Behindertengleichstellung in der Schweiz: Quo vadis?

Seit Anfang 2004 ist das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in Kraft. Und es hat sich seither auch einiges getan. Besonders beim öffentlichen Verkehr und bei der Zugänglichkeit von öffentlichen Gebäuden verspüren viele Betroffene allmählich Fortschritte. Doch gerade in Zeiten der Sparwut kommt die Gleichstellung erneut unter Druck – und erfordert deshalb unseren ganzen Einsatz.

Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung zielt darauf hin, Benachteiligungen zu verringern, zu beseitigen oder gar nicht erst entstehen zu lassen. Das BehiG setzt dazu schweizweit Rahmenbedingungen. Die Betroffenen sollen leichter am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, möglichst selbständig soziale Kontakte knüpfen, sich fortbilden und eine Erwerbstätigkeit ausüben können. Integration statt Exklusion, Teilhabe statt Ausgrenzung ist ein zentrales Anliegen dieses Gesetzes. So weit, so schön – und so abstrakt.

Einiges konkreter wird es, wenn wir etwa den öffentlichen Verkehr anschauen, zum Beispiel die SBB (Schweizerische Bundesbahnen). Bis Ende 2023 sollen laut BehiG im öffentlichen Verkehr die Hindernisse für Mobilitätsbehinderte weitgehend beseitigt sein. Das heisst, die Fahrsteige sollen bis dann so erhöht werden, dass Rollstuhlfahrer weitgehend stufenlos in den Zug einsteigen können. Ebenso sollen die Fahrsteige mit Rampen erschlossen werden.

Gleichstellung auf später verschieben?

Das alles ist natürlich nicht zum Nulltarif zu haben. Gerade bauliche Anpassungen kosten schnell mal viel Geld. Da nun der Bund ebenso wie die SBB unter einem Spardiktat stehen, wird gemeinsam überlegt, ob die Frist zur Verwirklichung der Ziele des BehiG nicht um 15 Jahre, also bis ins Jahr 2039 verlängert werden kann. Argumentiert wird damit, dass bis dann viele Bahnhöfe wegen ihres Alter sowieso erneuert werden müssten und auf diese Weise viele Millionen gespart werden könnten.

Das Ansinnen ist bereits in der Vernehmlassung, und zwar im Rahmen des Konsolidierungsprogramms 2011 – 2013 des Eidgenössischen Finanzdepartements. Und wenn die Menschen mit Behinderung und ihre Verbände nicht massiv die Stimme dagegen erheben – was leider nicht zu erwarten ist, zu viele andere, brennendere Themen fordern in nächster Zeit unser Aufbegehren –, wenn wir uns also nicht lautstark wehren, wird zumindest die Gleichstellung der Mobilitätsbehinderten im öffentlichen Verkehr auf später verschoben. Und andere Abstriche bei der Gleichstellung von Behinderten werden folgen, nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf kantonaler Ebene. Zumindest droht die Gefahr, und zwar überall dort, wo die Gleichstellung mit zusätzlichen Ausgaben verbunden ist – also überall …

Gleichstellung ist einklagbar

Doch dass die Integration von Menschen mit Behinderung die Gesellschaft teurer zu stehen komme als ihre Ausgrenzung, ist ein kurzsichtiger – und letztlich teurer – Trugschluss. Das Gegenteil ist wahr: Die Ermächtigung und Stärkung der Behinderten ist mittel- bis langfristig die kostengünstigste Variante des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es kann doch nicht sein, dass man von den Behinderten mit viel Nachdruck fordert, sie müssten sich in die Arbeitswelt integrieren – und gleichzeitig entzieht man ihnen die Mittel, gerade dies zu tun, indem man die Frist, bis wann der öffentliche Verkehr barrierefrei sein soll, auf später verschiebt.

Was viele Betroffenen nicht wissen: Das Behindertengleichstellungsgesetz macht die Gleichstellung zu einem einklagbaren Recht. Nur wenn wir uns also gegen Rückschritte wehren – politisch und rechtlich –, gibt es eine Chance, diese aufzuhalten.

Comments

  1. Danke Walter 🙂
    jaja, die Verhältnismässigkeit ist ein Gummibegriff 😉

  2. cristiano safado says:

