UNO-Behindertenkonvention: Jetzt unterzeichnen!

Warum bloss ist mir das Thema unters Eis geraten? Vielleicht, weil das Ringen um die aktuellen IV-Revisionen viele andere Diskussionen im Behindertenbereich übertönt? Oder gar, weil die UNO, die Vereinten Nationen, so weit weg sind, dass man sich fragt, ob eine solche Konvention für uns Rollifahrer und für andere Behinderte in der Schweiz überhaupt bedeutsam ist, also konkret etwas in unserem Leben zu verändern vermag?

Von neuem auf das Thema gestossen bin ich durch eine dürre Agenturmeldung in der Basler Zeitung – ja, ich lese sie noch, die SVP-BaZ –, wonach die Ratifizierung (und wohl auch die vorgängige Unterzeichnung) der UNO-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderung durch die bürgerlichen Parteien abgelehnt würde. Das Thema begann mich zu interessieren … Denn begründet wird die Ablehnung damit, „dass das Abkommen ein Recht auf Arbeit vorsehe, das die Schweiz nicht kenne“.

Als Beobachter, der selbst im Rollstuhl sitzt, kann ich mir ein mildes Lächeln nicht verkneifen. Aha, nun haben also die Wirtschaftslobbyisten bürgerlichen Politiker ein Haar in der Suppe gefunden und möchten diese am liebsten grad ganz in den Ausguss schütten. Bestimmt gibt es noch andere Haare in dieser Suppe, vielleicht gar büschelweise – zumindest aus der Ego-Shooter-Sicht. Denn die UNO-Konvention soll die Position der Behinderten stärken, nicht nur rechtlich, sondern auch gesellschaftspolitisch, indem das Abkommen von einem ausgesprochen modernen Begriff für Behinderung ausgeht. Nach diesem ist der Ausschluss von Behinderten nicht so sehr eine Folge der persönlichen Defizite und Einschränkungen der Betroffenen selbst, sondern Ausdruck einer ungenügenden Berücksichtigung der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Etwas einfacher gesagt: Menschen mit Behinderung werden, womöglich schon als Kind, gesellschaftlich ausgeschlossen, weil die Gesellschaft auf ihre besonderen Bedürfnisse nicht eingehen will oder kann. Später werden dann von beiden Seiten teils teure (Re-)Integrationsmassnahmen erforderlich, die den Ausschluss zumindest teilweise wieder rückgängig machen. Dem steht das Konzept der Inklusion gegenüber – wie sie von der UNO-Behindertenkonvention gefordert wird. Inklusion schliesst Menschen mit Behinderung gar nicht erst aus der Gesellschaft aus. Das hilft unnötiges Leid verhindern – und auch Kosten sparen …

Zurück zu den bürgerlichen Politikern: Das Argument der Kostenersparnis sollte ihnen eigentlich das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Doch der Spareffekt durch die Inklusion von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft wird, so fürchte ich, eher ein Generationenprojekt denn ein solches der Legislaturperiode. Und einen so weiten Blick darf man den bürgerlichen Politikern nicht abverlangen – vielleicht überhaupt keinen Politikern … (Ups! Jetzt wettere ich über die Politiker schon wie ein richtiger SVP-Anhänger. Wie konnte es so weit kommen?)

Doch zumindest kann man versuchen, den PolitikerInnen in Bundes-Bern etwas Beine zu machen. Das Zentrum für Selbstbestimmtes Leben (ZSL) sammelt zu diesem Zweck – nein, kein Geld, sondern Unterschriften für eine entsprechende Petition … Nicht nur stimmberechtigte Schweizer BürgerInnen und Bürger, auch AusländerInnen, ja sogar Kinder und Jugendliche dürfen unterschreiben. (Dafür ist eine Petition für die Politik nicht wahnsinnig verbindlich. Trotzdem entfaltet sie, je nach Anzahl der Unterschriften, ihre Wirkung.) Zur Online-Petition geht es hier lang. Die Petition soll den Bundesrat dazu animieren, die UNO-Behindertenkonvention im Namen der Schweiz zu unterzeichnen und im Parlament ratifizieren zu lassen.

