Seit etwa zehn Jahren kenne ich Auroville und bin immer wieder dorthin zurückgekehrt. Es muss also etwas dran sein. Was fasziniert mich an diesem besonderen Ort in Südindien? Und wo sehe ich Widersprüche und Herausforderungen? – Eine Einschätzung des utopischen Stadtprojekts aus persönlicher Sicht. (Achtung Überlänge!)
Zu Beginn war Auroville für mich einfach der perfekte Ort, um als Rollstuhlfahrer Indien zu besuchen. Rollstuhlgängigkeit war hier kein Fremdwort, und die ganze Umgebung erwies sich – wie soll ich sagen? – als eine milde Form Indiens, als India light, im Gegensatz zu real India, das nicht nur für Rollstuhlfahrer eine Zumutung sein kann. Doch immer mehr begann mich auch das «Projekt» Auroville zu interessieren.
Auroville ist ein Experiment, das vor über fünfzig Jahren begann. Auf Initiative von Mirra Alfassa und inspiriert von Sri Aurobindos Gedankengut wurde die künftige Stadt im Jahr 1968 in der Nähe von Pondicherry, Südindien, mit einem grossen feierlichen Akt begründet. Die Stadt, in der «alle aufrichtig strebenden Menschen guten Willens als Weltbürger frei leben könnten und nur einer einzigen Macht gehorchten: der Macht der höchsten Wahrheit» (Mira Alfassa), soll ein Modell werden, das die ganze Menschheit inspirieren kann: in städtebaulicher Hinsicht, im Umgang mit der Natur und in der Art des Zusammenlebens, der Selbstverwaltung, des wirtschaftlichen Funktionierens und der Inspiration durch «die höchste Wahrheit». Auroville ist also ein Experiment mit ungewissem Ausgang.
Vieles ist seit der Gründung erreicht worden. An der Stelle des früheren Ödlands, das von der Sonne versengt und vom Monsun ausgewaschen war, erstreckt sich nun ein vielfältiges Waldgebiet, das vor Leben nur so strotzt. Über hundert Vogelarten, eine Vielzahl von Schmetterlingen unterschiedlichster Arten, um die 3‘000 AurovillianerInnen und ein Mehrfaches an TamilInnen bevölkern das Gebiet der Stadt und die nähere Umgebung. Städtische Gebäude und Institutionen sind entstanden: die Town Hall, die Stadtverwaltung, mehrere Bibliotheken, einfachste Ansiedlungen und moderne Wohnüberbauungen, Gewerbebetriebe, Cafés und Restaurants, Kliniken, Guesthouses. Trotzdem gleicht Auroville auch heute noch eher einem besiedelten Waldgebiet denn einer Stadt. Ein paar wenige befestigte Strassen, zahlreiche Sandpisten und Hunderte kleine Wege verbinden die Siedlungen und die anfängliche städtische Infrastruktur.
Der Matrimandir und der Tourismus
Und in der Mitte dieser Stadt, sowohl als geografisches wie auch kulturelles Zentrum, steht in einem weitläufigen Garten der Matrimandir: eine goldene Kugel, oben und unten leicht zusammengedrückt, die zu schweben scheint und mit ihrer zentralen Halle und den peripheren kleineren Räumen ganz der Stille und Meditation gewidmet ist. Auroville ist kein Ashram und zumindest von aussen betrachtet in keiner Weise sektiererisch, auch wenn der Integrale Yoga Sri Aurobindos ein Kernelement des Stadtprojektes darstellt. Und der Matrimandir will kein Tempel sein, kein Ort der Religionsausübung. Sri Aurobindo betrachtete die Religionen als trennendes Element in der Menschheitsentwicklung, ein Element, das es zu überwinden gilt – ohne zugleich den Bezug zur Transzendenz, zum Spirituellen zu verlieren. Entsprechend offen ist der Ort – für Menschen, die Teil des Experimentes werden und sich Auroville anschliessen wollen, ebenso wie für Gäste. Selbst der Matrimandir ist im Grunde für alle offen, allerdings nicht für Tagestouristen. Und das aus gutem Grund: Die Meditationsräume würden sonst schnell zu einer Art spirituellem Disneyland verkommen. Denn in der Hochsaison reisen täglich über tausend TouristInnen (!) an, hauptsächlich aus Tamil Nadu und anderen indischen Bundesstaaten, die den Matrimandir sehen wollen und ihn als TagestouristInnen auch zu Gesicht bekommen, allerdings aus «sicherer» Entfernung und ohne den Garten und den Matrimandir selbst betreten zu können. Erst nach Anmeldung und einem gewissen Prozedere bekommt man Zutritt zum Matrimandir.
Die Herausforderungen
Und damit kommen wir zu den Schwierigkeiten und Widersprüchen, mit denen Auroville zu ringen hat. Denn mit Bedacht ist Auroville nicht als Ort des Rückzuges und der Abkapselung konzipiert, sondern als Teil dieser unserer Welt. Wie sollte die werdende Stadt sonst als Modell dienen? Entsprechend kämpft Auroville mit ähnlichen Problemen und Widersprüchen wie die restliche Welt. [Read more…]
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