Eine spätere Generation wird mit Entsetzen auf den heutigen Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen in Europa blicken. Die Flüchtlinge sind zum Spielball einer populistischen Politik geworden, um jene verängstigten Menschen hinter sich zu scharen, die von wirtschaftlichem Abstieg und Armut bedroht sind. Und das sind viele. Dass die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt, wird nicht nur in Kauf genommen, sondern ist Teil des Kalküls. – Die traurige Geschichte von Riace.
Kennen Sie Riace, das italienische Städtchen in Kalabrien, dem äussersten Süden Italiens? Die Gemeinde ist zweigeteilt in einen Ortsteil direkt am Meer und den anderen etwas zurückversetzt in den Hügeln. Seit langer Zeit leidet Riace wie viele umliegende Gemeinden unter Arbeitslosigkeit und Abwanderung. Warum also nicht versuchen, hier MigrantInnen aufzunehmen? Wen wundert’s, dass Ende der 1990er Jahre seitens verschiedener NGOs erste Projekte zur Aufnahme von Flüchtlingen in diesen Dörfern angestossen wurden?
Jenes von Riace wurde weitherum berühmt. Treibende Kraft bei der Wiederbelebung des Städtchens war Domenico Lucano, dessen Bürgermeister er später wurde. Zusammen mit regionalen, überregionalen und internationalen Initiativen gründete er den Verein «Città Futura» («Stadt der Zukunft») und organisierte die Aufnahme und sorgfältige Integration von Flüchtlingen. Das Leben kam zurück ins Städtchen, der Kleinhandel blühte auf, Schulen konnten offenbleiben, und manche Handwerksbetriebe erlebten eine Renaissance. Ganz zu schweigen von den Chancen, die sich den neu Angekommenen eröffneten.
Internationale Anerkennung für Domenico Lucano
Mit der Zeit fanden bis zu achthundert MigrantInnen in Riace Aufnahme und eine Perspektive, hauptsächlich aus Tunesien, Senegal, Eritrea und Syrien. Und Domenico «Mimmo» Lucano wurde zur Ikone eines anderen Umgangs mit Flüchtlingen. Er erhielt Anerkennung weit über Italien hinaus, bis hin zum UNHCR, dem Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, welches das Projekt in Riace mit regelmässigen Beiträgen unterstützte. Die «Stadt der Zukunft» galt als Modell gerade für strukturschwache Gebiete, die von Abwanderung und wirtschaftlichem Niedergang bedroht sind.
Die Gegenreaktionen der Verfechter eines harten, abwehrenden Umgangs mit Flüchtlingen waren heftig. Lucanos Hunde wurden vergiftet, und auf ihn selbst wurde sogar geschossen. Auch der italienische Staat unter Matteo Salvini begann sein Projekt zunehmend zu sabotieren. Was nicht sein durfte, durfte nicht sein: die erfolgreiche Integration von Flüchtlingen und MigrantInnen in die italienische Gesellschaft.
Anfang Oktober 2018 wurde Lucano unter dem Vorwurf der Begünstigung illegaler Einwanderung und finanzieller Unregelmässigkeiten festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Später wurde er wieder auf freien Fuss gesetzt, musste aber sein Amt als Bürgermeister abgeben und durfte Riace nicht mehr betreten. Von den ehemals achthundert Flüchtlingen verblieben nur wenige im Dorf. Die restlichen wurden umgesiedelt. Ganz offensichtlich sollte das Vorzeigemodell eines anderen Umgangs mit Flüchtlingen zerschlagen werden.
Exempel gegen die Menschlichkeit
Im September 2021 wurde Domenico Lucano in erster Instanz wegen Amtsmissbrauchs, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Beihilfe zur illegalen Einwanderung sowie wegen Betrugs, Erpressung und Urkundenfälschung zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Mit dem drakonischen Urteil des Gerichts von Locri, Kalabrien, wird ein Exempel gegen die Menschlichkeit statuiert. Es ist nur der radikale Ausdruck einer Tendenz, die seit Jahren anhält und immer weniger in Frage gestellt wird: der Kriminalisierung der Menschlichkeit, damit Flüchtlinge möglichst von Europa ferngehalten werden. Es gibt Menschen, bei denen löst dies Entsetzen aus, bei anderen Gleichgültigkeit bis hin zu Genugtuung.
Bilder:
oben: Hiruka komunikazio-taldea CC BY-SA 2.0 via WikiCommons
darunter: Carlo Troiano CC BY-SA 4.0 via WikiCommons
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