«Verschwörung!» Oder: Von der Fragmentierung der Gesellschaft

Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur. Das lässt sich bis ins persönliche Umfeld feststellen: Bekannte, die sich neuerdings ins Thema «9/11» verbeissen, als wär’s ihr Herzensanliegen. Andere finden die Chemtrail-These zumindest bedenkenswert. Gleichzeitig werden immer weniger grundsätzliche Fragen zu den gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen der Gegenwart gestellt, zumindest nicht in einer breiten Öffentlichkeit. Was drückt sich darin aus? – Ein Versuch zu verstehen und eine Buchempfehlung.

Beim Thema Verschwörungstheorien begibt man sich schnell auf dünnes Eis, und zwar als Verfechter von Verschwörungstheorien ebenso wie als Verschwörungsskeptiker. Der Verschwörungstheoretiker, heutzutage eine abwertende Bezeichnung, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, mit einfachen, monokausalen Erklärungen vorlieb zu nehmen und gegen gute Argumente resistent zu sein. Der Verschwörungsskeptiker wiederum muss sich davor hüten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Denn Verschwörungen hat es in der Geschichte der Menschheit tatsächlich gegeben. Nicht jede Verschwörungstheorie ist von vornherein falsch. Vielmehr bedarf es einer redlichen Auseinandersetzung – von beiden Seiten.

Dazu gehört, dass die Begriffe geklärt werden. Schon die Bezeichnung «Verschwörungstheorie» ist irreführend, da es sich oft nicht um eine Theorie im wissenschaftlichen Sinne handelt. Eine solche wissenschaftliche Theorie würde sich der rationalen Auseinandersetzung ohne Wenn und Aber stellen und fallen gelassen, sobald sie widerlegt ist. Man könnte in diesem Fall von einer Verschwörungsthese sprechen, die sich der echten Prüfung stellt.

Oft genug aber stellt eine Verschwörungstheorie im herkömmlichen – und durchaus auch abwertend gemeinten – Sinne ein abgeschlossenes Denkgebäude dar, das mit Händen und Füssen gegen jede Infragestellung verteidigt wird. Skeptiker oder Gegner werden als Leichtgläubige oder Verführte dargestellt, wenn nicht gar als Teil der Verschwörung selbst. In einem solchen Fall wäre «Verschwörungsideologie» eine treffendere Bezeichnung. Die Meinung ist gemacht, die Welt erklärt.

Anstelle eines politischen Diskurses

Es sind diese Verschwörungsideologien, die sich in den Köpfen mancher ZeitgenossInnen festsetzen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Die Welt ist kompliziert geworden, undurchschaubar und komplex. Gleichzeitig ist sie näher gerückt, fast schon zu nah. An allen Ecken und Enden lauern schier unlösbare Probleme. Vieles ist brüchiger geworden, spürbar brüchiger für viele Menschen. Gewonnen Geglaubtes führt sich selbst ad absurdum.

Gleichzeitig ist auf politisch-gesellschaftlicher Ebene zu beobachten, dass grundsätzliche Systemkritik etwa am neoliberalen Credo oder am Dogma der Notwendigkeit wirtschaftlichen Wachstums praktisch nicht mehr vorkommt oder zumindest den politischen Diskurs kaum mehr prägt. Die politische Vorstellungskraft wirkt heute seltsam steril. Der gesellschaftspolitische Mist scheint geführt zu sein. Es gibt keine konkurrierende Modelle mehr. Damit verbunden ist eine tiefe Resignation. Man glaubt nicht mehr an einen grundsätzlichen Wandel aufgrund gemeinsamen Handelns. Selbst der Glaube an die Demokratie geht uns verloren. Stattdessen übt man mehr oder weniger diffuse Kritik an irgendwelchen Eliten – ohne die grundsätzliche Systemfrage zu stellen. In diese Lücke sickern Verschwörungsideologien, machen sich «vage Überzeugungen breit, unsere Gesellschaft werde in Wirklichkeit durch eine kleine Gruppe schattenhafter Eliten gesteuert, die uns gemeinsam mit linientreuen Medien das Theater der Demokratie vorspielen». Solche Überzeugungen tragen eher zur Stützung des Systems bei, als dieses in Frage zu stellen. [Read more…]

Wirtschaftswachstum: Dogma und Wahn

Es gilt als Allerheilmittel, als oberstes Gebot und ist Rechtfertigung für einen weitgehenden Umbau der Gesellschaften in der ganzen Welt. Längst hat  das wirtschaftliche Wachstum den Status eines Dogmas erhalten. Und wer dessen Vorrang in Frage stellt, gilt als Ketzer. Doch kann das heutige Konzept des Wachstums um jeden Preis sein Versprechen auch halten? Eine Spurensuche.

Dem Wirtschaftswachstum wird inzwischen so viel natürliche und kulturelle Substanz geopfert, dass die Frage nach Sinn und Berechtigung grundsätzlich gestellt werden muss. Wohin führt es uns? Wem hilft es? Welche Entwicklungen begleiten es? Was wächst in seinem Schatten? Einige Antworten seien hier zusammengetragen.

Wachsende Rücksichtslosigkeit

Es steigt die Zahl der Millonäre und der Milliardäre – und gleichzeitig wird die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben müssen, nicht wesentlich verringert. Laut Fokus Money online besass im Jahr 2006 das reichste Prozent der Weltbevölkerung – das sind 37 Millionen Erwachsene – 40 Prozent des weltweiten Vermögens. Zahlen, die zwar nicht im Detail, aber vom Trend her weitherum bekannt sind. Laut dem Bericht der UNO des Jahres 2009 zu den Millenniums-Entwicklungszielen sind keine grossen Fortschritte bei der Bekämpfung der extremen Armut zu erwarten. Im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise 2008 „… wird geschätzt, dass 2009 zwischen 55 und 90 Millionen Menschen zusätzlich in die extreme Armut getrieben werden.“[1] Diese Zahlenbeispiele zeigen – und es liessen sich viele weitere finden –, dass zumindest das Versprechen, das wirtschaftliche Wachstum sei zum Wohle aller, nicht stimmen kann. Die Trickle-down-Theorie, wonach entstehender Reichtum und Wohlstand automatisch durch die unteren und bis zu den ärmsten Schichten sickern (trickle down), ist durch die Wirklichkeit widerlegt.

Wachsende Arbeitslosigkeit

Auch das Versprechen der sinkenden Arbeitslosigkeit im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Aufschwung überzeugt wenig. Es sind hauptsächlich die prekären, zeitlich begrenzten Arbeitsverhältnisse, die immer mehr die Festanstellungen ersetzen. Zahlen erübrigen sich hier. Wir erfahren es täglich in unserem Umfeld. Die Automatisierung und Produktivitätssteigerung wird die Arbeitslosenrate in viel schnellerem Masse wachsen lassen, als sie je durch das Wirtschaftswachstum wird kompensiert werden können.[2]

Wachsende Zukunftslosigkeit

Die zerstörerischen Auswirkungen des Wachstums auf die Umwelt sind allgemein bekannt und weitgehend unbestritten. Von einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum, das nicht die Grundlagen der kommenden Generationen schädigt und verbraucht, sind wir meilenweit entfernt. Ökologisch und in Bezug auf unsere Zukunftshoffnungen ist das Wirtschaftswachstum, wie es heute propagiert und angestrebt wird, eine Katastrophe. Die Lebensgrundlage wird der ganzen Menschheit zunehmend entzogen.

Wachsende Entwurzelung

Das Wachstum nach dem Geschmack der wirtschaftlichen und politischen Eliten entzieht vielen Menschen – hauptsächlich in den Entwicklungsländern – schon heute die Lebensgrundlagen, z.B. in der Landwirtschaft. Historisch gewachsene und funktionierende Kulturen verfallen im Zuge der einseitigen und blinden Wachstumsmaxime, was Millionen Menschen entwurzelt und Migrationsströme entlang des Wohlstandsgefälles Richtung Städte und Richtung reiche Länder auslöst. Egoismus, Materialismus und Konkurrenzdenken verdrängen erfolgreich die Idee der Gemeinschaft, der Zusammenarbeit und Solidarität in allen Gesellschaften rund um den Erdball.

Wachsende Sprachlosigkeit

Das wirtschaftliche Wachstum der Gegenwart raubt den Menschen die Sprache. Menschenrechte und Demokratie sind nicht Bestandteil dieses Wachstumskonzepts. Vielmehr hebelt es demokratische Prozesse aus, indem z.B. übernationale Konzerne und Organisationen wie der IWF (Internationaler Währungsfonds) oder die WTO (Welthandelsorganisation) demokratisch gewählte Regierungsbeamte zu Geiseln ihrer Bestrebungen machen. Sprach- und Perspektivelosigkeit herrscht auch unter den einzelnen Menschen, die entweder im Hamsterrad der wirtschaftlichen Prosperität verstummen oder als Arbeislose in der Versenkung verschwinden.

Wachsende Sinnlosigkeit

Das wirtschaftliche Wachstum als Selbstzweck macht die Menschen zu Sklaven einer Ideologie, deren Versprechen sich mehr und mehr als Mythen erweisen. Es untergräbt nicht nur die regionalen wirtschaftlichen Grundlage, sondern auch das seelisch-geistige Fundament der einzelnen Menschen. Hoffnung, Sinn und Kreativität gehen verloren oder werden in rein materielle Bahnen gelenkt. Der Mensch wird zum konsumierenden Automaten, was ein grober Missbrauch seines Wesens ist.

* * *

Es ist keine Frage, vielmehr ein Gebot der Menschlichkeit – und der Logik –, dass dort, wo wirtschaftlicher Mangel herrscht, sehr wohl Wachstum stattfinden muss. Tatsache ist indessen, dass gerade dort – bei den Ärmsten – die Früchte des Wachstums nicht ankommen. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen sind nicht entsprechend ausgebildet. Vielmehr sind sie heute so beschaffen, dass Wirtschaftswachstum gerade dort wieder nur einige wenige reich macht und ausbeuterische Verhältnisse zementiert.

Krebsartiges Wachstum

Stellt man bei einem lebenden Organismus ein solch sinnloses Wachstum fest, das gewachsene Strukturen zerstört und die Lebensgrundlage des ganzen Organismus gefährdet, bezeichnet man das als Krebs. Die Wucherungen stellen sich als überschiessende Lebenskraft dar – und sind doch zerstörerisch. Das Wirtschaftswachstum der heutigen Machart muss als krebsartiges Wachstum bezeichnet werden. Eine Therapie ist dringend angezeigt.


Fussnoten:

[1] Siehe Kurzbericht 2009 zu den Milleniums-Entwicklungszielen, S. 1. (PDF – 57 KB)
[2] Siehe zum Thema „Arbeit und Einkommen“ auch meinen Artikel Ketzerische Fragen zum Begriff der Arbeit.

Weiterführende Links:

  • Umfangreiche und hervorragende Textsammlung zu Wachstumskritik und Alternativen auf Attac.de
  • Texte aus Nicanor Perlas Buch „Die Globalisierung gestalten – Zivilgesellschaft, Kulturkraft und Dreigliederung“, dessen Lektüre mich zu diesem Artikel inspiriert hat.