Fluchtgründe gar nicht so klar unterscheiden lassen. Es sind die zunehmend lebensfeindlichen, menschenverachtenden Verhältnisse und die gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen in weiten Gebieten Afrikas, welche die Menschen von dort zur Flucht drängen. Niemand verlässt sein Herkunftsland einfach so, ohne Not, schon gar nicht unter den heutigen Migrationsbedingungen. Und all die Menschen suchen Schutz und Perspektiven in einem Europa, das von der Geschichte der letzten fünfzig Jahre einigermassen verwöhnt wurde und trotz allen Verwerfungen und Rückschlägen der letzten Zeit noch immer eine Oase des Friedens und des Wohlstands in einer Welt darstellt, die vor die Hunde zu gehen scheint.

Als ginge uns das gar nichts an
Und inmitten dieser Oase die Schweiz, doppelt geschützt vor den Stürmen, fast schon ein Paradies, eine Exklave der Glückseligen in einem sturmgepeitschten Ozean. Zwischendurch weht eine Brise durchs Land, mal lau, mal eher steif, die Ausläufer eines Sturmtiefs, das manchmal näher kommt und sich wieder entfernt. Doch insgesamt erleben wir einen ruhigen Herbst. Die dürren Blätter schaukeln sanft zu Boden und bilden lockere Haufen, durch die selbstvergessen die Kinder stapfen.

Nicht dass ich mir den Herbst anders wünschte. Es freut mich, dass die Kinder hier unbeschwert Kind sein können, jedenfalls unbeschwerter als vielenorts. Ich bin auch froh und überaus dankbar, dass ich nicht vor Bomben und blutrünstigen Horden fliehen muss. Die Geschichte meint es gut mit mir, mit uns. Doch können wir weiterhin das groteske Geschehen, all die Verheerungen und blutigen Orkane in beschaulichem Entsetzen einfach so beobachten, als ginge uns das nicht wirklich etwas an? Ich bin aufgewühlt, bewegt, erschüttert. Wie noch selten zuvor fühle ich mich dazu aufgerufen, aktiv zu werden, um die Not zu wenden – jetzt und hier, wo ich bin, und so gut ich kann. Und so geht es vielen. Tätige Solidarität ist gefordert. Und sie wird ja auch gelebt.

Wir stehen in der Verantwortung
In diesem Herbst stehen wir in der Verantwortung. Eigentlich schon länger, aber jetzt können wir uns nicht enziehen. Denn es ist offensichtlich, dass uns all das etwas angeht. Parallel zu den globalen Handelswegen und Finanzströmen, parallel zum Klimawandel und zum irrwitzigen globalen Wohlstandsgefälle zieht sich eine – ebenfalls globale – Spur der Verantwortung. Das liesse sich an unzähligen Beispielen aufzeigen. Unser Wohlstand, unser Friede ist nicht vorstellbar ohne die Verelendung und Zerrüttung weiter Landstriche andernorts. Historisch nicht, aber auch nicht mit Blick auf die Gegenwart.

Wir sind ganz und gar verantwortlich für das, was geschieht auf dieser Welt. Und damit meine ich jeden einzelnen von uns, inklusive mich selber, aber auch unsere Gesellschaft, unser Gemeinwesen, unseren Staat, unsere Wirtschaft. Ich meine dich und dich und dich … Es gibt inzwischen nicht nur eine wirtschaftliche Globalisierung, sondern auch eine Globalisierung der Verantwortung. Die Ereignisse reiben sie uns immer deutlicher unter die Nase. Manchmal frage ich mich, ob es bei uns in Europa, ob es in der Schweiz so ruhig ist, weil wir uns im Auge des Sturms befinden, der über weite Teile der Erde hinwegfegt.

Tagebucheintrag Berlin, 14. Juli 2015

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Der dritte Tag in Berlin. So richtig warm werde ich nicht mit dieser Stadt. Obschon: Hier in Neukölln an der Herbrichtstrasse, wo ich im Hüttenpalast übernachte, einem kleinen, nicht allzu teuren Hotel, gibt es viele junge Menschen, StudentInnen, AussteigerInnen, BerufsaktivistInnen und nicht weniger AusländerInnen. Das ganze Quartier – ja, was ich bis jetzt gesehen habe, die ganze Stadt – ist mit Sprayereien übersät. Die Gegend wirkt leicht heruntergekommenen, jedenfalls wenn man den Anblick von Schweizer Städten gewohnt ist, hat aber einen durchaus sympathischen, menschenfreundlichen und freilassenden Charme. Es ist jener Charme, der Platz lässt, im Kleinen ein etwas anderes, sogenannt alternatives Leben zu führen, als das was einem die Gesellschaft ungefragt, aber mit aller Kraft anempfiehlt. Entsprechend viele kleine Läden, Kinderhorte, Kleinstunternehmungen, Bücherläden, Quartiersekretariate und soziale Anlaufstellen sind hier anzutreffen. Und es gibt viele, viele Kneipen – nicht bloss an jeder Ecke, auch dazwischen hat es Platz für zwei, drei dieser kleinen Lokale, wo tagsüber jeweils nur einzelne Leute sitzen, von denen man nicht sicher weiss, ob es Gäste sind oder die Besitzer selbst. Abends und nachts füllen sich die Kneipen mit Geselligkeit und Trinkerlaune. Abends breitet sich übers Quartier eine schöne, nicht allzu plakative Lebendigkeit, die man durchaus behaglich nennen kann.

Trotzdem werde ich nicht wirklich warm mit Berlin. Vielleicht ist es der Nieselregen, die verhaltene Temperatur, die zwanzig Grad kaum übersteigt, vielleicht ist es auch das Bewusstsein, dass gegenwärtig von Berlin aus Europa-, ja, Weltpolitik gemacht wird, die nichts Gutes verheisst: Die EU und die mit ihr verflochtene Finanzindustrie hat die linken, ungehorsamen Griechen – zumindest ihre Syriza-Regierung – zur Vernunft gezwungen, so dass nach aussen die europäische Einheit gewahrt bleibt, ein Grexit zunächst vom Tisch ist, aber gleichzeitig die inneren, sozialen Verwerfungen zunehmen werden, nicht nur in Griechenland. Und eine treibende Kraft ist Frau Merkel, die vom Berliner Kanzleramt aus, ein paar U-Bahn-Kilometer von meiner Unterkunft entfernt, die Geschicke Europas massgeblich prägt.

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