Wort des Monats: Eskalation

Eskalation f. ‹stufenweise Steigerung›, besonders ‹schrittweise Verschärfung, Zuspitzung eines militärischen oder politischen Konflikts›, Entlehnung (wohl nach 1960) von gleichbed. engl. escalation. Dieses rasch internationale Verbreitung findende engl. Substantiv schließt sich offenbar an engl. escalator ‹Rolltreppe› an, eine ursprünglich amerik.-engl. Bildung nach dem Muster von engl. elevator ‹Fahrstuhl, Aufzug, Hebewerk› (zu lat. ēlevāre ‹emporheben, wegnehmen, mindern›) auf der Grundlage von engl. to escalade ‹ersteigen, erstürmen›. Voraus geht engl. escalade ‹Ersteigung, Überwinden der Festungsmauer mit Sturmleitern›, nach gleichbed. mfrz. frz. escalade, das letztlich auf lat. scālae Plur. ‹Leiter, Stiege› beruht. Dazu eskalieren Vb. ‹etw., sich stufenweise steigern, allmählich verschärfen› (70er Jahre des 20. Jhs.). (Aus DWDS, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache)

Die Gegenwart ist von unterschiedlichen Szenarien der Eskalation geprägt. Nicht nur die beiden Kriege in Nahost und der Ukraine schüren unsere Ängste und unser Entsetzen – und tragen erhebliches Potenzial der weiteren Zuspitzung in sich. Auch das Klima im meteorologischen wie im gesellschaftlichen Sinn steuert auf Kipppunkte zu, die uns fassungslos machen können und auf die wir gebannt blicken wie die sprichwörtliche Maus auf die Schlange. Vom meteorologischen Klimawandel brauchen wir hier nicht zu sprechen. Es ist schon so viel dazu gesagt worden. Doch auch die Zuspitzung des gesellschaftlichen Klimas ist nicht zu übersehen: Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer mehr, wobei die Armut immer bitterer wird und der Reichtum immer groteskere Formen annimmt. Damit einher geht eine Polarisierung der Menschen- und Weltbilder ebenso wie der Lösungsansätze und politischen Massnahmen, die sich daraus ergeben. Damit einher geht auch eine Verrohung, wie wir sie nicht mehr für möglich gehalten haben.

Der Eskalation etwas entgegensetzen

Schicksalsergeben könnten wir feststellen, dass die Geschichte seit je her eine Aneinanderreihung von Eskalation, Zerstörung und Wiederaufbau ist. Wobei dem Wiederaufbau bereits das nächste Eskalationspotenzial innewohnt. Und so weiter und so fort. Wie eine Naturgewalt, scheinbar unvermeidlich und unaufhaltsam kommt es zur Eskalation. Dabei geht oft vergessen, dass es einzelne Menschen sind, die an der Schraube der Eskalation drehen und dabei ihre ureigenen Interessen wahrnehmen. Macht und Eskalation sind ein Paar, das sich Treue geschworen hat.

Das heisst aber auch, dass wir der Eskalation etwas entgegensetzen können, dass sie weder Naturgewalt noch Schicksal ist. Nicht so laut und grell wie die eskalierenden Kräfte sind jene, die auszugleichen und zu verbinden suchen. Sie sind Soft Power wie etwa die palästinensisch-israelische Graswurzelbewegung Combatants for Peace, zu einem guten Teil bestehend aus ehemaligen palästinensischen Widerstandskämpfern und Angehörigen der israelischen Streitkräfte. Sie haben die gegenseitige Gewalt hautnah miterlebt und sind zur Überzeugung gelangt, dass sich der Israel-Palästina-Konflikt nicht mit Waffengewalt lösen lässt. Sie treten konstruktiv für ein Ende der israelischen Besatzung, für Gewaltfreiheit, für Gerechtigkeit und Dialog zwischen israelischer und palästinensischer Bevölkerung ein und sind in gemischten Regionalgruppen in Israel und dem Westjordanland organisiert. Ihre Kraft ist jene der Begegnung.

