Im Zoo meiner Kindheit

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Ich bin bestimmt nicht der einzige, der im Zolli zuweilen an seine Kindheit erinnert wird. Ein ehrwürdiger Baum vielleicht oder ein vom Alter graues Gehege, und schon tauchen verschollen geglaubte Bilder auf, so lebendig, als wären sie gestern entstanden. Dabei waren sie bald 50 Jahre lang vergessen.

So geschah es mir, als ich letzthin im Basler Zolli bei den Löwen vorbeischaute. Träge lagen sie in ihrem Gehege im Herbstlaub und beobachteten die Menschengäste, während diese ihrerseits die Löwengruppe beobachteten und jede noch so kleine Bewegung kommentierten. Als ich so, Aug in Auge mit einer Löwin, etwas abseits und versunken am Gehege sass, zerriss plötzlich fürchterliches Gebrüll den Schleier des Vergessens. Es klang hohl, das Gebrüll, fast etwas gläsern. Denn es brach sich hundertfach an den Kachelwänden des damaligen Raubtierhauses, als es an meine Kinderohren drang. Die Löwin, die den schauerlichen Lärm veranstaltete, tigerte in einem kargen und weiss gekachelten Käfig hin und her, immer hin und her, und ab und zu brüllte sie wütend in die Welt hinaus. Dicke Eisenstäbe trennten sie vom Zoopublikum, das zudem mit einer massiven eisernen Absperrung auf Distanz gehalten wurde. Immer dieselben kurzen Wege legte die Löwin in ihrer öffentlich einsehbaren Zelle zurück, so dass sich an den Wänden braune Male bildeten, wo sie diese mit ihrem Körper berührte. Das wütende, bedrohliche Brüllen der Löwin machte uns Kinder schaudern. Wir waren uns nicht sicher, ob die Gitterstäbe stark genug waren. Einzig dass Vater und Mutter dabei und vom Gebrüll nicht allzu sehr beeindruckt waren, beruhigte uns.

Und nun sitze ich also Aug in Auge mit der Löwin, welche die Tochter oder gar Enkelin jener wütenden Löwin meiner Kindheit sein könnte, und wache auf aus meiner Erinnerung, kehre zurück an diesen sonnigen Herbsttag der Gegenwart. Keine Gitterstäbe, nur eine beruhigende Distanz und ein Wassergraben trennen uns voneinander. Wir beobachten uns gegenseitig, nun auf Augenhöhe, und jede noch so kleine Bewegung wird registriert. Ein friedlicher Zoonachmittag neigt sich dem Ende zu.


Der «Stadtwanderer» erscheint monatlich als Kolumne in der «ProgrammZeitung».

Bild: Lionesse von Cloudtail the Snow Leopard, CC-Lizenz via flickr

Der Stadtwanderer

Seit Anfang dieses Jahres bin ich stolzer Verfasser einer regelmässigen Kolumne in der «ProgrammZeitung», einer monatlich erscheinenden Zeitschrift zum Kulturgeschehen in und um Basel. Die Kolumne läuft unter dem Titel «Stadtwanderer» und ist geschrieben – wen wunderts – aus der Sicht eines Stadtwanderers. Und der ist – wen wunderts – mein alter Ego: ein genauer, manchmal auch verträumter Beobachter mit Hang zur Melancholie, immer unterwegs und deshalb eher Zaungast denn Teilnehmer des Geschehens. Doch er blickt durchaus liebevoll auf das, was er auf seinen Wanderungen antrifft, liebt den feinsinnigen Humor, die Poesie und ist gar etwas philosophisch veranlagt, tiefsinnig, könnte man auch sagen. Hier meine erste Kolumne:

Das Dach der Welt.

Ein Glücklicher, wer in Basel zu Fuss unterwegs ist! Er hat kein Parkplatzproblem und geniesst Freiheiten und Vorzüge, auf die selbst NutzerInnen des öffentlichen Verkehrs verzichten müssen. So ging es mir durch den Kopf, als ich letzthin den Rhein entlang zog. Ich kann ausschreiten, wo andere anstehen. Der Wind streicht mir durchs Haar – oder pfeift um meine Ohren, je nach Wetterlage. Und ich nehme Basel deutlicher, vielleicht unverfälschter wahr, als wenn ich auf Rädern unterwegs wäre. So fällt mir immer wieder auf, dass jedes Quartier anders riecht, oder ich bleibe verwundert an einem Ort stehen, wo ich klar empfinde: Hier ist noch nie ein Mensch stehen geblieben. Es gibt solche Orte. Andere  verströmen eine leise Melancholie, als würden dort Jahrhunderte seufzen.

Solche Orte interessieren mich als Stadtwanderer. Deshalb bin ich unterwegs. Ich bin auf der Suche nach besonderen Winkeln, die nirgends als solche aufgeführt sind. Man kann sich ihnen nur zu Fuss nähern.

Die Dreirosenbrücke ist so ein Ort. Sie ist das Dach von Basel, für mich geradezu das Dach der Welt. Horizonte, wohin ich schaue. Es riecht nach Weite. Niemand geht ungerührt hier vorbei, es sei denn, er ist in ein Fahrzeug gesperrt – oder ins Souterrain der Brücke verbannt, aus dem zwischendurch, wie von weit her, das Gebrüll des Verkehrs dringt.

Auf der einen Seite der Brücke in der Ferne der Jura mit dem Gempen und den sich verlierenden Hügelzügen, Richtung Norden die südbadische Lieblichkeit – und die Chemie. Darin eingebettet, gross und klein zugleich, das geliebte Basel, wie ein Spielzeugmodell vor unseren Augen ausgebreitet. Und darin ein Riss, der sich durchs ganze Modell zieht: der Rhein. Uns gegenüber, nicht allzu weit, die geschäftige Johanniterbrücke und dahinter die Mittlere Rheinbrücke, Zeugnis einer anderen Zeit und, zusammen mit dem Münster, der ganze Stolz der Spielzeugwelt vor unseren Augen.

Da stören auch die paar Bauklötze wenig, die in neuerer Zeit hinzugekommen sind, als seien sie aus einem überdimensionierten Würfelbecher willkürlich über die Stadt gestreut. Vom Dach der Welt aus ist Basel immer noch ein Idyll am Rheinknie.

Kulturfest der Enthinderung

Das Festival Wildwuchs macht Behinderungen des Lebens zum Thema.

Alle zwei Jahre herrscht in Basel und Umgebung Wildwuchs – genauer das Festival Wildwuchs. Mit seinen über 40 Produktionen aus Theater, Tanz, Musik, Film, Performance und bildender Kunst bespielt es so unterschiedliche Plätze wie das Kasernenareal und das Männerwohnheim Rheinblick, das Roxy Birsfelden und die Kreativwerkstatt des Bürgerspitals Basel sowie weitere Schauplätze in und um Basel. Im Zentrum stehen körperlich-seelisch-geistige Behinderungen aller Art sowie Flucht und Migration.

Die Idee dahinter: Das Festival «für alle» bietet eine künstlerische Plattform für Themen und Produktionen jenseits des gewöhnlichen, auf Meisterschaft und Perfektion getrimmten Kulturbetriebs. Auch das Sperrige ist willkommen, das Bruchstückhafte, Vorläufige. Statt es auszugrenzen, wird ihm eine Bühne geboten, damit es hervortreten kann, ganz im Sinne der Inklusion, die davon ausgeht, dass erst die Vielfalt – und deren Anerkennung – eine menschliche Gemeinschaft lebendig und stark macht. Das Wildwuchs-Festival will hier Brücken bauen und «kulturelle Zugehörigkeit trotz Verschiedenheit» ermöglichen. Wer nun glaubt, unter einer so offenen Anlage müsse die künstlerische Qualität leiden, kann das gerne am diesjährigen Festival überprüfen. Das Organisationskomitee rund um die künstlerische Leiterin Gunda Zeeb möchte das Gegenteil beweisen.

Verwirrende Vielfalt

Es beginnt mit einem Schwerpunkt zu Flucht und Migration im Theater Roxy. Übers ganze Haus verteilt und während zweier Tage wird dazu ein Feuerwerk mit Bühnenproduktionen und Performances gezündet. Zum Beispiel: Wie fühlt es sich an, wenn man Asyl braucht? Fünf Sans Papiers geben dazu Antworten in Form des Live-Hörspiels «Homeradio wildwuX: Zimmer Frei!». Für einmal müssen sie sich nicht verstecken, sondern zeigen sich, treten auf die Bühne. Mehr noch: Sie sind es, die für einmal die Fragen stellen und entscheiden, wer aufgenommen wird und wer nicht. Denn sie haben in ihrer Wohngemeinschaft ein Zimmer zu vergeben. Das Bühnen-Hör-Stück über Rollentausch und Perspektivenwechsel entstand in Zusammenarbeit mit Radio X, welches das Hörspiel auch ausstrahlen wird.

1-0230 H-A3 - 44Danach verschiebt sich der Schwerpunkt des Festivals zum Thema Be- und Verhinderung – und vom Roxy hin zur Kaserne Basel. Da lässt z.B. der Club Ritalin (s. Abb.) eine energiegeladene Open Air-Performance rund um das Thema ADHS krachen. Das im Volksmund «Zappelphilipp» genannte Syndrom wird mit Hilfe von Tanz, Performance, Sprache und Klangkunst auf seinen Gehalt abgeklopft, und siehe da: ADHS ist die wahre Natur des Menschen, verbindet die Problemjugendlichen mit den Multitasking-erprobten Eliten unseres Landes. Mit solch provokativen Thesen im Hintergrund wird – gleichsam im Hyperaktivitätsmodus – gemeinsam mit dem Publikum ein ADHS-orientiertes Training absolviert. Und am Schluss ist die Frage unausweichlich: Wer ist hier eigentlich gestört: die Betroffenen oder die Gesellschaft – oder alle? Der Club Ritalin entlässt uns ohne Antwort, aber um einige Erfahrungen reicher.

So bunt wie die Themen, so bunt sind auch die Formate zu deren Darstellung. Neben Bühnenproduktionen gibt es Publikumsinterventionen, Podiumsgespräche, eine rollende Wandzeitung, Gesprächsinstallationen etc. … Eine Vielfalt, die geradezu verwirrt. Wildwuchs eben!

Wildwuchs-Festival: Do 4. bis So 14.6, diverse Orte, www.wildwuchs.ch

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Dieser Artikel ist in der Juni-Ausgabe der «ProgrammZeitung» erschienen.

 

Zum Spannungsfeld Kunst – Politik

„Eindringling“

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Schon immer versuchten Kunst und Politik, aufeinander Einfluss zu nehmen. Die Kunst, indem sie in ihren Werken die gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegelt, die Politik, indem sie der Kunst ihren Stempel aufzudrücken sucht. Ein paar grundsätzliche Überlegungen dazu und ein paar Beispiele.

Kunst und Politik leben in einem Spannungsverhältnis, wie es einseitiger nicht sein könnte. Seit jeher versucht die Politik, der Staat, das künstlerische Schaffen in seinen Dienst zu stellen. Zensur ist nur der grobschlächtigste Ausdruck solcher Bemühungen. Etwas feinsinniger geht es zu bei der Vergabe von staatlichen Geldern an Künstler und ihre Werke.

Affäre Hirschhorn
Die Affäre Hirschhorn ist hierzu ein Lehrstück: Nachdem Thomas Hirschhorn 2004 im Schweizer Kulturzentrum Paris eine provokative Installation zum Schweizer Selbstverständnis ausgestellt hatte (Swiss-Swiss Democracy), finanziert durch die Kulturstiftung Pro Helvetia, einer von der Schweizerischen Eidgenossenschaft alimentierten, aber „unabhängigen“ Subventionsmaschine, kam es zur Debatte im Parlament, worauf die Pro Helvetia mit einer Kürzung der jährlichen Gelder abgestraft wurde.

Doch es gibt auch weniger plakative Beispiele, etwa wenn staatliche Kulturleitbilder neu formuliert werden, zum Beispiel aktuell in Basel: Wenn darin neu zu stehen kommt: „Gefördert wird, was messbare Auswirkungen […] auf das Gemeinwesen hat“, so ist die Instrumentalisierung der Kunst für staatliche Zwecke – hier im Sinne eines Standortmarketings – ganz offensichtlich. (Eine kurze, kritische Würdigung findet sich hier.)

Abbild gesellschaftlicher Widersprüche
Im Zentrum des Interesses soll hier aber die Einflussnahme der Kunst auf die Politik stehen. Dazu zählt zunächst der kritische Blick der Kunst auf die Gegenwart (oder die Vergangenheit). Protestlieder, unzählige Romane, aber auch manche Werke der bildenden Kunst zeugen von dieser kreativen Reflexion gegenüber Politik und Gesellschaft. Oft bilden sie gesellschaftliche Widersprüche ab und regen zum Denken an.

Über ihren unmittelbaren politischen Einfluss auf den Lauf der Dinge kann man sich allerdings streiten. Denn bei vielen Künstlern hat der künstlerische Ausdruck Vorrang vor dem politischen Ziel. Einem allzu pamphletischen Kunstwerk wird deshalb oft das Prädikat „Kunst“ abgesprochen – weil die Kunst grundsätzlich nicht instrumentalisiert werden kann, ohne dass sich das eigentliche Künstlerische zurückzuziehen droht, sich versteckt oder gar ganz verflüchtigt. Das gilt für forciert politische Kunst ebenso wie für forciert kommerzielle Kunst.

Symbol versus politische Veränderung
Es verwundert deshalb wenig, wenn „echte“, aber kritische Kunst von politisch Bewegten oft als bloss dekoratives Element wahrgenommen wird, als Ornament ohne eigentliche politischen Inhalte, nicht selten sogar als elitär. Doch die Kunst kann nicht anders, als (bloss) „symbolisch“ einzugreifen, und stellt sich so der politischen Praxis gegenüber, die ganz konkret verändern will.

Dazwischen liegt ein reiches Experimentierfeld, das in der Vergangenheit ebenso wie heute von vielen KünstlerInnen ausgelotet wurde und wird. Stichworte und Namen aus der Vergangenheit dazu: Dadaismus, Wiener Aktionismus, Joseph Beuys, Hans Haacke.

Als Beispiele für künstlerische Interventionen der Gegenwart im Spannungsfeld zwischen Kunst und Politik seien hier zwei Projekte besonders hervorgehoben: die Künstlergruppe WochenKlausur und das Kunstprojekt „Hacking the City“:

WochenKlausur
Die Künstlergruppe WochenKlausur entwickelt – meist auf Anfrage – kleinere, aber konkret wirksame Projekte mit dem Ziel, gesellschaftspolitische Defizite zu verringern. Diese Vorhaben, zum Beispiel die Gründung einer Gesprächsplattform zur Stadtpolitik in Den Haag, setzt die Künstlergruppe innerhalb eines festen Zeitrahmens auch selber um. Meistens sind das mehrere Wochen Vollzeieinsatz. Daher rührt auch ihr Name. Weitere Beispiele sind der Aufbau eines Programmkinos für MigrantInnen in Limerick, Irland, und die Verbesserung der Schubhaftbedingungen in Salzburg, Österreich. Die Gruppe handelt nicht zuletzt aus der Erkenntnis, dass sich mit Kunst nicht die ganze Welt verändern lässt, sehr wohl aber klar definierte Ziele erreicht werden können, Ziele, die sich womöglich ohne die spezifisch künstlerischen Techniken, angewandt auf das gesellschaftspolitische Ziel, nicht erreichen lassen. Die Webseite der Künstlergruppe sei besonders empfohlen, da sie in prägnanter Form weitere grundsätzliche Überlegungen zum Thema enthält.

Hacking the City
Etwas anders gelagert und doch mit einer ähnlichen Zielsetzung ist das experimentelle Ausstellungsprojekt Hacking the City, das vom 16. Juli bis 26. September 2010 im Museum Folkwang in Hessen stattfand. In einem Projektraum des Museums wurden künstlerische Aktionen und Präsentationen im öffentlichen Raum der Stadt Essen sowie im Internet dokumentiert. Bildende Künstler, Web-Designer, Street-Artisten und Musiker übten mit künstlerischen Mitteln Kritik an Konsumkultur und ihre Werbehoheit, an demokratischer Gleichgültigkeit und der zunehmenden Privatisierung des öffentlichen Raums der Stadt. Unterschiedlichste Formen des öffentlichen Handelns, der Intervention, werden als kulturelles Hacking verstanden, mit dem Ziel zu irritieren, ja, den „Normalbetrieb“ zu stören. So inszenierte Georg Winter eine „kleine Katastrophe“ in Hessen, indem er ein selbst aufgebautes Holzgebäude zum Einsturz brachte. Und Peter Bux inszenierte mit einigem materiellen Aufwand die Zwangsräumung einer Einzimmerwohnung. Auf einem Blog werden laufend kulturelle Hackings auf der ganzen Welt dokumentiert.

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Beide Kunstprojekte stehen an einem anderen Ort im Spannungsfeld zwischen künstlerischer, also symbolischer, und politischer Praxis, die konkret verändern will. Sie illustrieren auf je eigene Weise die Möglichkeiten der Kunst, das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Politik ein klein wenig in Richtung Kunst zu verschieben.

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Fotonachweis: discha13, „Eindringling“
CC-Lizenz
Quelle: www.piqs.de