Wort des Monats: Eskalation

Eskalation f. ‹stufenweise Steigerung›, besonders ‹schrittweise Verschärfung, Zuspitzung eines militärischen oder politischen Konflikts›, Entlehnung (wohl nach 1960) von gleichbed. engl. escalation. Dieses rasch internationale Verbreitung findende engl. Substantiv schließt sich offenbar an engl. escalator ‹Rolltreppe› an, eine ursprünglich amerik.-engl. Bildung nach dem Muster von engl. elevator ‹Fahrstuhl, Aufzug, Hebewerk› (zu lat. ēlevāre ‹emporheben, wegnehmen, mindern›) auf der Grundlage von engl. to escalade ‹ersteigen, erstürmen›. Voraus geht engl. escalade ‹Ersteigung, Überwinden der Festungsmauer mit Sturmleitern›, nach gleichbed. mfrz. frz. escalade, das letztlich auf lat. scālae Plur. ‹Leiter, Stiege› beruht. Dazu eskalieren Vb. ‹etw., sich stufenweise steigern, allmählich verschärfen› (70er Jahre des 20. Jhs.). (Aus DWDS, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache)

Die Gegenwart ist von unterschiedlichen Szenarien der Eskalation geprägt. Nicht nur die beiden Kriege in Nahost und der Ukraine schüren unsere Ängste und unser Entsetzen – und tragen erhebliches Potenzial der weiteren Zuspitzung in sich. Auch das Klima im meteorologischen wie im gesellschaftlichen Sinn steuert auf Kipppunkte zu, die uns fassungslos machen können und auf die wir gebannt blicken wie die sprichwörtliche Maus auf die Schlange. Vom meteorologischen Klimawandel brauchen wir hier nicht zu sprechen. Es ist schon so viel dazu gesagt worden. Doch auch die Zuspitzung des gesellschaftlichen Klimas ist nicht zu übersehen: Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer mehr, wobei die Armut immer bitterer wird und der Reichtum immer groteskere Formen annimmt. Damit einher geht eine Polarisierung der Menschen- und Weltbilder ebenso wie der Lösungsansätze und politischen Massnahmen, die sich daraus ergeben. Damit einher geht auch eine Verrohung, wie wir sie nicht mehr für möglich gehalten haben.

Der Eskalation etwas entgegensetzen

Schicksalsergeben könnten wir feststellen, dass die Geschichte seit je her eine Aneinanderreihung von Eskalation, Zerstörung und Wiederaufbau ist. Wobei dem Wiederaufbau bereits das nächste Eskalationspotenzial innewohnt. Und so weiter und so fort. Wie eine Naturgewalt, scheinbar unvermeidlich und unaufhaltsam kommt es zur Eskalation. Dabei geht oft vergessen, dass es einzelne Menschen sind, die an der Schraube der Eskalation drehen und dabei ihre ureigenen Interessen wahrnehmen. Macht und Eskalation sind ein Paar, das sich Treue geschworen hat.

Das heisst aber auch, dass wir der Eskalation etwas entgegensetzen können, dass sie weder Naturgewalt noch Schicksal ist. Nicht so laut und grell wie die eskalierenden Kräfte sind jene, die auszugleichen und zu verbinden suchen. Sie sind Soft Power wie etwa die palästinensisch-israelische Graswurzelbewegung Combatants for Peace, zu einem guten Teil bestehend aus ehemaligen palästinensischen Widerstandskämpfern und Angehörigen der israelischen Streitkräfte. Sie haben die gegenseitige Gewalt hautnah miterlebt und sind zur Überzeugung gelangt, dass sich der Israel-Palästina-Konflikt nicht mit Waffengewalt lösen lässt. Sie treten konstruktiv für ein Ende der israelischen Besatzung, für Gewaltfreiheit, für Gerechtigkeit und Dialog zwischen israelischer und palästinensischer Bevölkerung ein und sind in gemischten Regionalgruppen in Israel und dem Westjordanland organisiert. Ihre Kraft ist jene der Begegnung.

Drei Tage nach dem brutalen Angriff der Hamas auf den Süden Israels und der harschen Antwort des israelischen Militärs mit unzähligen zivilen Opfern im Gazastreifen meldeten sich die Combatants for Peace mit einem beharrlichen «Wir glauben immer noch an einen anderen Weg»:

Dies ist nicht der Zeitpunkt für Rache oder kollektive Bestrafung von Unschuldigen. Die einzige Lösung ist die Beendigung der Besatzung. Wir rufen auf zur Gewaltlosigkeit, zu einem neuen Sinn für Menschlichkeit und zu besseren Tagen für alle unsere Kinder. Unsere Bewegung weiß, dass es ohne ein Ende der Besatzung keine Zukunft gibt. Wir haben fast sechs Jahrzehnte militärischer Kontrolle über eine gesamte Zivilbevölkerung und eine erstickende, unerträgliche Blockade des Gazastreifens seit 16 Jahren erlebt. Combatants for Peace wurde vor fast 20 Jahren von denjenigen gegründet, die aus erster Hand wissen, dass Gewalt nur Gewalt erzeugt, dass niemand im Krieg gewinnt und dass wir alles Leben schützen müssen, indem wir einen anderen Weg finden. Wir glauben immer noch an einen anderen Weg, auch jetzt, besonders jetzt.

Gegen den Hass anschreiben

Interventionen gegen die Eskalation finden sich vielenorts. Zweifellos sind es eher leise Stimmen im Gebrüll der kriegstrunkenen Gegenwart. Doch sie sind nicht zu leugnen. Und sie sind vielfältig. Schaut man genauer hin, so entdeckt man im Kleinen Grosses. Wer würde in diesen Tagen ausgerechnet einem Buch zutrauen, dass es sich voraussichtlich mit Erfolg der Atmosphäre der Rache und des Hasses entgegenstellt? Ich spreche von Salman Rushdies neuestem Buch «Knife», den «Gedanken nach einem Mordversuch». Wie wir wissen, wurde Rushdie am 12. August 2022, über dreissig Jahre nach einer Fatwa, einem islamistischen Mordaufruf, auf einer Vortragsbühne in den Vereinigten Staaten von einem Attentäter mit unzähligen Messerstichen schwer verletzt. Nur mit viel Glück überlebte er, ist aber von bleibenden Verletzungen gezeichnet.

In seinem neuesten Buch verarbeitet er diese Erfahrung literarisch. Doch statt eine wütende Abrechnung zu schreiben, stellt Rushdies «‹Knife› der Gewalt des Attentäters und dem Plot des Attentats drei radikal abweichende Konzepte entgegen: jenes der Liebe, des Lebens und der Kunst», so Daniel Graf in einer hervorragenden Buchrezension im Onlinemagazin Republik). Es braucht menschliche Grösse, um sich nicht von der Spirale der Eskalation mitreissen zu lassen und Rachegedanken und dem Hass zu verfallen. Rushdie tat stattdessen das, was er am besten konnte: Er schrieb sein persönlichstes Buch – über das Attentat, das auch, aber hauptsächlich über die Liebe und die Kunst.

Erst wenn ich mich mit dem Attentat auseinandergesetzt hatte, würde ich mich wieder mit anderem befassen können. Ich würde das Buch schreiben müssen, das Sie jetzt lesen, denn das Schreiben war mein Weg, das Vorgefallene anzuerkennen, die Kontrolle zurückgewinnen, mir das Geschehene anzueignen und nicht ein bloßes Opfer zu sein. Auf Gewalt wollte ich mit Kunst antworten.

Kreuzzug gegen Homöopathie & Co.

Die Homöopathie und andere komplementärmedizinische Angebote geraten zunehmend unter Druck. da sie angeblich ihre Wirksamkeit nicht nachweisen können und nur Kosten verursachen. In Frankreich und anderen Ländern müssen homöopathische Mittel nicht mehr vergütet werden. In Grossbritannien geriet der Verband der Homöopathen selbst ins Visier des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS.[1] In der Schweiz gibt es zwar auch eifrige Stimmen gegen Homöopathie & Co., doch noch sind die entsprechenden ärztlichen Leistungen durch die Grundversicherung gedeckt. Wie lange noch? Und wo liegt das Problem? – Ein Überblick.

Die Homöopathie steht von den komplementärmedizinischen Angeboten am meisten unter Beschuss. Ihre Arzneien sind oft so stark verdünnt – potenziert, wie die Homöopathen sagen –, dass vom Ausgangsstoff kaum noch oder gar keine Moleküle mehr vorhanden sind. Für die Kritiker der Homöopathie ist deshalb klar, dass die Medikamente nicht wirken können. Wo kein Stoff ist, kann es keine Wirkung geben. Allfällige Erfolge der Homöopathie seien auf den Placeboeffekt zurückzuführen, also auf die Tatsache, dass Mittel ohne Wirkstoff eine rein suggestive Wirkung erzielen können, wenn man nur fest daran glaubt.

Auch wenn diese Argumentation immer und immer wieder kolportiert und von den Medien gerne aufgegriffen wird, ist sie nicht haltbar. Es gibt ausreichend klinische Studien, die einen therapeutischen Effekt homöopathischer Medikamente über den Placeboeffekt hinaus klar nachweisen.[2] Auch Metastudien, also wissenschaftliche Studien, die bereits publizierte Studien zu einem bestimmten Thema in einer Art Zusammenschau bewerten, kommen zum Schluss, dass homöopathische Medikamente wirksam sind, wenn spezifische Krankheitsbilder im Fokus stehen.[3]

Wirkmechanismus ist nach wie vor unklar

Die wissenschaftliche Herausforderung im Zusammenhang mit der Homöopathie besteht nicht mehr darin aufzuzeigen, dass ihre Arzneien wirken, sondern darin, schlüssig herauszuarbeiten, wie sie wirken. Vier Forschungsansätze zu dieser Frage stehen im Zentrum:

Trotz erheblicher Fortschritte in den letzten Jahren konnte sich kein theoretisches Modell der Wirkmechanismen bei homöopathischen Anwendungen etablieren. Dies allerdings darf der Homöopathie nicht zum Vorwurf gemacht werden. Vielmehr ist das ein üblicher Zwischenstand in der wissenschaftlichen Forschung und gilt im Übrigen auch für viele andere Wirkstoffe der Pharmakologie, auch wenn sie von den Arzneimittelbehörden genehmigt sind.

Zweifelhafte Argumente

Erstaunlich ist, mit welcher Vehemenz die Gegnerschaft der Homöopathie ihre (falsche) Behauptung von der Unwirksamkeit der entsprechenden Heilmittel in die Welt setzt und oft zugleich versucht, auch weitere komplementärmedizinische Therapien in Misskredit zu bringen. Man bekommt den Eindruck, dass es sich hier um eine Art Hexenjagd handelt, zumal ein zweites wichtiges Argument der Gegner – diese Therapierichtungen würden hohe Kosten verursachen, obschon sie nichts bewirkten –, in sich zusammenfällt, wenn man den lächerlichen Anteil der Kosten der Komplementärmedizin an den gesamten Gesundheitskosten betrachtet. In der Schweiz setzen die Krankenkassen gerade mal 0.05 Prozent, also ein halbes Promille ihrer Gesamtausgaben für komplementärmedizinische Angebote ein (18 Millionen Franken von 40 Milliarden Franken).[4]

Was die Gegnerschaft der Homöopathie und im weiteren Sinn der Komplementärmedizin antreibt, kann nur spekuliert werden. Ist es ein allein selig machender Anspruch der Naturwissenschaft, die, einer Religion gleich, die Gegenwart mit (materialistischen) Dogmen zu beherrschen sucht, ganz nach dem Motto: «Ohne Stoff keine Wirkung»? Oder steht hinter den Gegnern die mächtige Pharmalobby, die im Arzneimittelmarkt keine Konkurrenz duldet?

Für ein gesundes Gesundheitswesen

Tatsache ist, dass die Komplementärmedizin bei den PatientInnen sehr beliebt ist. In der Schweiz stimmten im Jahr 2009 ganze 67 Prozent der Abstimmenden für den Verbleib der klassischen Homöopathie, der anthroposophischen Medizin, der Akupunktur und der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) in der Grundversicherung. Bis jetzt wagt niemand, dieses klare Verdikt politisch in Frage zu stellen.

Die Komplementärmedizin setzt deutlich weniger auf Konkurrenz als ihre Gegner. Sie versteht ihre Angebote und Heilmittel als Ergänzung – komplementär – zur klassischen Schulmedizin und nicht als Alternative. (Der Begriff der Alternativmedizin ist diesbezüglich irreführend.) Den Patientinnen und Patienten dient ein solches Zusammengehen am meisten. Denn die Vielfalt der Therapiemöglichkeiten und ihre freie Wahl ist die Voraussetzung für ein gesundes Gesundheitswesen.


Anmerkungen:

[1] https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2019/az-45-2019/uk-nhs-gegen-homoeopathie

[2] Siehe dazu eine auch für den interessierten Laien nachvollziehbare Zusammenstellung des Instituts für Komplementäre und Integrative Medizin der Uni Bern: https://www.ikim.unibe.ch/forschung/uebersichten_zum_stand_der_forschung/homoeopathie/index_ger.html

[3]https://www.ikim.unibe.ch/forschung/uebersichten_zum_stand_der_forschung/homoeopathie/metaanalysen_zu_spezifischen_krankheitsbildern/index_ger.html

[4] https://www.nzz.ch/schweiz/zehn-millionen-franken-fuer-zuckerkuegelchen-ist-das-zu-viel-ld.1775951

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Wort des Monats: Frühling

Europas Bauern in der Sackgasse

Die aktuellen Bauernproteste sind offenbar ansteckend. Seit die niederländischen Bauern letztes Jahr teils gewaltsam protestierten, weil die Behörden den Stickstoffnotstand ausgerufen hatten und den Viehbestand in Hollands Ställen massiv verringern wollten, verbreiten sich die Proteste der Bauern in ganz Europa. Steine des Anstosses sind Umweltauflagen, bürokratische Hürden, Subventionskürzungen und der Zerfall der Produzentenpreise. Wut und Verzweiflung der Bauern münden oft in rohe Gewalt. Was läuft hier falsch? – Der Versuch einer Deutung.

Lange Zeit galt die niederländische Landwirtschaft als modern und zukunftsgerichtet. Ihre Produktivität war unvergleichlich. Zugleich flossen die Subventionen seitens der EU in Strömen, zumindest zu den grössten Betrieben. Der Umbau hin zur unternehmerischen Landwirtschaft, verbunden mit einer Spezialisierung auf wenige Produktionszweige, wurde durch diese Geldströme befeuert. Auf der Strecke blieb die bäuerliche, kleinräumige Landwirtschaft. Sie konnte im Preiskampf nicht mithalten. Viele Kleinbauern waren vor die Wahl gestellt, entweder aufzugeben oder zu expandieren. «Wachse oder weiche», war die Forderung der Zeit. Die bäuerliche Landwirtschaft wurde ab den 1960er Jahren zunehmend an den Rand gedrängt, die unternehmerische bis hin zur industriellen Landwirtschaft immer dominanter, nicht nur in den Niederlanden.

Der Preis dieses industriellen Modells, das grossflächige Bewirtschaftung und einen bedeutenden technischen Aufwand voraussetzt, ist fatal, und zwar für alle Beteiligten: Die Böden verarmen und können nur mit bedeutendem Aufwand an Düngemitteln bewirtschaftet werden. Die grossflächigen Monokulturen sind anfällig für Krankheiten und Schädlinge, was zu massivem Einsatz von Pestiziden führt. Die Umwelt leidet drastisch unter der industriellen Landwirtschaft. Kommt hinzu, dass die Umstellung hin zu diesem landwirtschaftlichen Modell kapitalintensiv ist und zur Abhängigkeit der Bauern von Banken und grossen Agrarkonzernen führt. Ferner hat die Produktivitätssteigerung eine entsprechende Mengenausweitung der Agrarprodukte zur Folge – und damit ihr Preiszerfall.

Die industrielle Landwirtschaft als Fehlentwicklung

Die grossflächige, industrielle Landwirtschaft, lange von Staates wegen gehätschelt und gefördert, stösst an ihre Grenzen und gerät in Konflikt mit den gesellschaftlichen Bestrebungen wie dem Umweltschutz und der Eindämmung der Klimakrise. Die Wirtschaftsweise der Bauern, die heute mit ihren schweren Traktoren die Autobahnen blockieren, wird zum Auslaufmodell. Die industrielle Landwirtschaft ist zeitfremd geworden. Was in den letzten Jahrzehnten mit riesigem finanziellen und technischem Aufwand aufgebaut worden ist, erweist sich nun als Fehlentwicklung.

Kein Wunder, sind die Frustrationen der Bauern gross. Ihr Lebenswerk und ihre wirtschaftliche Existenz stehen auf dem Spiel. Sie fordern ihr «Recht» ein, diesen Pfad, der nun mal eingeschlagen wurde, weiterzuverfolgen. Bei den niederländischen Bauern äussert sich dies zum Beispiel in der Weigerung, ihren Viehbestand zu verringern, obschon die Stickstoffkrise so weit fortgeschritten ist, dass immer mehr Gebiete in den Niederlanden regelrecht sticksoffverseucht sind.

Antidemokratische Proteste

Die protestierenden Bauern – weit über die Niederlanden hinaus – stellen sich als Opfer dar, die der Willkür des Staates ausgeliefert sind und fordern letztlich, ihre Art des Wirtschaftens fortführen zu dürfen, obschon sie den gesellschaftlichen Interessen widerspricht. Die Proteste tragen somit in sich einen antidemokratischen Kern. Und die Behörden knicken vor der schieren Gewalt der Proteste ein und buchstabieren in Sachen Umweltschutz zurück, statt die Landwirtschaft neu zu denken, damit sie zukunftstauglich wird. Die Erkenntnisse sind vorhanden, Lösungswege längst auf dem Tisch.