Doch gibt es noch andere Gründe, die Petition zu unterschreiben, als nur um den PolitikerInnen einzuheizen? – Aber sicher.

Die Unterzeichnung der UNO-Konvention stärkt tendenziell die Behinderten in verschiedenen Bereichen ihres Lebens – kulturell, wirtschaftlich, politisch und sozial –, indem entsprechende Grundrechte – zunächst – proklamiert werden. Diese Rechte gehen nicht über die allgemeinen Menschenrechte hinaus, sind also keine Sonderrechte. Vielmehr sind sie die „einfache, klare Anwendung der allgemeinen Menschenrechte auf den Teil der Bevölkerung mit einer Behinderung. Eine Nicht-Unterzeichnung kommt einer Aberkennung der Menschenrechte für diesen Teil der Bevölkerung gleich.“ (Zitat ZSL) Als klare Rechte sind etwa definiert:

Das Recht auf selbstbestimmte Lebensführung
Das ist alles andere als selbstverständlich … Denn dazu gehört etwa das Recht aller Menschen mit Behinderung, ihre Lebens- und Wohnform ebenso frei wählen zu dürfen, wie dies für die anderen Menschen – ich nenne sie zuweilen etwas salopp: die scheinbar Nichtbehinderten –, wie sie für andere Menschen eine Selbstverständlichkeit ist.

Barrierefreiheit
Meint den gleichberechtigten Zugang zu Angeboten der Öffentlichkeit, also zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschliesslich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind oder bereitgestellt werden.

Recht auf Bildung
Die Vertragsstaaten müssen ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslange Fortbildung gewährleisten.

Recht auf Arbeit und Beschäftigung
Die Vertragsstaaten müssen das gleichberechtigte Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit anerkennen. Hierzu müssen die Vertragsstaaten insbesondere Rechtsvorschriften erlassen, welche Diskriminierung auf Grund einer Behinderung in allen Fragen der Beschäftigung jeder Art verbieten, einschliesslich der Bedingungen in Bezug auf Rekrutierung, Einstellung und Beschäftigung, Weiterbeschäftigung, Aufstieg sowie sichere und gesunde Arbeitsbedingungen.

Die paar wenigen Beispiele machen einerseits deutlich, wie viele Selbstverständlichkeiten für Menschen mit Behinderung eben alles andere als selbstverständlich sind, z.B. die Selbstbestimmung. Anderseits zeigen die Beispiele, wie weitreichend und modern die UNO-Konvention die Themen angeht und benennt.

Seit dem Jahr 2008 ist die UNO-Behindertenkonvention in Kraft, denn im April jenes Jahres hatten zwanzig Staaten die Konvention ratifiziert. Inzwischen haben 147 Staaten unterzeichnet und deren 99 die Konvention ratifiziert, darunter die Europäische Union, aber auch Staaten wie Äthiopien, Haiti, Indien (eine vollständige Liste gibt es hier). Die Schweiz gehört nicht zu den Unterzeichnern – bis jetzt … Sie ist diesbezüglich unter den „zivilisierten Ländern“ in einer Aussenseiterposition. Was die Dominanz der bürgerlichen Parteien nicht alles für Folgen hat …

***

Nochmals: Die Online-Petition zugunsten der UNO-Behindertenkonvention kann hier unterschrieben werden. Kleiner Aufwand – (womöglich) grosse Wirkung! – Und die Zeit drängt.

Ernährungssouveränität vs. Agrarfreihandel

Die industrielle Landwirtschaft, die mit dem Agrarfreihandel einhergeht, führt eindeutig in eine Sackgasse. Sie missachtet die Würde von Pflanzen und Tieren, ja, der Erde als ganzes. Sie beutet aus, statt zu pflegen. Sie missbraucht und zerstört. Und im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung der Landwirtschaft wird ein paar wenigen Firmen und Grossgrundbesitzern zugeschlagen, was der ganzen Menschheit gehört: die Natur. Das politische Konzept der Ernährungssouveränität will da Gegensteuer geben.