Drei Tage nach dem brutalen Angriff der Hamas auf den Süden Israels und der harschen Antwort des israelischen Militärs mit unzähligen zivilen Opfern im Gazastreifen meldeten sich die Combatants for Peace mit einem beharrlichen «Wir glauben immer noch an einen anderen Weg»:

Dies ist nicht der Zeitpunkt für Rache oder kollektive Bestrafung von Unschuldigen. Die einzige Lösung ist die Beendigung der Besatzung. Wir rufen auf zur Gewaltlosigkeit, zu einem neuen Sinn für Menschlichkeit und zu besseren Tagen für alle unsere Kinder. Unsere Bewegung weiß, dass es ohne ein Ende der Besatzung keine Zukunft gibt. Wir haben fast sechs Jahrzehnte militärischer Kontrolle über eine gesamte Zivilbevölkerung und eine erstickende, unerträgliche Blockade des Gazastreifens seit 16 Jahren erlebt. Combatants for Peace wurde vor fast 20 Jahren von denjenigen gegründet, die aus erster Hand wissen, dass Gewalt nur Gewalt erzeugt, dass niemand im Krieg gewinnt und dass wir alles Leben schützen müssen, indem wir einen anderen Weg finden. Wir glauben immer noch an einen anderen Weg, auch jetzt, besonders jetzt.

Gegen den Hass anschreiben

Interventionen gegen die Eskalation finden sich vielenorts. Zweifellos sind es eher leise Stimmen im Gebrüll der kriegstrunkenen Gegenwart. Doch sie sind nicht zu leugnen. Und sie sind vielfältig. Schaut man genauer hin, so entdeckt man im Kleinen Grosses. Wer würde in diesen Tagen ausgerechnet einem Buch zutrauen, dass es sich voraussichtlich mit Erfolg der Atmosphäre der Rache und des Hasses entgegenstellt? Ich spreche von Salman Rushdies neuestem Buch «Knife», den «Gedanken nach einem Mordversuch». Wie wir wissen, wurde Rushdie am 12. August 2022, über dreissig Jahre nach einer Fatwa, einem islamistischen Mordaufruf, auf einer Vortragsbühne in den Vereinigten Staaten von einem Attentäter mit unzähligen Messerstichen schwer verletzt. Nur mit viel Glück überlebte er, ist aber von bleibenden Verletzungen gezeichnet.

In seinem neuesten Buch verarbeitet er diese Erfahrung literarisch. Doch statt eine wütende Abrechnung zu schreiben, stellt Rushdies «‹Knife› der Gewalt des Attentäters und dem Plot des Attentats drei radikal abweichende Konzepte entgegen: jenes der Liebe, des Lebens und der Kunst», so Daniel Graf in einer hervorragenden Buchrezension im Onlinemagazin Republik). Es braucht menschliche Grösse, um sich nicht von der Spirale der Eskalation mitreissen zu lassen und Rachegedanken und dem Hass zu verfallen. Rushdie tat stattdessen das, was er am besten konnte: Er schrieb sein persönlichstes Buch – über das Attentat, das auch, aber hauptsächlich über die Liebe und die Kunst.

Erst wenn ich mich mit dem Attentat auseinandergesetzt hatte, würde ich mich wieder mit anderem befassen können. Ich würde das Buch schreiben müssen, das Sie jetzt lesen, denn das Schreiben war mein Weg, das Vorgefallene anzuerkennen, die Kontrolle zurückgewinnen, mir das Geschehene anzueignen und nicht ein bloßes Opfer zu sein. Auf Gewalt wollte ich mit Kunst antworten.

Wort des Monats: UNRWA

Die UNRWA, das Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten steht wie die Bevölkerung im Gazastreifen unter Dauerbeschuss. Mehrere seiner Mitarbeiter seien am terroristischen Anschlag und Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 im Süden Israels beteiligt gewesen, so die israelische Regierung. Etliche westliche Staaten haben in der Folge ihre Zahlungen ans Hilfswerk eingestellt, darunter so wichtige wie die USA, Grossbritannien, Deutschland und Frankreich. Auch die Schweiz setzt die Zahlungen aus, bis weitere Informationen zu den Vorwürfe vorliegen. – Für die Bevölkerung im Gazastreifen droht eine weitere Katastrophe innerhalb der Tragödie des Gazakrieges.

