Keine zusätzlichen Millionen für Frontex!

Das Referendum gegen den Ausbau des Schweizer Beitrags an die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) dürfte es an der Urne schwer haben. Aufrüstung liegt nun mal im Trend. Und was Frontex bei der Sicherung der europäischen Aussengrenzen alles anstellt, interessiert nur eine Minderheit. Allerdings sollte bedacht werden, dass Werte wie Menschenrechte und Völkerrecht, die Europa und mit ihm die Schweiz gegen den Aggressor in der Ukraine ins Feld führt, andernorts durch Frontex verraten werden. – Eine Streitschrift gegen die Scheinheiligkeit.

Am kommenden 15. Mai entscheiden die Schweizer Stimmberechtigten unter anderem über die Aufstockung des Schweizer Beitrags an die Grenzschutzagentur Frontex. Der jährliche Beitrag an Frontex soll von heute 24 Millionen auf 61 Millionen Franken bis im Jahr 2029 angehoben werden. Ferner sollen die von Schweizer Beamten besetzten Vollzeitstellen von 6 auf 40 aufgestockt werden. Es geht dabei um den Nachvollzug des von der Europäischen Union im Jahr 2019 verabschiedeten Frontex-Ausbaus, einen Nachvollzug, zu dem die Schweiz als Mitglied des Schengen-Raums verpflichtet ist. Das Schweizer Parlament hat diese Verordnung respektive deren Nachvollzug gutgeheissen, wogegen das Referendum ergriffen wurde.

Ein Novum in der Schweiz und darüber hinaus: Zum ersten Mal wird über Frontex und damit über das europäische Grenzregime in breiter Öffentlichkeit und direktdemokratisch verhandelt. Denn was wie eine Selbstverständlichkeit daherkommt – Überwachung der EU-Aussengrenze, nachdem die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft worden sind –, ist in der heutigen Form eine Ungeheuerlichkeit. Die Flüchtlingstragödien an den EU-Aussengrenzen sind menschengemacht. Die Frontex als ausführende Behörde des europäischen Grenzregimes trägt dafür eine grosse Verantwortung – und damit auch wir in der Schweiz.

Krieg gegen Migration

FRONTEX-Beamter bei der ersten gemeinsamen Patrouille mit der griechischen Polizei an der griechisch-türkischen Grenze in Kastania

Frontex ist hauptsächlich eine Agentur zur Abwehr von Flüchtlingen und MigrantInnen geworden. Sie ist mitverantwortlich für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen an Europas Aussengrenzen. Unter ihren wachsamen Augen ertranken in den letzten Jahren Tausende MigrantInnen und Flüchtlinge im Mittelmeer. Und es werden immer mehr. Gleichzeitig wird die Seenotrettung durch humanitäre Organisationen entlang der Flüchtlingsrouten immer mehr unterbunden und kriminalisiert. Frontex arbeitet mit den libyschen Behörden zusammen, die – etwa mit ihrer Küstenwache – an der zentralen Mittelmeerroute als Türsteher gegen Flüchtlinge fungieren und im Zusammenhang mit dieser Rolle schwere Menschenrechtsverletzungen verüben.

Frontex steht für die Militarisierung der EU-Aussengrenzen – und einen regelrechten Krieg gegen Migration. Mit zusätzlichen Mitteln, auch aus der Schweiz, wird dieser Krieg noch befeuert. Sogenannte Realisten und Pragmatiker werden entgegnen, mit einer solchen Fundamentalopposition gegen Frontex würde an den EU-Aussengrenzen für die Flüchtlinge gar nichts besser. Im Gegenteil: Eine auch finanziell gut ausgestattete Grenz- und Küstenwache sei gerade in menschenrechtlichen Belangen besser aufgestellt. Zudem stehe eine solche Agentur unter behördlicher Aufsicht und sei der «Geschäftsprüfung des Europaparlaments» unterstellt, so zum Beispiel Rudolf Strahm in einer Kolumne im Tagesanzeiger.

Und warum ist es dann möglich, dass unter dieser angeblichen Kontrolle Hunderte, wenn nicht Tausende Pushbacks stattfanden, also Flüchtlinge an der Wahrnehmung ihres Grundrechtes auf Prüfung ihrer Fluchtgründe gehindert werden, wie inzwischen ans Licht kommt und für welche Frontex zumindest mitverantwortlich ist?

Frontex als Handlanger einer verfehlten Flüchtlingspolitik

Warzaw Spire, der Sitz der Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) in Warschau, Polen

Frontex darf nicht mit zusätzlichem Geld alimentiert werden, solange die menschenverachtenden Praktiken nicht aufgearbeitet und beendet sind. Vielmehr muss der Grenzschutzagentur das Geld entzogen werden, um Schlimmeres zu verhindern. Doch das eigentliche Problem ist die europäische Asyl- und Migrationspolitik. Frontex ist nur das ausführende Organ. «Die EU ist de facto im Kriegszustand gegen MigrantInnen», wie der spanische Professor für Rechts- und politische Philosophie an der Universität von Valencia Javier des Lucas schon vor Jahren sagte. Weiter: «Und das ist ein Kampf mit allen Mitteln, auch jenseits rechtlicher Normen, mit dem einzigen Ziel, die vermeintliche Zuwanderungs- und Flüchtlingslawine aufzuhalten. Zu den bevorzugten Mitteln gehören dabei die polizeilichen Kontrollmechanismen, die sich von militärischen Mitteln kaum noch unterscheiden.» Frontex ist Handlanger dieser Politik.