Befürworter der hochtechnisierten Landwirtschaft, der sogenannten grünen Revolution in den Ländern des Südens, argumentieren, ohne die damit verbundene Leistungssteigerung könne die Menschheit gar nicht mehr ernährt werden. Doch diese Aussage streut uns gleich in zweifacher Weise Sand in die Augen: Sie suggeriert zunächst, die Förderer der industriellen Landwirtschaft handelten aus selbstlosen, womöglich gar humanitären Motiven. Ferner lässt sie uns im Glauben, das Welthungerproblem sei darauf zurückzuführen, dass es – global gesehen – zu wenig Nahrungsmittel gebe.

Industrielle Landwirtschaft …

Agrarindustrie verdrängt Kleinbauern
Beides ist nachweislich falsch. Ja, die industrialisierte Landwirtschaft und die damit verbundene Liberalisierung des Agrarhandels sind im Gegenteil eine der Ursachen für chronische Ernährungskrisen in manchen Weltgegenden.[1] Die Agrarindustrie verdrängt radikal die kleinräumige Landwirtschaft – entweder physisch oder über ihre konkurrenzlosen, teils über Subventionen zusätzlich verbilligten Preise – und stösst weltweit Millionen von Kleinbauern in den Ruin. Auch ökologisch ist sie mit ihren Monokulturen eine reine Katastrophe. Und sie schafft unnötige Abhängigkeiten von globalisierten Nahrungsmittel- und Saatgutmärkten – und liefert so insbesondere die ärmere Bevölkerung den damit verbundenen Spekulationen aus.[2]

Ernährungssouveränität als emanzipatorisches Projekt
Das Konzept der Ernährungssouveränität möchte die Entscheidungsgewalt über die Landwirtschaftspolitik dem Welthandel und seinen Organisationen wieder entreissen und den einzelnen Ländern und Regionen, ja, letztlich dem Individuum zurückgeben. Ernährungssouveränität ist das Recht der einzelnen Menschen, der Gemeinschaften, Völker und Staaten, auf demokratische Weise ihre eigene Landwirtschafts- und Ernährungspolitik festzulegen. Sie beinhaltet sowohl das Recht auf Nahrung wie das Recht, Nahrungsmittel zu produzieren. Das Konzept gilt grundsätzlich für arme und reiche Länder und ist nicht als Patentrezept und politischer Werkzeugkasten gedacht. Trotzdem enthält es Prinzipien und Strategien, die in aller Kürze so charakterisiert werden können[3]:

  • Fokus auf lokale Märkte und gerechte Handelsbeziehungen
  • gesicherter Zugang zu den natürlichen und genetischen Ressourcen, zu Krediten und Bildung für alle LebensmittelproduzentInnen
  • Umstellung auf ökologische, vielfältige, bäuerliche Produktion, was sich auch in der Agrarforschung niederschlagen muss.
  • Das Menschenrecht auf Nahrung hat Priorität vor anderen bi- oder multilateralen Abkommen.

Als erste hat die internationale Kleinbauern- und Landlosenorganisation Via Campesina, ein Zusammenschluss von mehr als hundert Kleinbauern-, Landarbeiter-, Landlosen- und Indigenenorganisationen aus Europa, Amerika, Afrika und Asien, das Konzept geprägt. Das ist nun 15 Jahre her, und inzwischen ist die Idee flügge geworden und beeinflusst Entscheidungen zum Beispiel auch in UNO-Gremien. Und dabei steht die Ernährungssouveränität deutlich dem Begriff der Ernährungssicherheit entgegen, erweitert diesen um eine entscheidende Dimension: um die Dimension der Emanzipation, der Selbstermächtigung der Menschen, die wieder die Kontrolle über die Produktion und Vermarktung der Nahrungsmittel zurückgewinnen.