Der Vorgang ist einmalig: Auf Verdacht hin, dass einige MitarbeiterInnen der UNRWA an den Anschlägen vom 7. Oktober beteiligt gewesen waren – es ist von zwölf Verdächtigen die Rede, das Hilfswerk hat im Gazastreifen 13’000 MitarbeiterInnen –, stoppen wichtige Geldgeber unmittelbar ihre Zahlungen, und das im Wissen, dass die UNRWA eines der wenigen Hilfswerke ist, die der bedrängten palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen humanitäre Hilfe zukommen lassen können.

Agnès Callamard, die Generalsekretärin von Amnesty International brachte es auf den Punkt: «Die Vorwürfe über die Beteiligung von UNRWA-Mitarbeitenden an den Anschlägen vom 7. Oktober sind schwerwiegend und müssen von unabhängiger Seite untersucht werden; jeder, gegen den genügende Beweise vorliegen, sollte in einem fairen Verfahren zur Rechenschaft gezogen werden. Die mutmasslichen Handlungen einiger weniger Personen dürfen jedoch nicht als Vorwand dienen, um lebensrettende Hilfe einzustellen. Dies könnte einer kollektiven Bestrafung gleichkommen.»

Zwischen den Fronten

Die UNRWA wurde als temporäres Hilfswerk der Vereinten Nationen im Jahr 1949 gegründet und hat den Auftrag, den registrierten palästinensischen Flüchtlingen in Jordanien, Syrien, Libanon, dem Gazastreifen und Westjordanland Unterstützung und Schutz zukommen zu lassen, bis die Frage der palästinensischen Flüchtlinge eine definitive Lösung gefunden hat. Seither wird ihr Mandat alle drei Jahre verlängert. Zu ihren Aufgabengebieten gehören unter anderem die Bildung, medizinische Versorgung, die Verbesserung der Infrastruktur in den Flüchtlingslagern, Vergabe von Kleinkrediten und die humanitäre Hilfe. Es ist unvermeidlich und dürfte auf der Hand liegen, dass es Berührungsflächen zwischen dem Hilfswerk und der in Gazastreifen regierenden Hamas gibt. Schon in der Vergangenheit geriet die UNRWA deshalb immer wieder zwischen die Fronten. Ihr wurde jeweils eine zu grosse Nähe zur Hamas vorgeworfen. Das Hilfswerk setzt sich zugunsten der palästinensischen Bevölkerung ein und ist dadurch anwaltschaftliche Partei. Sich von der Hamas im Gazastreifen abzugrenzen, ist eine riesige Herausforderung, die realistischerweise nicht vollständig zu leisten ist, zumal die Hamas nicht nur eine militärische Organisation ist, sondern auch eine Partei mit Regierungsgewalt und ein Hilfswerk.

Einige westliche Länder kommen ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber der UNRWA weiter nach oder stocken, wie etwa Spanien und Irland, ihre Gelder gar auf, da sie die wichtige humanitäre Bedeutung des Hilfswerks im Gazastreifen anerkennen. Die UNRWA ist eine der wenigen Stützen und darunter die wichtigste der leidgeprüften Bevölkerung im Gazastreifen.

Hilfloser Ruf nach einer Zweistaatenlösung

Das Existenzrecht des einen Volkes kann nicht gegen das des anderen aufgewogen werden. Die palästinensische wie die israelische Bevölkerung müssen in Sicherheit und Würde leben können. Diese Tatsache mag hinter dem etwas hilflos anmutenden Ruf nach einer Zweistaatenlösung stecken. Die Hilflosigkeit rührt daher, weil man selbst nicht mehr an eine solche Lösung glaubt und sich die gegenwärtige Regierung Israels dagegen stemmt. – Mit fatalen Folgen für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Sie wird von der Staatengemeinschaft im Stich gelassen.

Die Generalsekretärin von Amnesty International sagt dazu: «Es ist eine Schande, dass wichtige Staaten, darunter die Vereinigten Staaten, Kanada, das Vereinigte Königreich, Deutschland und Australien, der wichtigsten Hilfsorganisation für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen den Geldhahn zugedreht haben; dies nur wenige Tage nachdem der Internationale Gerichtshof (IGH) zum Schluss kam, dass das Überleben der Palästinenser*innen in Gaza gefährdet ist.»


Quellen:

Zum Spendenportal der UNRWA

 

Wort des Monats: Antisemitismus

Der Begriff hat in den letzten Wochen ein steiles Comeback hingelegt. Auch was er bezeichnet, hat weltweit in erschreckendem Mass zugenommen. Auslöser war der terroristische Angriff auf Israel am 7. Oktober und der darauffolgende Feldzug der israelischen Armee im Gazastreifen. Die Menschenverachtung des Terroranschlags gegen die israelische Zivilbevölkerung und die heftige Reaktion Israels, die den Tod und das Elend unzähliger palästinensischer ZivilistInnen zumindest in Kauf nimmt, hat uns erschreckt und in ein Dilemma gestürzt. Darf man noch Kritik am Vorgehen Israels ausüben, oder begeben wir uns so bereits in den Dunstkreis des Antisemitismus?

Der Begriff des Antisemitismus, der Judenfeindlichkeit ist zurzeit in aller Munde – und droht dadurch diffus zu werden. Dabei gibt es eine klare Definition dieses Begriffen durch die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC):

Antisemitismus ist ein gegen jüdische oder nichtjüdische Individuen, ihr Eigentum, ihre Institutionen oder den Staat Israel gerichteter «Judenhass». Er «klagt Juden häufig der Verschwörung zum Schaden der Menschheit an und wird oft benutzt, um Jüdinnen und Juden dafür verantwortlich zu machen, wenn etwas falsch läuft.» Er drücke sich in Worten, Texten, Bildern und Taten aus und verwende dazu «unheilvolle Stereotypen und negative Charakterzüge».

So kann etwa Kritik am israelischen Staat nicht per se als antisemitisch angesehen werden, solange die Kritik ähnlich wie an anderen Staaten geäussert wird. Wenn hingegen eine Kollektivverantwortung der Juden für Israels Politik behauptet wird oder Israels Politik mit der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten verglichen wird, so sind das klar antisemitische Zuschreibungen.

Opportunistischer Antisemitismus

Auch vor Missbrauch ist der Begriff des Antisemitismus nicht gefeit, sei es als breites Schutzschild gegen Kritik an der Politik Israels, oder sei es in Form einer falschen Monstranz, die jüngst rechtspopulistische Kreise vor sich her tragen, um sich mit Israel und den Juden zu solidarisieren. Ausgerechnet jene Kreise, die noch vor kurzem den Antisemitismus zumindest toleriert, ihn oft genug aber auch als Teil ihrer Ideologie gehätschelt haben. Zu nennen sei hier Marine Le Pen vom Front National, die jüngst eine Solidaritätskundgebung für Israel in Paris für ihre eigenen Zwecke missbraucht hat.

Auch die SVP pflegt einen solchen opportunistischen Antisemitismus. Einerseits macht sie sich stark für ein Verbot von propalästinensischen Demonstrationen. Die Demonstrationsfreiheit würde an solchen Demonstrationen für Antisemitismus und die Verherrlichung von Terrorismus missbraucht, hauptsächlich natürlich von linken und migrantischen Kreisen. Gleichzeitig verweigert sie einer Motion der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats als einzige Partei die Unterstützung, welche vom Bundesrat eine Strategie gegen Antisemitismus und Rassismus verlangt.

Bei beiden, dem Front National wie der SVP, kann man davon ausgehen, dass ihr neuer Anti-Antisemitismus weniger der Sympathie für das jüdische Volk entspringt als einer islamfeindlichen Haltung und der Diffamierung ihrer politischen Gegner dient.


Als Inspirationsquelle für diesen Text hat mir der Artikel «Die neuen, falschen Freunde Israels» von Christina Späti auf «Republik» gedient. Sie ist Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Fribourg und forscht unter anderem zu Antisemitismus und Rassismus.

Gewaltloser Widerstand und Aussöhnung in Palästina – Ein Interview

Der palästinensische Aktivist Ali Abu Awwad hat trotz äusserst schmerzlicher Erfahrungen in seiner Heimat zu einer überzeugenden Gewaltlosigkeit gefunden, die nichts mit Duckmäusertum zu tun hat. Wie es dazu kam und was für Chancen der gewaltlose Widerstand – aber auch die Aussöhnung – in der Region haben, erzählt er dem spanischen Journalisten Amador Fernández-Savater in einem Interview. Übersetzung: Walter B.

Ali Abu Awwad, fotografiert in Nabi Saleh am 21. September 2012, dem Weltfriedenstag und zugleich palästinensischer «Tag des sozialen Widerstands»

 

Ali, erzähle uns kurz deine Geschichte!

Ich heisse Ali Abu Awwad und komme aus einer Familie, die 1948 fliehen musste. Meine Familie ist sehr politisch. Meine Mutter war viele Jahre im Gefängnis. Ich trat bald in ihre Fussstapfen und schloss mich wie sie dem Widerstand gegen die israelische Besatzung an. Während der ersten Intifada wurde ich verhaftet und verbrachte anschliessend vier Jahre im Gefängnis. Im Jahr 2000 verletzte mich ein israelischer Siedler schwer. Währendem ich deshalb in Saudiarabien medizinisch behandelt wurde, erfuhr ich vom Tod meines Bruders Yousef, der an einem Kontrollposten festgenommen und von einem israelischen Soldaten aus nächster Nähe erschossen wurde.

Das Schlimmste in meinem Land ist, dass sich der erlittene Schmerz nicht im Morden erschöpft, sondern in tausend Details des Alltags unter israelischer Besatzung allgegenwärtig ist. Oft lassen dir Schmerz und Hoffnungslosigkeit keine Wahl. Doch letztlich kann ich sagen, dass, wer meinen Bruder getötet hat, mir nicht meine Menschlichkeit nehmen noch die Kontrolle über meinen Verstand erlangen konnte. Meine Mutter trat als erste unserer Familie dem Familienforum bei. Ich folgte ihr bald. Das Familienforum (The Parent Cyrcle) ist ein Zusammenschluss von über sechshundert israelischen und palästinensischen Familien, die den Schmerz über den gewaltsamen Verlust eines Angehörigen in Aktionen für Frieden und Aussöhnung ummünzen. Gegenwärtig bin ich für die Projekte der Organisation zuständig. Nach einem sehr langen und harten Prozess komme ich heute zum Schluss, dass der Dialog der einzige Weg ist, um zu Wahrheit und Frieden zu gelangen – aber nicht irgendein Dialog.

Was willst du damit sagen?

Seit acht oder neun Jahren lebe ich aus meinem Reisekoffer. Ich bin an sehr vielen Orten dieser Welt gewesen, habe Politiker vor den Vereinten Nationen oder im britischen Oberhaus von Frieden und Dialog reden gehört. Sie haben leicht reden. Im Gegensatz dazu beginnt für mich Dialog dort, wo ich auf einem deutlich weniger bequemen Stuhl Platz nehme und von diesem aus die Welt betrachte. Es geht darum, darauf sitzen zu bleiben und auszuprobieren, was der andere ausprobiert – nicht um mit ihm Mitleid zu haben, sondern einfach um zu verstehen, was der andere braucht, um zu leben, was es braucht, um aufzuwachsen, um zu denken und sich wie ein Mensch zu verhalten. [Read more…]

Das Gemeinsame der spanischen und israelischen Protestbewegung

Trotz aller offensichtlichen Unterschiede bei den äusseren Bedingungen der spanischen und israelischen Protestbewegung gibt es auch einige Parallelen: bei den inneren Voraussetzungen, bei der Vorgehensweise und den Zielen. Es wird ein Muster sichtbar, das sich lohnt, genauer zu betrachten. Eine Spurensuche.

Zwar sehen nicht wenige Kommentatoren in den sozialen Protesten reine Verteilkämpfe um die verknappten finanziellen Ressourcen innerhalb der Gesellschaften – gleichsam «Hungerproteste» gegen den Sparwahnsinn der Regierungen. Trotzdem ist unübersehbar, dass es sowohl in Spanien wie in Israel – und man könnte weitere Länder im Aufruhr hinzunehmen – um wesentlich mehr geht: um mehr Teilhabe, weit über das rein Wirtschaftliche hinaus. Es ist wohl kaum vermessen, in beiden Ländern von demokratischen Erneuerungsbewegungen zu sprechen.

Besetzung des öffentlichen Raums
Das zeigt sich etwa an der dauerhaften Besetzung des öffentlichen Raums in Form von Protestcamps. Bis zu jenem Zeitpunkt war der öffentliche Raum hauptsächlich der kommerziellen Nutzung vorbehalten. Alles, was diesem einseitigen Nutzungskonzept nicht entspricht, etwa Bettler, «Randständige» und nichtkommerzielle Veranstaltungen, wird mehr und mehr aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Hauptsächlich die Innenstädte und zentralen Plätze werden «vom Gesinde gesäubert», damit die Einkäufe störungsfrei stattfinden können. Und nun das: Genau diese Orte wurden besetzt und zum Zentrum von festivalartigen Protestversammlungen, an denen in endlosen Diskussionen basisdemokratische Beschlüsse zum weiteren Vorgehen gefasst wurden. Erstaunlich auch die spontane Selbstorganisation in den Protestcamps – sowohl in Spanien wie in Israel: Es entstanden improvisierte Kindergärten und Schulen, ebenso selbstorganisierte Küchen. Dazu die junge Israelin Staff Shaffir in einem Interview mit n-tv: «Die Menschen haben mit ihren eigenen Händen eine neue Gesellschaft geschaffen. Das zu erleben, war für alle der Beginn neuer Hoffnung. Wir hatten sie schon verloren.»

Verschleierung der politischen Identität
Ebenso typisch für Spanien wie Israel: Es fehlen Führerfiguren – und vorgefertigte politische Konzepte. So sagt etwa der Journalist (und Teilnehmer an der spanischen Protestbewegung) Amador Fernández-Savater in einem Interview mit der argentinischen Zeitung «Página/12»: «Vielmehr spielen Leute ohne vorgängige politische Erfahrung eine Hauptrolle, Leute, die ihre Kraft nicht aus einem Programm oder einer Ideologie schöpfen, sondern aus persönlicher Betroffenheit und als Reaktion auf eigene Erfahrungen. Sie identifizieren sich weder mit der Linken noch mit der Rechten auf dem politischen Schachbrett, sondern entziehen sich diesem Muster, indem sie ein nicht-identitäres, offenes und einschliessendes Wir vorschlagen, in dem alle Platz haben.» Ganz ähnlich die Israelin Staff Shaffir: «Wir haben nicht über unsere Ängste diskutiert oder darüber, wie wir einer anderen Gruppe etwas wegnehmen können. Diesen Kreislauf haben wir durchbrochen und eine neue Sprache gefunden, die kein links und rechts, Ost und West oder Jude und Araber kennt. Es ging nur noch um den Menschen und seine Bedürfnisse zum Leben.»

Die Protestbewegungen in Spanien wie in Israel entziehen sich ganz bewusst der politischen Festschreibung – jedenfalls jener entlang der herkömmlichen Kategorien. Sie verfolgen diesbezüglich geradezu eine Taktik der Verschleierung, damit sie nicht wie willenslose Figuren auf dem Schachbrett der herkömmlichen Politik herumgeschoben werden. Dazu Amador Fernández-Savater: «Es gibt keine Antwort auf die (polizeiliche) Frage nach der Identität. Wer sind sie? Was wollen sie? Wir sind in einem Streik der Identität: Wir sind, was wir tun. Wir wollen, was wir sind.»

Ablehnung der herkömmlichen Politik
Diese Haltung ist auch der grundsätzlichen Ablehnung der herkömmlichen Politik geschuldet. Die Menschen in Spanien wie Israel fühlen sich von den Politikern und den Parteien im Stich gelassen – und vom Amok laufenden Neoliberalismus in ihrer Lebensgrundlage bedroht. In geradezu blinder Gefolgschaft fahren die Regierenden die staatlichen Dienstleistungen zurück und veräussern die öffentlichen Güter. Das Gemeinwesen wird ausgehungert und das Private, der Eigennutz gestärkt. Die farbigen Happenings im öffentlichen Raum und die fast schon verschwenderische Solidarität sind dazu ein starkes Gegenbild.

Auch wenn inzwischen die Protestcamps sowohl in Spanien wie in Israel (freiwillig) geräumt wurden, trägt der demokratische Erneuerungsimpuls weiter: In Israel entstanden überall im Land hunderte «runde Tische», an denen um reale Lösungen der drängendsten Probleme gerungen wird – dezentral und in Eigenverantwortung, aber vernetzt. Im Mittelpunkt stehen die Sorgen und Nöte der gewöhnlichen Menschen sowie deren Vorschläge zur Abhilfe, Vorschläge, die über die runden Tische an die Öffentlichkeit gelangen können. Zudem sollen an den runden Tischen die Ziele der Bewegung genauer festgelegt werden.

Der stille Teil der Bewegung
Die runden Tische zielen auch auf das, was Amador Fernández-Savater den «stillen Teil der Bewegung» nennt, also die Bevölkerung, die von der Protestbewegung berührt ist, selbst aber nicht aktiv daran teilnimmt. Dieser stille Teil der Bewegung ist nicht zu unterschätzen. In Israel rechnet man mit 87 Prozent der Bevölkerung, die die Protestbewegung unterstützen (siehe dazu: «Netanyahu losing public support over handling of Israeli housing protest» auf Haaretz.com). Und auch in Spanien ist die Solidarität mit der Protestbewegung riesig.

Widerstand gegen Zwangsräumungen
In Spanien ist die Protestbewegung nach Auflösung der Camps unter anderem zum gewaltlosen Widerstand gegen die zunehmenden Zwangsräumungen von Wohnungen übergegangen. Diese Zwangsräumungen erscheinen wie eine natürliche Folge der Zahlungsunfähigkeit ihrer Besitzer. Sie stellen das Recht der BewohnerInnen auf eine Bleibe drastisch in Frage – ein Recht übrigens, dessen Bedrohung auch am Anfang der israelischen Proteste stand. Doch diese Zwangsräumungen sind nicht ein natürliches Verhängnis, sondern letztlich ein politisches Problem und die Folge der neoliberalen Strukturanpassungen der letzten Jahre. Der Widerstand dagegen «… läuft über unsere Fähigkeit, die soziale Verbindung neu zu erfinden. Denn es ist nicht der Staat, der die Logik des Marktes aufhalten kann, sondern es ist der andere Unbekannte, der sich vor mein Haus stellt und den verhängnisvollen Automatismus der Zwangsräumung aufhält. Heute für mich, morgen für dich», so Amador Fernández-Savater.

Anfänge eines neuen Demokratieverständnisses?
Womöglich zeigen sich bei der spanischen wie der israelischen Protestbewegung die Anfänge einer «diversifizierten», zivilgesellschaftlichen Demokratie – um einiges bunter als die herkömmliche, alt gewordene Demokratie der Parteien mit ihren Einheitsfarben und Verfilzungen, was sie zunehmend antidemokratisch erscheinen lässt. In einer zivilgesellschaftlichen Demokratie könnten die Herausforderungen der Gegenwart ideologiefreier, dafür mit mehr Sachverstand und menschlichem Mass angegangen werden. Die Bevölkerung wäre nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern Quelle der Demokratie, so wie das mal angedacht war … Die Protestbewegungen zeigen aber auch, dass sich die Individualität des Menschen immer weniger in Schemen und Parteien pressen lässt. Vielmehr wird jeder Mensch zu seiner eigenen «Partei» und übernimmt dafür auch zunehmend die Verantwortung.

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Fotos: oben «Indignados» von Julien Lagarde, unten «Nachmittag auf dem Boulevard», Tel Aviv, von Marc Berthold, boellstiftung (beide via flickr unter CC-Lizenz)