    Im Bereich des öffentlichen Verkehrs wurden in den vergangenen Jahren anerkannterweise grosse Fortschritte erzielt. Doch was den Rest betrifft (zum Beispiel öffentl. Baute, etc.) tragen Gesetz und Verordnung derart viele Einschränkungen (Stichworte: Verhältnismässigkeit, 5% des Gebäudeversicherungswertes, etc), dass an eine wirkungsvolle Durchsetzung des Rechts nicht zu denken ist. So bedeutet zum Beispiel Verhältnismässigkeit, dass der (meist nicht behinderte) Richter entscheidet, was verhältnismässig ist und was nicht. In Ausführungserlassen von Bund und Kantone ist darüber wenig zu finden, gerade wenn man sich vor Augen hält, wie viel Mühe sich da das Gemeinwesen zum Beispiel bei der Raucherbekämpfung genommen hat. Weiter zu beachten ist, dass die Klagbarkeit durch viele Klauseln (z.B. Voraussetzung der Aktivlegitimation bei Behindertenorganisationen) eingeschränkt ist und die höchstmögliche Entschädigung von max Fr. 5‘000.— auch nicht dazu angetan ist, dem Gesetze zum Durchbruch zu verhelfen. Man kann beim BehiG ruhig von einem Papiertiger sprechen, das de facto der Oberaufsicht des EDI (Art. 3, Bstb k, BehiV) untersteht, das sich in den vergangenen Jahren auch nicht gerade als behindertenfreundlich gezeigt hat. So wurde in den vergangenen neun Jahren das EDI von Bundesräten aus der FDP besetzt, einer Partei und Departementsvorstehern also, die sich mit ihren Anhängseln (z.B. Economiesuisse, Avenir Suisse) sowohl unter Couchepin, als auch unter Burkhalter, vehement gegen die obligate Anstellung von Behinderten (Quotenregelung) gewehrt hat. Man vergleiche diese Haltung mit dem Sinn und einigen Bestimmungen in BehiG und BehiV.

  3. bin da jetzt nicht ganz sicher, aber ist der barrierefreie Zugang (zb. bei der SBB) wirklich einklagbar…? Ich habe da immer diese 5000.- im Kopf – das heisst, man kann auf Benachteiligung klagen, aber nicht auf Beseitigung der „Benachteiligung“ und falls man „recht“ bekommt, muss der Beklagte nicht die Benachteiligung aufheben, man bekommt im besten Fall einfach quasi „Schmerzensgeld“ (eben diese 5000.-) oder habe ich da was komplett falsch im Kopf…?

    • Danke, Mia, für das genaue Nachfragen! Wenn ich das BehiG durchlese – zugegeben als Laie und ohne die dazugehörige Verordnung studiert zu haben (Gesetzestext hier) –, so muss ich annehmen, dass ich sehr wohl auf die Beseitigung der Benachteiligung klagen kann:

      Art. 7 Rechtsansprüche bei Bauten, Einrichtungen oder Fahrzeugen
      1 Wer im Sinne von Artikel 2 Absatz 3 benachteiligt wird, kann im Falle eines
      Neubaus oder einer Erneuerung einer Baute oder Anlage im Sinne von Artikel 3
      Buchstaben a, c und d:
      a. während des Baubewilligungsverfahrens von der zuständigen Behörde verlangen,
      dass die Benachteiligung unterlassen wird;
      b. nach Abschluss des Baubewilligungsverfahrens ausnahmsweise im Zivilverfahren
      einen Rechtsanspruch auf Beseitigung geltend machen, wenn das
      Fehlen der gesetzlich gebotenen Vorkehren im Baubewilligungsverfahren
      nicht erkennbar war.
      2 Wer im Sinne von Artikel 2 Absatz 3 benachteiligt wird, kann im Falle einer
      Einrichtung oder eines Fahrzeuges des öffentlichen Verkehrs im Sinne von Artikel 3
      Buchstabe b bei der zuständigen Behörde verlangen, dass die SBB oder ein anderes
      konzessioniertes Unternehmen die Benachteiligung beseitigt oder unterlässt.

      Die Entschädigung über maximal Fr. 5’000.– bezieht sich allein auf die Diskriminierung bei der Inanspruchnahme von (öffentlichen) Dienstleistungen:

      Art. 8 Rechtsansprüche bei Dienstleistungen
      1 Wer durch die SBB, andere konzessionierte Unternehmen oder das Gemeinwesen
      im Sinne von Artikel 2 Absatz 4 benachteiligt wird, kann beim Gericht oder bei der
      Verwaltungsbehörde verlangen, dass der Anbieter der Dienstleistung die Benachteiligung
      beseitigt oder unterlässt.
      2 Wer durch das Gemeinwesen im Sinne von Artikel 2 Absatz 5 benachteiligt wird,
      kann beim Gericht oder bei der Verwaltungsbehörde verlangen, dass das Gemeinwesen
      die Benachteiligung beseitigt oder unterlässt.
      3 Wer im Sinne von Artikel 6 diskriminiert wird, kann bei einem Gericht eine Entschädigung
      beantragen.

      (…)

      3. Abschnitt: Verhältnismässigkeit
      Art. 11 Allgemeine Grundsätze
      1 Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde ordnet die Beseitigung der Benachteiligung
      nicht an, wenn der für Behinderte zu erwartende Nutzen in einem Missverhältnis
      steht, insbesondere:
      a. zum wirtschaftlichen Aufwand;
      b. zu Interessen des Umweltschutzes sowie des Natur- und Heimatschutzes;
      c. zu Anliegen der Verkehrs- und Betriebssicherheit.
      2 Das Gericht trägt bei der Festsetzung der Entschädigung nach Artikel 8 Absatz 3
      den Umständen, der Schwere der Diskriminierung und dem Wert der Dienstleistung
      Rechnung. Die Entschädigung beträgt höchstens 5000 Franken.

      Alles klar? 😉

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