… vs. kleinräumige Landwirtschaft

Was Ernährungssouveränität nicht ist
Ernährungssouveränität ist allerdings nicht mit Selbstversorgung gleichzusetzen. Vielmehr geht es darum, selbstbestimmt zu entscheiden, wie viel Handel und wie viel Selbstversorgung für die jeweilige Region sinnvoll sind. Ernährungssouveränität ist auch kein nationalistisches Konzept, um Märkte und Gesellschaften abzuschotten. Sie basiert auf internationaler Solidarität unter den BäuerInnen und auf den Erkenntnissen und Erfahrungen, die mit dem internationalen und liberalisierten Handel gewonnen wurden. Die lokalen Beziehungen, besonders zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen, sollen gestärkt werden, damit diese den globalen Herausforderungen begegnen können. Der überregionale, ja internationale Handel mit Lebensmitteln kann als zusätzliche Möglichkeit durchaus ins Auge gefasst werden. Manche Regionen, wenn man zum Beispiel an Wüsten denkt, sind gar auf diesen überregionalen Handel angewiesen. Doch auch dieser Handel muss gerechten Bedingungen unterliegen und den BäuerInnen ein faires Einkommen sichern.

Eine regionale, kleinräumige Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln ist unter vielen Gesichtspunkten deutlich sinnvoller als eine von aussen aufgenötigte Versorgung durch die Agrarweltkonzerne. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass nicht nur der Weltagrarbericht 2008, sondern ebenso der UNO-Klimabericht 2007 ohne Wenn und Aber für die kleinräumige Landwirtschaft eine Lanze brechen. Diese gibt nicht nur wirtschaftlich mehr Sinn, sondern ist auch ökologisch verantwortungsvoller.


[1] Siehe dazu: http://www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichtes/baeuerliche-und-industrielle-landwirtschaft.html.
[2] Siehe zum Beispiel „FAO will Spekulation mit Lebensmitteln bekämpfen“ auf tagesschau.de ((Link nicht mehr verfügbar))
[3] Gemäss dem Positionspapier von Swissaid zum Konzept der Ernährungssouveränität (PDF, 52 KB).

Bilder (CC-Lizenz) via Flickr: oben links tpmartins; unten rechts pfatter

Wachstum ≠ Fortschritt

Endlich wird von höchster Stelle bestätigt, was vielen schon lange schwant und manchen Gewissheit ist: Fortschritte bei der menschlichen Entwicklung sind auch ohne rasches Wirtschaftswachstum möglich – und starkes Wachstum führt nicht unbedingt zu besseren Entwicklungsbedingungen für die Menschen. Dies macht der neueste Bericht der Vereinten Nationen zur menschlichen Entwicklung klar: „Eines der überraschendsten Ergebnisse der Forschung zu menschlicher Entwicklung in jüngster Zeit ist die fehlende signifikante Korrelation zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Verbesserungen im Gesundheits- und Bildungsbereich.“[1]

Auch demokratische Teilhabe und gerechte Verteilung sind ohne grosses Wirtschaftswachstum möglich, und die grössten Entwicklungsfortschritte geschehen mitunter in Ländern ohne rasantem Wirtschaftswachstum, zum Beispiel in Nepal und Tunesien, wobei Entwicklung anhand des Human Development Index (HDI) abgebildet wird, der die Lebensqualität des Menschen umfassender wiedergibt als etwa das Bruttoinlandprodukt, das zum Beispiel die Weltbank beim Ländervergleich verwendet.

Der Human Development Index widerspiegelt neben wirtschaftlichen Faktoren auch solche der Lebenserwartung und des Bildungsgrades. Neu sollen auch Ungleichheiten in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Einkommen in den Index einfliessen, denn Durchschnittswerte sind gerade in diesen Zeiten der sich öffnenden Einkommensschere oft trügerisch.

Womöglich trägt die Entzauberung des Wirtschaftswachstums als Entwicklungsmotor dazu bei, vermehrt den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, gerade im Wirtschaftlichen, was ja durchaus ein Gebot der Logik und der Vernunft wäre.

Man wird ja wohl noch träumen dürfen …


Fussnote:

[1] Kurzfassung des Human Development Report in deutscher Übersetzung, S. 14. (PDF, 3,5 MB)

Weiterführende Links: