Wort des Monats: Eskalation

Eskalation f. ‹stufenweise Steigerung›, besonders ‹schrittweise Verschärfung, Zuspitzung eines militärischen oder politischen Konflikts›, Entlehnung (wohl nach 1960) von gleichbed. engl. escalation. Dieses rasch internationale Verbreitung findende engl. Substantiv schließt sich offenbar an engl. escalator ‹Rolltreppe› an, eine ursprünglich amerik.-engl. Bildung nach dem Muster von engl. elevator ‹Fahrstuhl, Aufzug, Hebewerk› (zu lat. ēlevāre ‹emporheben, wegnehmen, mindern›) auf der Grundlage von engl. to escalade ‹ersteigen, erstürmen›. Voraus geht engl. escalade ‹Ersteigung, Überwinden der Festungsmauer mit Sturmleitern›, nach gleichbed. mfrz. frz. escalade, das letztlich auf lat. scālae Plur. ‹Leiter, Stiege› beruht. Dazu eskalieren Vb. ‹etw., sich stufenweise steigern, allmählich verschärfen› (70er Jahre des 20. Jhs.). (Aus DWDS, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache)

Die Gegenwart ist von unterschiedlichen Szenarien der Eskalation geprägt. Nicht nur die beiden Kriege in Nahost und der Ukraine schüren unsere Ängste und unser Entsetzen – und tragen erhebliches Potenzial der weiteren Zuspitzung in sich. Auch das Klima im meteorologischen wie im gesellschaftlichen Sinn steuert auf Kipppunkte zu, die uns fassungslos machen können und auf die wir gebannt blicken wie die sprichwörtliche Maus auf die Schlange. Vom meteorologischen Klimawandel brauchen wir hier nicht zu sprechen. Es ist schon so viel dazu gesagt worden. Doch auch die Zuspitzung des gesellschaftlichen Klimas ist nicht zu übersehen: Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer mehr, wobei die Armut immer bitterer wird und der Reichtum immer groteskere Formen annimmt. Damit einher geht eine Polarisierung der Menschen- und Weltbilder ebenso wie der Lösungsansätze und politischen Massnahmen, die sich daraus ergeben. Damit einher geht auch eine Verrohung, wie wir sie nicht mehr für möglich gehalten haben.

Der Eskalation etwas entgegensetzen

Schicksalsergeben könnten wir feststellen, dass die Geschichte seit je her eine Aneinanderreihung von Eskalation, Zerstörung und Wiederaufbau ist. Wobei dem Wiederaufbau bereits das nächste Eskalationspotenzial innewohnt. Und so weiter und so fort. Wie eine Naturgewalt, scheinbar unvermeidlich und unaufhaltsam kommt es zur Eskalation. Dabei geht oft vergessen, dass es einzelne Menschen sind, die an der Schraube der Eskalation drehen und dabei ihre ureigenen Interessen wahrnehmen. Macht und Eskalation sind ein Paar, das sich Treue geschworen hat.

Das heisst aber auch, dass wir der Eskalation etwas entgegensetzen können, dass sie weder Naturgewalt noch Schicksal ist. Nicht so laut und grell wie die eskalierenden Kräfte sind jene, die auszugleichen und zu verbinden suchen. Sie sind Soft Power wie etwa die palästinensisch-israelische Graswurzelbewegung Combatants for Peace, zu einem guten Teil bestehend aus ehemaligen palästinensischen Widerstandskämpfern und Angehörigen der israelischen Streitkräfte. Sie haben die gegenseitige Gewalt hautnah miterlebt und sind zur Überzeugung gelangt, dass sich der Israel-Palästina-Konflikt nicht mit Waffengewalt lösen lässt. Sie treten konstruktiv für ein Ende der israelischen Besatzung, für Gewaltfreiheit, für Gerechtigkeit und Dialog zwischen israelischer und palästinensischer Bevölkerung ein und sind in gemischten Regionalgruppen in Israel und dem Westjordanland organisiert. Ihre Kraft ist jene der Begegnung.

Drei Tage nach dem brutalen Angriff der Hamas auf den Süden Israels und der harschen Antwort des israelischen Militärs mit unzähligen zivilen Opfern im Gazastreifen meldeten sich die Combatants for Peace mit einem beharrlichen «Wir glauben immer noch an einen anderen Weg»:

Dies ist nicht der Zeitpunkt für Rache oder kollektive Bestrafung von Unschuldigen. Die einzige Lösung ist die Beendigung der Besatzung. Wir rufen auf zur Gewaltlosigkeit, zu einem neuen Sinn für Menschlichkeit und zu besseren Tagen für alle unsere Kinder. Unsere Bewegung weiß, dass es ohne ein Ende der Besatzung keine Zukunft gibt. Wir haben fast sechs Jahrzehnte militärischer Kontrolle über eine gesamte Zivilbevölkerung und eine erstickende, unerträgliche Blockade des Gazastreifens seit 16 Jahren erlebt. Combatants for Peace wurde vor fast 20 Jahren von denjenigen gegründet, die aus erster Hand wissen, dass Gewalt nur Gewalt erzeugt, dass niemand im Krieg gewinnt und dass wir alles Leben schützen müssen, indem wir einen anderen Weg finden. Wir glauben immer noch an einen anderen Weg, auch jetzt, besonders jetzt.

Gegen den Hass anschreiben

Interventionen gegen die Eskalation finden sich vielenorts. Zweifellos sind es eher leise Stimmen im Gebrüll der kriegstrunkenen Gegenwart. Doch sie sind nicht zu leugnen. Und sie sind vielfältig. Schaut man genauer hin, so entdeckt man im Kleinen Grosses. Wer würde in diesen Tagen ausgerechnet einem Buch zutrauen, dass es sich voraussichtlich mit Erfolg der Atmosphäre der Rache und des Hasses entgegenstellt? Ich spreche von Salman Rushdies neuestem Buch «Knife», den «Gedanken nach einem Mordversuch». Wie wir wissen, wurde Rushdie am 12. August 2022, über dreissig Jahre nach einer Fatwa, einem islamistischen Mordaufruf, auf einer Vortragsbühne in den Vereinigten Staaten von einem Attentäter mit unzähligen Messerstichen schwer verletzt. Nur mit viel Glück überlebte er, ist aber von bleibenden Verletzungen gezeichnet.

In seinem neuesten Buch verarbeitet er diese Erfahrung literarisch. Doch statt eine wütende Abrechnung zu schreiben, stellt Rushdies «‹Knife› der Gewalt des Attentäters und dem Plot des Attentats drei radikal abweichende Konzepte entgegen: jenes der Liebe, des Lebens und der Kunst», so Daniel Graf in einer hervorragenden Buchrezension im Onlinemagazin Republik). Es braucht menschliche Grösse, um sich nicht von der Spirale der Eskalation mitreissen zu lassen und Rachegedanken und dem Hass zu verfallen. Rushdie tat stattdessen das, was er am besten konnte: Er schrieb sein persönlichstes Buch – über das Attentat, das auch, aber hauptsächlich über die Liebe und die Kunst.

Erst wenn ich mich mit dem Attentat auseinandergesetzt hatte, würde ich mich wieder mit anderem befassen können. Ich würde das Buch schreiben müssen, das Sie jetzt lesen, denn das Schreiben war mein Weg, das Vorgefallene anzuerkennen, die Kontrolle zurückgewinnen, mir das Geschehene anzueignen und nicht ein bloßes Opfer zu sein. Auf Gewalt wollte ich mit Kunst antworten.

Wort des Monats: UNRWA

Die UNRWA, das Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten steht wie die Bevölkerung im Gazastreifen unter Dauerbeschuss. Mehrere seiner Mitarbeiter seien am terroristischen Anschlag und Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 im Süden Israels beteiligt gewesen, so die israelische Regierung. Etliche westliche Staaten haben in der Folge ihre Zahlungen ans Hilfswerk eingestellt, darunter so wichtige wie die USA, Grossbritannien, Deutschland und Frankreich. Auch die Schweiz setzt die Zahlungen aus, bis weitere Informationen zu den Vorwürfe vorliegen. – Für die Bevölkerung im Gazastreifen droht eine weitere Katastrophe innerhalb der Tragödie des Gazakrieges.

Der Vorgang ist einmalig: Auf Verdacht hin, dass einige MitarbeiterInnen der UNRWA an den Anschlägen vom 7. Oktober beteiligt gewesen waren – es ist von zwölf Verdächtigen die Rede, das Hilfswerk hat im Gazastreifen 13’000 MitarbeiterInnen –, stoppen wichtige Geldgeber unmittelbar ihre Zahlungen, und das im Wissen, dass die UNRWA eines der wenigen Hilfswerke ist, die der bedrängten palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen humanitäre Hilfe zukommen lassen können.

Agnès Callamard, die Generalsekretärin von Amnesty International brachte es auf den Punkt: «Die Vorwürfe über die Beteiligung von UNRWA-Mitarbeitenden an den Anschlägen vom 7. Oktober sind schwerwiegend und müssen von unabhängiger Seite untersucht werden; jeder, gegen den genügende Beweise vorliegen, sollte in einem fairen Verfahren zur Rechenschaft gezogen werden. Die mutmasslichen Handlungen einiger weniger Personen dürfen jedoch nicht als Vorwand dienen, um lebensrettende Hilfe einzustellen. Dies könnte einer kollektiven Bestrafung gleichkommen.»

Zwischen den Fronten

Die UNRWA wurde als temporäres Hilfswerk der Vereinten Nationen im Jahr 1949 gegründet und hat den Auftrag, den registrierten palästinensischen Flüchtlingen in Jordanien, Syrien, Libanon, dem Gazastreifen und Westjordanland Unterstützung und Schutz zukommen zu lassen, bis die Frage der palästinensischen Flüchtlinge eine definitive Lösung gefunden hat. Seither wird ihr Mandat alle drei Jahre verlängert. Zu ihren Aufgabengebieten gehören unter anderem die Bildung, medizinische Versorgung, die Verbesserung der Infrastruktur in den Flüchtlingslagern, Vergabe von Kleinkrediten und die humanitäre Hilfe. Es ist unvermeidlich und dürfte auf der Hand liegen, dass es Berührungsflächen zwischen dem Hilfswerk und der in Gazastreifen regierenden Hamas gibt. Schon in der Vergangenheit geriet die UNRWA deshalb immer wieder zwischen die Fronten. Ihr wurde jeweils eine zu grosse Nähe zur Hamas vorgeworfen. Das Hilfswerk setzt sich zugunsten der palästinensischen Bevölkerung ein und ist dadurch anwaltschaftliche Partei. Sich von der Hamas im Gazastreifen abzugrenzen, ist eine riesige Herausforderung, die realistischerweise nicht vollständig zu leisten ist, zumal die Hamas nicht nur eine militärische Organisation ist, sondern auch eine Partei mit Regierungsgewalt und ein Hilfswerk.

Einige westliche Länder kommen ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber der UNRWA weiter nach oder stocken, wie etwa Spanien und Irland, ihre Gelder gar auf, da sie die wichtige humanitäre Bedeutung des Hilfswerks im Gazastreifen anerkennen. Die UNRWA ist eine der wenigen Stützen und darunter die wichtigste der leidgeprüften Bevölkerung im Gazastreifen.

Hilfloser Ruf nach einer Zweistaatenlösung

Das Existenzrecht des einen Volkes kann nicht gegen das des anderen aufgewogen werden. Die palästinensische wie die israelische Bevölkerung müssen in Sicherheit und Würde leben können. Diese Tatsache mag hinter dem etwas hilflos anmutenden Ruf nach einer Zweistaatenlösung stecken. Die Hilflosigkeit rührt daher, weil man selbst nicht mehr an eine solche Lösung glaubt und sich die gegenwärtige Regierung Israels dagegen stemmt. – Mit fatalen Folgen für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Sie wird von der Staatengemeinschaft im Stich gelassen.

Die Generalsekretärin von Amnesty International sagt dazu: «Es ist eine Schande, dass wichtige Staaten, darunter die Vereinigten Staaten, Kanada, das Vereinigte Königreich, Deutschland und Australien, der wichtigsten Hilfsorganisation für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen den Geldhahn zugedreht haben; dies nur wenige Tage nachdem der Internationale Gerichtshof (IGH) zum Schluss kam, dass das Überleben der Palästinenser*innen in Gaza gefährdet ist.»


Quellen:

Zum Spendenportal der UNRWA

 

Menschheit! Wohin?

Grosse Fragen schrecken mich nicht. Auch wenn mir klar ist, dass es darauf in der Regel nur kleine, bruchstückhafte Antworten gibt. Ein Leser meines Blogs und alter Freund hat die Frage aufgeworfen, ob angesichts der Weltlage wirklich bloss Pessimismus, nicht vielleicht auch Optimismus angebracht sei. Mag sein, dass die Frage falsch gestellt oder unbedeutend ist. Mag sein, dass sie gar zynisch anmutet angesichts all der Kriege und Zerstörung nah und fern. – Trotzdem hier der Versuch einer Antwort.

Mein ansonsten wetterfester Optimismus hat in den letzten Monaten und Jahren gelitten. Wie auch soll man angesichts der vielfältigen Herausforderungen und Krisen, die sich wie eine Monsterwelle vor uns auftürmen, frohgemut, ja optimistisch in die Zukunft blicken? Klimaerhitzung und systematische Zerstörung der Natur, Armut und Hunger, die sich ausbreiten, zunehmende Konflikte um Ressourcen, ein dysfunktionales Wirtschaftssystem, auch bekannt als Neoliberalismus, schleichende Verrohung unserer Gesellschaften, Kriege nach altem Muster, auch in Europa – man mag es nicht glauben und beobachtet es doch seit langem: Wir entwickeln uns zurück, hin in Richtung eines technisch bestens ausstaffierten Mittelalters. Zweifellos stecken wir in einer Systemkrise. Wenn das so weitergeht, geht es bald nicht mehr weiter.

Gibt es Gründe für Zuversicht?

Das zu meinem in die Enge getriebenen Optimismus. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass alles Wissen da ist, um es besser zu machen und die Menschheit in ein anderes Fahrwasser zu bringen: Gemeinwohlökonomie, Kreislaufwirtschaft, Basisdemokratie, Verwaltung von Regionen statt Nationen sind nur ein paar Stichworte dazu. Unzählige Bürgerbewegungen und Nichtregierungsorganisationen setzen sich für eine andere, für eine bessere Welt ein. Oft sind sie der einzige moralisch-ethische Kompass in unseren wohlstandsverwahrlosten Gesellschaften. Zwar scheinen sie nicht so wirkmächtig wie die Walze der Macht und des Kapitals, die uns in Richtung Abgrund schiebt, aber in homöopathischer Dosis verabreichen sie unseren Gesellschaften lebensspendende Medizin. Und wer sagt denn, dass Homöopathie nicht wirkt?

Wir wissen nicht, ob wir als Menschheit bald abstürzen werden – oder erst etwas später. Wir wissen nicht, ob wir doch noch die Kurve kriegen und eine Zivilisationswende schaffen, eine Wende, die womöglich kurz bevorsteht und praktisch alle Bereiche der Gesellschaft betreffen muss. Wir wissen bloss, dass wir auf einen Wendepunkt zurasen. Und wir können, wir müssen das Unsere dazu beitragen – und hoffen –, dass wir die Kurve kriegen.

Hoffen, dass sich die Balken biegen

Doch das können wir tun: in aller Bescheidenheit und im Kleinen unser Bestes geben und die Hoffnung nicht verlieren. Wenn wir die Hoffnung fahren lassen, dass eine bessere Welt möglich ist, haben wir schon verloren, von vornherein und ohne, dass ein Schuss gefallen ist. Und viele haben bereits aufgegeben. Das sieht zum Beispiel so aus: Man bestellt sich Popcorn und eine Cola und schaut dem Niedergang mit verhaltenem Interesse zu. Oder wir geben uns für die wenige Zeit, die uns mutmasslich noch bleibt, der Genusssucht hin, indem wir uns so richtig satt konsumieren, ganz nach dem Motto: Jetzt erst recht und nach uns die Sintflut!

Nein, die Hoffnung dürfen wir nicht fahren lassen. Dafür ist ein Quäntchen Optimismus vielleicht doch hilfreich. Noch besser: ein ganzer Korb davon. Es gibt ja auch tausend Gründe dafür, wenn man nur die Verdunklungsbrille ablegt und genauer hinschaut. (Siehe weiter oben!) Im Kleinen bin ich angetan von unserer Zeit und den Menschen um mich. Es sind auch schöne Entwicklungen im Gang, ein Wachsen in die richtige Richtung. Da glimmt ein grosses Potenzial. Doch wenn ich das grosse Ganze betrachte, muss ich mich mit aller Kraft festhalten an meinem Korb voller Optimismus und hoffen, dass sich die Balken biegen.

Im Luftschiff – Eine Parabel

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Unterwegs in einem verlotterten Luftschiff aus dem letzten Jahrhundert. Der Motor hustet und faucht, stösst dicke Rauchschwaden von sich, so dass wir Passagiere schon allein vom Atmen krank werden. Hinzu kommt die Dünung des Schiffs. Der steife Wind von rechts spielt uns übel mit. Manche krallen sich an die Reling, grün im Gesicht, und entlassen ihren Mageninhalt in die Tiefe, gekrümmt vor Schmerz und Verzweiflung. Andere beten in Richtung düsterem Himmel. Vielleicht das erste Mal in ihrem Leben. Allein die Vorstellung einer höheren Macht bietet ihnen Trost in diesen Zeiten.

Man müsste aussteigen können. Doch zweitausend Meter über dem Boden tun das nur jene, die mit ihrem Leben praktisch abgeschlossen haben. Sie packen einen der verwitterten Fallschirme, schnallen sich ihn auf den Rücken und stürzen sich mit Geheul in die Tiefe. Die anderen vertrauen darauf, dass der Kapitän sie in einen sicheren Hafen führt.

Nun fliegen wir über Kriegsgebiet. Die Welt liegt in Trümmern. Wir hoffen auf eine bessere Gegend und auf bessere Zeiten. Wir hoffen auf ein Land, wo das Leben blüht und wir getrost landen und das Gefährt des Grauens endlich verlassen können. Doch auch der Kapitän ist längst machtlos. Das Ruder des Schiffes ist unwiderruflich verklemmt. So driften wir steuerlos über den Kontinent in Richtung Wüste, wo uns der Hafen unserer Bestimmung erwartet, der Schrottplatz der Geschichte. Wenn die Landung nur gut geht!

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Danke Roy Snyder für die Bilder, die mich zur düsteren Parabel inspiriert haben!

Im Auge des Sturms

NOAA 19 northbound 58W at 24 Aug 2015 13:18:18 GMT on 137.10MHz, MSA enhancement, Normal projection, Channel A: 2 (near infrared), Channel B: 4 (thermal infrared)

NOAA 19 northbound 58W at 24 Aug 2015 13:18:18 GMT on 137.10MHz, MSA enhancement, Normal projection, Channel A: 2 (near infrared), Channel B: 4 (thermal infrared)
(Bild: Wanderlinse, CC-Lizenz via flickr)

Dieser Herbst ist ebenso von meteorologischen wie von menschengemachten Stürmen geprägt, von Krieg und Zerstörung im Osten, vom Zerfall ganzer Gesellschaften im Süden. Nichts Neues im Osten und Süden also. Was gehen uns diese Stürme überhaupt an? Hier in Europa? Hier in der Schweiz? – Eine herbstliche Betrachtung und die Frage, wo sich das Auge des Sturms befindet.

Es ist Herbst. Zu dieser Zeit fegt der Wind für gewöhnlich das Laub von den Bäumen und lässt es über Strassen und Plätze tanzen. Doch in der Schweiz ist es ruhig. Ein milder Herbst übt Nachsicht mit uns, vielleicht damit wir vor einem strengen Winter nochmals tief Luft holen können.

Es ist ja nicht so, dass der Herbst 2015 überall Milde walten lässt. Im Gegenteil: Neben den meteorologischen Stürmen – an der Côte d’Azur etwa, in Südengland oder Norddeutschland, den heftigsten seit rund zehn Jahren –, ziehen Stürme ganz anderer Art über Länder und Kontinente und hinterlassen Spuren von Elend und Zerstörung historischen Ausmasses. Die Levante, der östliche Mittelmeerraum ist in qualvoller Auflösung begriffen. Und alle möglichen und unmöglichen «Mitspieler» tragen mit ihrem zynischen «Bomben-Jekami» (Jeder kann mitmachen) dazu bei, dass eine Lösung in weite Ferne rückt. Der Sturm in der Levante (Syrien, Irak) und die Stürme weiter östlich (Jemen, Afghanistan) treiben Millionen Flüchtlinge vor sich her, unter anderem an Europas Küsten und Mauern, als seien sie Herbstlaub, die Flüchtlinge. Doch es sind Menschen, Kinder, Frauen, die vor der unglaublichen Brutalität fanatisierter Horden und vor dem Feuersturm fliehen. Und sie vermischen sich mit Menschen aus anderen Sturmgebieten, aus anderen Gebieten menschengemachter Katastrophen. Weite Teile Afrikas tragen mit ihren seit vielen Jahren zerrütteten Gesellschaften dazu bei, dass der Menschenstrom nicht abreisst. Ob Wirtschafts-, Klima- oder Gewaltflüchtlinge – die Bezeichnungen sind längst irrelevant, weil sich die Fluchtgründe gar nicht so klar unterscheiden lassen. Es sind die zunehmend lebensfeindlichen, menschenverachtenden Verhältnisse und die gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen in weiten Gebieten Afrikas, welche die Menschen von dort zur Flucht drängen. Niemand verlässt sein Herkunftsland einfach so, ohne Not, schon gar nicht unter den heutigen Migrationsbedingungen. Und all die Menschen suchen Schutz und Perspektiven in einem Europa, das von der Geschichte der letzten fünfzig Jahre einigermassen verwöhnt wurde und trotz allen Verwerfungen und Rückschlägen der letzten Zeit noch immer eine Oase des Friedens und des Wohlstands in einer Welt darstellt, die vor die Hunde zu gehen scheint.

Als ginge uns das gar nichts an
Und inmitten dieser Oase die Schweiz, doppelt geschützt vor den Stürmen, fast schon ein Paradies, eine Exklave der Glückseligen in einem sturmgepeitschten Ozean. Zwischendurch weht eine Brise durchs Land, mal lau, mal eher steif, die Ausläufer eines Sturmtiefs, das manchmal näher kommt und sich wieder entfernt. Doch insgesamt erleben wir einen ruhigen Herbst. Die dürren Blätter schaukeln sanft zu Boden und bilden lockere Haufen, durch die selbstvergessen die Kinder stapfen.

Nicht dass ich mir den Herbst anders wünschte. Es freut mich, dass die Kinder hier unbeschwert Kind sein können, jedenfalls unbeschwerter als vielenorts. Ich bin auch froh und überaus dankbar, dass ich nicht vor Bomben und blutrünstigen Horden fliehen muss. Die Geschichte meint es gut mit mir, mit uns. Doch können wir weiterhin das groteske Geschehen, all die Verheerungen und blutigen Orkane in beschaulichem Entsetzen einfach so beobachten, als ginge uns das nicht wirklich etwas an? Ich bin aufgewühlt, bewegt, erschüttert. Wie noch selten zuvor fühle ich mich dazu aufgerufen, aktiv zu werden, um die Not zu wenden – jetzt und hier, wo ich bin, und so gut ich kann. Und so geht es vielen. Tätige Solidarität ist gefordert. Und sie wird ja auch gelebt.

Wir stehen in der Verantwortung
In diesem Herbst stehen wir in der Verantwortung. Eigentlich schon länger, aber jetzt können wir uns nicht enziehen. Denn es ist offensichtlich, dass uns all das etwas angeht. Parallel zu den globalen Handelswegen und Finanzströmen, parallel zum Klimawandel und zum irrwitzigen globalen Wohlstandsgefälle zieht sich eine – ebenfalls globale – Spur der Verantwortung. Das liesse sich an unzähligen Beispielen aufzeigen. Unser Wohlstand, unser Friede ist nicht vorstellbar ohne die Verelendung und Zerrüttung weiter Landstriche andernorts. Historisch nicht, aber auch nicht mit Blick auf die Gegenwart.

Wir sind ganz und gar verantwortlich für das, was geschieht auf dieser Welt. Und damit meine ich jeden einzelnen von uns, inklusive mich selber, aber auch unsere Gesellschaft, unser Gemeinwesen, unseren Staat, unsere Wirtschaft. Ich meine dich und dich und dich … Es gibt inzwischen nicht nur eine wirtschaftliche Globalisierung, sondern auch eine Globalisierung der Verantwortung. Die Ereignisse reiben sie uns immer deutlicher unter die Nase. Manchmal frage ich mich, ob es bei uns in Europa, ob es in der Schweiz so ruhig ist, weil wir uns im Auge des Sturms befinden, der über weite Teile der Erde hinwegfegt.