Kein Schengen-Rauswurf auf die Schnelle

Die Abstimmung zum Frontex-Referendum wird von den Gegnern zum Ja oder Nein zur Mitgliedschaft beim Schengen-Raum hochstilisiert. Gerade beim zurzeit angespannten Verhältnis zwischen der Europäischen Union und der Schweiz drohe bei einem Nein zur Aufstockung des Schweizer Beitrags an die Frontex ein Rauswurf aus dem Schengen-Raum.

Um diese Frage geht es beim Frontex-Referendum nur indirekt. Es gibt diesbezüglich keinen Automatismus. Allerdings müsste die Schweiz mit der EU verhandeln, wie die Zusammenarbeit fortgesetzt werden soll. Keine der beiden Seiten kann ein Interesse daran haben, die inzwischen komplex gewordene Kooperation im Schengen-Raum mit einem Federstrich aufzukündigen. Laut Rainer J. Schweizer, ehemaliger Staatsrechtsprofessor an der Universität St. Gallen, wäre dies auch rechtlich so vielschichtig, dass es ein eigentliches Austrittsverfahren bräuchte, zu vergleichen vielleicht mit dem Brexit, um den Schengen-Vertrag zwischen der EU und der Schweiz aufzulösen.

Bei der Diskussion im Schweizer Parlament wurden seitens der Befürworter des Referendums, hauptsächlich von SP und Grünen, Vorschläge gemacht, wie als humanitäre Ausgleichsmassnahme zur Aufstockung des Schweizer Frontex-Beitrags das Asylrecht gestärkt werden kann, etwa durch die Aufnahme von mehr Resettlement-Flüchtlingen, durch die Wiedereinführung des Botschaftsasyls und einem Ausbau der humanitären Visa. Dies wurde von bürgerlicher Seite abgeschmettert – was das Referendum gegen die einseitige Vorlage zur Folge hatte …

Es würde der Schweiz gut anstehen, ihre sogenannte «humanitäre Tradition» nicht nur wie eine Monstranz vor sich her zu tragen, sondern auch danach zu handeln. Die Rückweisung der einseitig auf Flüchtlingsabwehr ausgerichteten Frontex-Vorlage bietet eine Gelegenheit dazu.


Bilder

oben: «NoFrontex» von 2le2im-bdc, CC-Lizenz via Wikimedia Commons
Mitte: «Mitglied der Frontex» von Rock Cohen, CC-Lizenz via flickr
unten: «Warzaw Spire» von Neil Williamson, CC-Lizenz via flickr

 

Von der Kriminalisierung der Menschlichkeit …

Eine spätere Generation wird mit Entsetzen auf den heutigen Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen in Europa blicken. Die Flüchtlinge sind zum Spielball einer populistischen Politik geworden, um jene verängstigten Menschen hinter sich zu scharen, die von wirtschaftlichem Abstieg und Armut bedroht sind. Und das sind viele. Dass die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt, wird nicht nur in Kauf genommen, sondern ist Teil des Kalküls. – Die traurige Geschichte von Riace.

Kennen Sie Riace, das italienische Städtchen in Kalabrien, dem äussersten Süden Italiens? Die Gemeinde ist zweigeteilt in einen Ortsteil direkt am Meer und den anderen etwas zurückversetzt in den Hügeln. Seit langer Zeit leidet Riace wie viele umliegende Gemeinden unter Arbeitslosigkeit und Abwanderung. Warum also nicht versuchen, hier MigrantInnen aufzunehmen? Wen wundert’s, dass Ende der 1990er Jahre seitens verschiedener NGOs erste Projekte zur Aufnahme von Flüchtlingen in diesen Dörfern angestossen wurden?

Jenes von Riace wurde weitherum berühmt. Treibende Kraft bei der Wiederbelebung des Städtchens war Domenico Lucano, dessen Bürgermeister er später wurde. Zusammen mit regionalen, überregionalen und internationalen Initiativen gründete er den Verein «Città Futura» («Stadt der Zukunft») und organisierte die Aufnahme und sorgfältige Integration von Flüchtlingen. Das Leben kam zurück ins Städtchen, der Kleinhandel blühte auf, Schulen konnten offenbleiben, und manche Handwerksbetriebe erlebten eine Renaissance. Ganz zu schweigen von den Chancen, die sich den neu Angekommenen eröffneten.

Versammlung «Offene Grenzen» im Amphitheater von Riace

Internationale Anerkennung für Domenico Lucano

Mit der Zeit fanden bis zu achthundert MigrantInnen in Riace Aufnahme und eine Perspektive, hauptsächlich aus Tunesien, Senegal, Eritrea und Syrien. