Auroville, 27. Januar 2019

Ich sitze in meinem Schreibstübchen und lasse die letzten Wochen Revue passieren. Viel zu schnell vergeht die Zeit. Die Tage zerrinnen wie Sand im Stundenglas. Habe ich etwas vorzuweisen, von dem ich sagen kann: «Das hat sich in mir verändert, seit ich hier bin. Das werde ich als Errungenschaft mit nach Hause nehmen»? Ist da etwas, das sich in Worte kleiden lässt und irgend einem Zweck dient? Natürlich, da sind ein paar ebenso schöne wie hinfällige Begegnungen, ein paar stille Stunden unter dem Bagnan-Baum, ein paar kleine Entdeckungen in diesem grossen Waldgebiet, das sich Auroville nennt, einige abenteuerliche Fahrten in die Villages der Umgebung oder nach Pondicherry. Ist das alles?

Und doch bin ich nichts weniger als glücklich. Tag für Tag wird es etwas wärmer. Tag für Tag erblühen neue Bäume und Sträucher. Sie blühen in einer Fülle, die mich erstaunen lässt. Der Boden ist übersät mit frisch gefallenen Blüten in Karminrot, Zitronengelb und Königsblau. Als wäre eben eine grosse Hochzeitsgesellschaft vorbeigezogen. Es ist Frühling, Zeit des Aufbruchs in der Natur, Hochzeit der Blüte.

Vielleicht ist es auch das, was mich glücklich sein lässt: Während ich mich zu Hause von der inneren Disposition her und inspiriert von der zunehmenden Hinfälligkeit meines Körpers dem Lebensende zuneige – bedacht auf Sicherheit im Alter und abwartend, stillehaltend, mich auf einen möglichst passenden Lebensabend vorbereitend –, erfüllt mich hier Aufbruchstimmung, Abenteuerlust, reinste Freude. Und mein Leib fühlt sich gar nicht mehr so hinfällig an.

Life is just a game

Ist es der heitere Himmel, das ausgesprochen angenehme Klima, der südindische, subtropische Groove mit all den betörend Düften, den zauberhaften Tierstimmen, dem üppigen Pflanzenwuchs, mal hell durchsonnt, mal schattig bis hin zum dunklen Bambushain? Sind es die freundlichen, offenen Menschen, die mich hier wohl sein lassen? Sobald ich unterwegs bin, sind Begegnungen, Gespräche fast unausweichlich. Die Gesichter sind offen, interessiert, schauen dich an. Im Nu bist du im Gespräch oder verständigst dich in Körpersprache – eine Geste, ein Lächeln –, weil du kein Tamilisch kannst. Oder ist es das Experiment Auroville, das sich seit fünfzig Jahren im Aufbruch befindet, mal mit mehr, mal mit weniger Elan? Ist es schliesslich die offene spirituelle Suche – eine Suche, die sich zwar an Sri Aurobindo und Mira Alfassa, der «Mutter», orientiert, aber jegliches Sektiererische ablehnt –, ist es die Suche nach neuen Lebensformen, so unvollkommen und tastend sie auch ist, die mich inspiriert?

Ich bin verliebt in Auroville und weiss noch nicht, was das bedeutet. Zugleich eröffnet sich mir die Möglichkeit – und sie wird mit jedem Tag konkreter –, eine längere Zeit von vielleicht fünf, sechs Monaten in Auroville zu verbringen, und zwar in Form eines Freiwilligeneinsatzes. Konkret: Ich wurde angefragt, ob ich nicht mithelfen möchte, die Sache der Barrierefreiheit in Auroville (Accessible Auroville) einen Schritt vorwärts zu bringen.

Diesbezüglich ist in Auroville nur ein anfängliches Bewusstsein vorhanden. Und das nur Dank einer bereits bestehenden Arbeitsgruppe mit ein paar wenigen Kämpferinnen und Kämpfern, die sich seit Jahren höchst engagiert dafür einsetzen. Im restlichen Indien – ausser vielleicht in den grössten Metropolen – fehlt dieses Bewusstsein ganz. Als Rollstuhlfahrer hätte ich ein paar Trümpfe in der Hand und könnte zusammen mit den anderen Aktivisten womöglich etwas bewirken. Geld ist keines vorhanden. Ich müsste also den Aufenthalt selbst finanzieren.

Life is just a game. Ich tue mal so, wie wenn … Entschieden ist noch nichts. Doch ich kläre meine Möglichkeiten ab: Unterkunft, Aufenthaltsstatus (Visum), Fortbewegung (der Swiss-Trac ist für die weiten Distanzen in Auroville zu langsam) und mögliche Projekte.

Nun habe ich also doch etwas vorzuweisen, von dem ich sagen kann: Das hat sich in mir verändert, seit ich hier bin. Das werde ich als Errungenschaft mit nach Hause nehmen, das dient einem Zweck …

Inklusion – ein Paradigmenwechsel im Sozialen

Die Reife einer Gesellschaft zeigt sich darin, wie weit sie das Faustrecht, das Recht des Stärkeren hinter sich gelassen hat. Gerade der Umgang mit den schwächsten Mitgliedern einer Gesellschaft, mit den Kindern, den Alten, den Behinderten, ist hier ein Gradmesser. Ein wichtiger Schritt bei der Überwindung des Rechts des Stärkeren ist die Inklusion, die selbstverständliche gesellschaftliche Zugehörigkeit auch von Menschen, die nicht der Norm entsprechen, zum Beispiel von Menschen mit Behinderung. – Ein Rückblick und ein Ausblick.

Es ist gar noch nicht so lange her, da sonderte man Behinderte aus dem sogenannt normalen Leben aus. Und oft genug steckte dahinter sogar so etwas wie guter Wille. Ich habe das am eigenen Leib erfahren. Als ich im Jahr 1959 im Kinderspital Basel mit Kinderlähmung angesteckt wurde und danach an den Beinen gelähmt war, behielt man mich bis ins Schulalter, also gut fünf Jahre, im Spital. Zu Beginn war das medizinisch begründet. Doch danach befand man, ich hätte im Spital doch die bestmögliche Betreuung, genau das, was ich bräuchte. Zudem würde ich mit meinen besonderen Bedürfnissen meine angestammte Familie – neben den Eltern waren da noch drei ältere Geschwister – zu sehr belasten. In diesem Sinn wurden meine Eltern bearbeitet – bis sie nachgaben. Das war im letzten Jahrhundert …

Aussonderung statt Eingliederung
Später sprach man von der Eingliederung der Behinderten. Eine ganze Betreuungsindustrie entstand und schrieb sich dies auf die Fahne. Eingliederungsstätten, Ausbildungsheime und Wohnzentren entstanden. Sie entsprachen offenbar einem Bedürfnis. Allerdings blieb die Eingliederung – sei es bei der Arbeit oder beim Wohnen – eher die Ausnahme. Nicht nur das gesellschaftliche Umfeld war noch nicht so reif, dass es die Menschen mit Behinderung in seiner Mitte willkommen heissen konnte, nein, auch entwickelte der Betreuungssektor, inzwischen zu einem namhaften, staatlich subventionierten Wirtschaftsfaktor angewachsen, eine Eigendynamik, die teilweise dem Bedürfnis der Behinderten nach Selbständigkeit zuwiderlief. Böse Zungen sprachen von einer Aussonderungsindustrie.

Der nächste grosse gesellschaftliche Schritt war das hehre Ziel der Integration, was zunächst nur ein moderneres Wort für Eingliederung war, also von der Idee her eigentlich nichts Neues. Doch diesmal war der gesellschaftliche Boden besser bereitet. Zum Beispiel war ab 2004 in der Schweiz das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft, worüber vorgängig landesweit abgestimmt wurde. Es handelte sich dabei um den moderateren Gegenvorschlag des Bundesrates zur Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte», die in ihren Forderungen nach Gleichstellung und gesellschaftlicher Teilhabe wesentlich weiter ging. Das Bewusstsein der Menschen ohne Behinderung war diesbezüglich also bereits etwas geschärft. Die Behinderten begannen nun die Gesellschaft zu infiltrieren. Man sah sie vermehrt auf öffentlichen Plätzen und auch an verantwortlichen Stellen. Sie traten selbstbewusster auf und forderten mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Vom Zweiklassensystem …
Doch das Konzept der Integration geht immer noch von einem Zweiklassensystem aus: Es gibt die (noch) nicht Dazugehörigen, die in die «normale» Gesellschaft eingegliedert werden sollen und – das hingegen ist neu – von der Gesellschaft nun auch faktisch willkommen geheissen werden, indem sie sich für die Aufnahme der Behinderten in ihrer Mitte fit macht. Ziel der Integration ist die Normalisierung der Lebensumstände der Menschen mit Behinderung. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, eine Arbeitsstelle einzunehmen. Sie sollen die Wahl haben, auch ausserhalb eines Heimes wohnen zu können. Der öffentliche Raum soll auch für sie uneingeschränkt zugänglich sein. Parallel dazu wird der Gesellschaft auch bewusst, dass Behinderte nicht so sehr wegen ihres Defizits behindert sind, sondern in vielfältiger, oft subtiler Weise von ihrer gesellschaftlichen Umgebung behindert werden.

… zur Inklusion
Der Boden ist nun vorbereitet für einen sozialen Paradigmenwechsel. Oder ist es eine stille Revolution? Der Massstab für gesellschaftliche Teilhabe ist nicht mehr eine Norm – etwa körperliche Unversehrtheit oder Selbständigkeit bei den täglichen Verrichtungen, aber auch ein bestimmter sprachlich-kultureller Hintergrund oder die soziale Herkunft. Vielmehr wird jeder Mensch in seiner Individualität und mit seinen besonderen Fähigkeiten, aber auch Einschränkungen grundsätzlich akzeptiert und als Erweiterung der Gesellschaft wahrgenommen. Vielfalt macht eine Gesellschaft farbiger – und robuster. Ein besonderer Mensch wird gar nicht erst – aus lauter Angst und unter der Behauptung eines «Normalen», das es so gar nicht gibt – ausgegrenzt, um ihn dann mit einigem Aufwand wieder zu integrieren. Vielmehr wird er von Beginn weg willkommen geheissen und die Gesellschaft genau um diese Individualität erweitert. Das nennt sich Inklusion. Und das braucht Mut – und ist vorläufig Zukunftsmusik, ein Ideal … Doch es ist auch ein logischer Schritt in der gesellschaftlichen Entwicklung. Denn die Ausgrenzung führt zu einer Schwächung des Einzelnen und der Gesellschaft als Ganzes. Ein ungeahntes Potenzial liegt brach, solange die Gesellschaft nicht eine Gesellschaft für alle ist. Ich wiederhole: für alle. Denn die Ausgegrenzten sind so oder so Teil unserer Gesellschaft, zumindest physisch, aber meistens und zum Glück auch darüber hinaus – aber eben kein vollwertiger Teil.

UNO-Konvention geht in die richtige Richtung
Nun muss das Ideal der Inklusion mit Leben gefüllt werden – ein langer Prozess, der nicht einfach verordnet werden kann. Inklusion wird an den Brennpunkten des Lebens verwirklicht und nirgendwo sonst: in der Schule, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Verkehr, in den Museen, den Kinos, in den Quartieren und den Verwaltungen. Inklusion lebt nur von Mensch zu Mensch. Trotzdem müssen die gesellschaftspolitischen Weichen in die entsprechende Richtung gestellt werden. Die «UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung» kann diesen Prozess anregen, da ihre Kernforderungen genau in diese Richtung gehen: Nichtdiskriminierung, Chancengleichheit, volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Barrierefreiheit. (Eine Arbeitsübersetzung ins Deutsche als Gegenvorschlag zur teilweise irreführenden offiziellen Übersetzung findet man hier [PDF, 180 KB, 25 S.].) In Deutschland wurde die Konvention unterzeichnet und ratifiziert, in der Schweiz noch nicht

Neulich an der Gerbergasse

Ein Relikt aus alten Zeiten, als die Behinderten noch unselbständig waren – und der öffentliche Raum noch nicht barrierefrei … 😉

(Foto: Magdalena Rauch)

UNO-Behindertenkonvention: Jetzt unterzeichnen!

Warum bloss ist mir das Thema unters Eis geraten? Vielleicht, weil das Ringen um die aktuellen IV-Revisionen viele andere Diskussionen im Behindertenbereich übertönt? Oder gar, weil die UNO, die Vereinten Nationen, so weit weg sind, dass man sich fragt, ob eine solche Konvention für uns Rollifahrer und für andere Behinderte in der Schweiz überhaupt bedeutsam ist, also konkret etwas in unserem Leben zu verändern vermag?

Von neuem auf das Thema gestossen bin ich durch eine dürre Agenturmeldung in der Basler Zeitung – ja, ich lese sie noch, die SVP-BaZ –, wonach die Ratifizierung (und wohl auch die vorgängige Unterzeichnung) der UNO-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderung durch die bürgerlichen Parteien abgelehnt würde. Das Thema begann mich zu interessieren … Denn begründet wird die Ablehnung damit, „dass das Abkommen ein Recht auf Arbeit vorsehe, das die Schweiz nicht kenne“.

Als Beobachter, der selbst im Rollstuhl sitzt, kann ich mir ein mildes Lächeln nicht verkneifen. Aha, nun haben also die Wirtschaftslobbyisten bürgerlichen Politiker ein Haar in der Suppe gefunden und möchten diese am liebsten grad ganz in den Ausguss schütten. Bestimmt gibt es noch andere Haare in dieser Suppe, vielleicht gar büschelweise – zumindest aus der Ego-Shooter-Sicht. Denn die UNO-Konvention soll die Position der Behinderten stärken, nicht nur rechtlich, sondern auch gesellschaftspolitisch, indem das Abkommen von einem ausgesprochen modernen Begriff für Behinderung ausgeht. Nach diesem ist der Ausschluss von Behinderten nicht so sehr eine Folge der persönlichen Defizite und Einschränkungen der Betroffenen selbst, sondern Ausdruck einer ungenügenden Berücksichtigung der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Etwas einfacher gesagt: Menschen mit Behinderung werden, womöglich schon als Kind, gesellschaftlich ausgeschlossen, weil die Gesellschaft auf ihre besonderen Bedürfnisse nicht eingehen will oder kann. Später werden dann von beiden Seiten teils teure (Re-)Integrationsmassnahmen erforderlich, die den Ausschluss zumindest teilweise wieder rückgängig machen. Dem steht das Konzept der Inklusion gegenüber – wie sie von der UNO-Behindertenkonvention gefordert wird. Inklusion schliesst Menschen mit Behinderung gar nicht erst aus der Gesellschaft aus. Das hilft unnötiges Leid verhindern – und auch Kosten sparen …

Zurück zu den bürgerlichen Politikern: Das Argument der Kostenersparnis sollte ihnen eigentlich das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Doch der Spareffekt durch die Inklusion von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft wird, so fürchte ich, eher ein Generationenprojekt denn ein solches der Legislaturperiode. Und einen so weiten Blick darf man den bürgerlichen Politikern nicht abverlangen – vielleicht überhaupt keinen Politikern … (Ups! Jetzt wettere ich über die Politiker schon wie ein richtiger SVP-Anhänger. Wie konnte es so weit kommen?)

Doch zumindest kann man versuchen, den PolitikerInnen in Bundes-Bern etwas Beine zu machen. Das Zentrum für Selbstbestimmtes Leben (ZSL) sammelt zu diesem Zweck – nein, kein Geld, sondern Unterschriften für eine entsprechende Petition … Nicht nur stimmberechtigte Schweizer BürgerInnen und Bürger, auch AusländerInnen, ja sogar Kinder und Jugendliche dürfen unterschreiben. (Dafür ist eine Petition für die Politik nicht wahnsinnig verbindlich. Trotzdem entfaltet sie, je nach Anzahl der Unterschriften, ihre Wirkung.) Zur Online-Petition geht es hier lang. Die Petition soll den Bundesrat dazu animieren, die UNO-Behindertenkonvention im Namen der Schweiz zu unterzeichnen und im Parlament ratifizieren zu lassen.

Doch gibt es noch andere Gründe, die Petition zu unterschreiben, als nur um den PolitikerInnen einzuheizen? – Aber sicher.

Die Unterzeichnung der UNO-Konvention stärkt tendenziell die Behinderten in verschiedenen Bereichen ihres Lebens – kulturell, wirtschaftlich, politisch und sozial –, indem entsprechende Grundrechte – zunächst – proklamiert werden. Diese Rechte gehen nicht über die allgemeinen Menschenrechte hinaus, sind also keine Sonderrechte. Vielmehr sind sie die „einfache, klare Anwendung der allgemeinen Menschenrechte auf den Teil der Bevölkerung mit einer Behinderung. Eine Nicht-Unterzeichnung kommt einer Aberkennung der Menschenrechte für diesen Teil der Bevölkerung gleich.“ (Zitat ZSL) Als klare Rechte sind etwa definiert:

Das Recht auf selbstbestimmte Lebensführung
Das ist alles andere als selbstverständlich … Denn dazu gehört etwa das Recht aller Menschen mit Behinderung, ihre Lebens- und Wohnform ebenso frei wählen zu dürfen, wie dies für die anderen Menschen – ich nenne sie zuweilen etwas salopp: die scheinbar Nichtbehinderten –, wie sie für andere Menschen eine Selbstverständlichkeit ist.

Barrierefreiheit
Meint den gleichberechtigten Zugang zu Angeboten der Öffentlichkeit, also zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschliesslich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind oder bereitgestellt werden.

Recht auf Bildung
Die Vertragsstaaten müssen ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslange Fortbildung gewährleisten.

Recht auf Arbeit und Beschäftigung
Die Vertragsstaaten müssen das gleichberechtigte Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit anerkennen. Hierzu müssen die Vertragsstaaten insbesondere Rechtsvorschriften erlassen, welche Diskriminierung auf Grund einer Behinderung in allen Fragen der Beschäftigung jeder Art verbieten, einschliesslich der Bedingungen in Bezug auf Rekrutierung, Einstellung und Beschäftigung, Weiterbeschäftigung, Aufstieg sowie sichere und gesunde Arbeitsbedingungen.

Die paar wenigen Beispiele machen einerseits deutlich, wie viele Selbstverständlichkeiten für Menschen mit Behinderung eben alles andere als selbstverständlich sind, z.B. die Selbstbestimmung. Anderseits zeigen die Beispiele, wie weitreichend und modern die UNO-Konvention die Themen angeht und benennt.

Seit dem Jahr 2008 ist die UNO-Behindertenkonvention in Kraft, denn im April jenes Jahres hatten zwanzig Staaten die Konvention ratifiziert. Inzwischen haben 147 Staaten unterzeichnet und deren 99 die Konvention ratifiziert, darunter die Europäische Union, aber auch Staaten wie Äthiopien, Haiti, Indien (eine vollständige Liste gibt es hier). Die Schweiz gehört nicht zu den Unterzeichnern – bis jetzt … Sie ist diesbezüglich unter den „zivilisierten Ländern“ in einer Aussenseiterposition. Was die Dominanz der bürgerlichen Parteien nicht alles für Folgen hat …

***

Nochmals: Die Online-Petition zugunsten der UNO-Behindertenkonvention kann hier unterschrieben werden. Kleiner Aufwand – (womöglich) grosse Wirkung! – Und die Zeit drängt.

Behindertengleichstellung in der Schweiz: Quo vadis?

Seit Anfang 2004 ist das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in Kraft. Und es hat sich seither auch einiges getan. Besonders beim öffentlichen Verkehr und bei der Zugänglichkeit von öffentlichen Gebäuden verspüren viele Betroffene allmählich Fortschritte. Doch gerade in Zeiten der Sparwut kommt die Gleichstellung erneut unter Druck – und erfordert deshalb unseren ganzen Einsatz.

Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung zielt darauf hin, Benachteiligungen zu verringern, zu beseitigen oder gar nicht erst entstehen zu lassen. Das BehiG setzt dazu schweizweit Rahmenbedingungen. Die Betroffenen sollen leichter am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, möglichst selbständig soziale Kontakte knüpfen, sich fortbilden und eine Erwerbstätigkeit ausüben können. Integration statt Exklusion, Teilhabe statt Ausgrenzung ist ein zentrales Anliegen dieses Gesetzes. So weit, so schön – und so abstrakt.

Einiges konkreter wird es, wenn wir etwa den öffentlichen Verkehr anschauen, zum Beispiel die SBB (Schweizerische Bundesbahnen). Bis Ende 2023 sollen laut BehiG im öffentlichen Verkehr die Hindernisse für Mobilitätsbehinderte weitgehend beseitigt sein. Das heisst, die Fahrsteige sollen bis dann so erhöht werden, dass Rollstuhlfahrer weitgehend stufenlos in den Zug einsteigen können. Ebenso sollen die Fahrsteige mit Rampen erschlossen werden.

Gleichstellung auf später verschieben?

Das alles ist natürlich nicht zum Nulltarif zu haben. Gerade bauliche Anpassungen kosten schnell mal viel Geld. Da nun der Bund ebenso wie die SBB unter einem Spardiktat stehen, wird gemeinsam überlegt, ob die Frist zur Verwirklichung der Ziele des BehiG nicht um 15 Jahre, also bis ins Jahr 2039 verlängert werden kann. Argumentiert wird damit, dass bis dann viele Bahnhöfe wegen ihres Alter sowieso erneuert werden müssten und auf diese Weise viele Millionen gespart werden könnten.

Das Ansinnen ist bereits in der Vernehmlassung, und zwar im Rahmen des Konsolidierungsprogramms 2011 – 2013 des Eidgenössischen Finanzdepartements. Und wenn die Menschen mit Behinderung und ihre Verbände nicht massiv die Stimme dagegen erheben – was leider nicht zu erwarten ist, zu viele andere, brennendere Themen fordern in nächster Zeit unser Aufbegehren –, wenn wir uns also nicht lautstark wehren, wird zumindest die Gleichstellung der Mobilitätsbehinderten im öffentlichen Verkehr auf später verschoben. Und andere Abstriche bei der Gleichstellung von Behinderten werden folgen, nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf kantonaler Ebene. Zumindest droht die Gefahr, und zwar überall dort, wo die Gleichstellung mit zusätzlichen Ausgaben verbunden ist – also überall …

Gleichstellung ist einklagbar

Doch dass die Integration von Menschen mit Behinderung die Gesellschaft teurer zu stehen komme als ihre Ausgrenzung, ist ein kurzsichtiger – und letztlich teurer – Trugschluss. Das Gegenteil ist wahr: Die Ermächtigung und Stärkung der Behinderten ist mittel- bis langfristig die kostengünstigste Variante des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es kann doch nicht sein, dass man von den Behinderten mit viel Nachdruck fordert, sie müssten sich in die Arbeitswelt integrieren – und gleichzeitig entzieht man ihnen die Mittel, gerade dies zu tun, indem man die Frist, bis wann der öffentliche Verkehr barrierefrei sein soll, auf später verschiebt.

Was viele Betroffenen nicht wissen: Das Behindertengleichstellungsgesetz macht die Gleichstellung zu einem einklagbaren Recht. Nur wenn wir uns also gegen Rückschritte wehren – politisch und rechtlich –, gibt es eine Chance, diese aufzuhalten.