Ein Umbau der Landwirtschaft hin zu kleinräumigeren Strukturen ist notwendig. Denn hier liegt das landwirtschaftliche Modell, das zukunftsfähig ist und mit den gesellschaftlichen Bestrebungen hin zum Schutz der Umwelt und des Klimas im Einklang ist. Schon der Weltagrarbericht des Jahres 2008, ausgearbeitet vom Weltagrarrat, der von der Weltbank und den Vereinten Nationen ins Leben gerufen wurde, fordert eine weltweite Förderung der Kleinbauern, um die Hungerkrise zu überwinden und gleichzeitig eine ökologisch Landwirtschaft zu ermöglichen. Die Zukunft gehört den Kleinbauern, nicht den Agrarmultis.


Quellen:

Bildnachweis: German farmers, von conceptphoto.info, CC-Lizenz via flickr.com

Meine Morgenseiten

Seit über einem Jahr schreibe ich regelmässig die «Morgenseiten», eine liebgewordene Gewohnheit, zugleich eine Art Meditation und Übung im intuitiven Schreiben. Wichtig dabei ist, dass das Schreiben fliesst wie ein Bergbach im Sommer: lustig plätschernd, aber ohne Schnellen und Sturzbäche. – Ein Erfahrungsbericht.

Frühmorgens lausche ich auf meinen Bewusstseinsstrom und schreibe auf, was ich höre. Ein seltsames Geschäft, denn das, was jedem Menschen frühmorgens widerfährt – dass das Bewusstsein strömt –, nehme ich besonders ernst, so ernst, dass ich meine, es lohne sich, diesen Strom zu Protokoll zu nehmen. Zugleich verleihe ich ihm eine gewisse Sorgfalt. Der Bewusstseinsstrom fliesst in geordneteren Bahnen, als wenn ich ihm meine Aufmerksamkeit vorenthielte. Das Bewusstsein würde irrlichtelieren. Dieses alte Wort verdeutlicht schön, was mit dem Bewusstsein für gewöhnlich durch den lieben langen Tag geschieht: Wie ein umherirrendes oder gar irres Licht springt es von Gedanken zu Gedanken, dass einem schwindlig werden könnte. Die Morgenseiten wirken dem entgegen, solange man im Schreibfluss ist.

Es schreibt

Und tatsächlich ist es mit etwas Übung nicht schwer, auf diese Art in den Schreibfluss – in den Flow – zu kommen. Ich staune, wie leicht es mir fällt, bin ich erst von der Absicht befreit, ein Meisterwerk schreiben zu müssen. Das Schreiben macht richtig Spass. Was ich sonst als Ringen, zuweilen als Kampf erlebe, fliesst hier flott dahin. Hinzu kommt die Zügelung des Bewusstseinsstroms, eine Form der Meditation. Allerdings muss ein Soll erfüllt sein, zum Beispiel eine ganze A4-Seite, und dies möglichst in einer halben Stunde. Das erzeugt Druck, vorwärtszuschreiben. Gar nicht so schlecht. Das treibt den Schreibfluss an, verleiht ihm Dynamik. Es bleibt keine Zeit, lange zu überlegen. Es schreibt. Allerdings schreibe ich weniger gehetzt als beim Automatischen Schreiben. Zwischendurch erlaube ich mir ein kurzes Innehalten, um nach einem treffenderen Ausdruck zu suchen. Die Morgenseiten sind mir zu einer angenehmen Pflicht geworden.

Zuweilen schreibe ich die Morgenseiten allerdings erst nach dem Frühstück. Ein rebellischer Akt, der sich gegen die schreiberische Sklaverei der Morgenseiten richtet, die verlangt, dass die Morgenseiten vor dem Frühstück zu schreiben sind. Nun ja, kein Akt mit überbordender rebellischer Kraft. Wenn ich die Morgenseiten erst gegen Mittag schreiben würde – oder gar abends, dann wäre dies eher ein revolutionärer Akt. Und wenn ich sie verweigere, ist das eine Art Hungerstreik, zumindest aber Fasten.

Wenn ich nicht faste, schreibe ich sie am Morgen, die Morgenseiten. Und ich tue es mit Schwung. Ich kann mich also nicht verknoten im Bemühen, eine perfekte Formulierung zu finden, muss nicht auf dem Ende eines Bleistifts herumkauen, bis es im Mund nach feuchtem Holz schmeckt. Wetten, ihr kennt diesen Geschmack aus vergangenen Tagen?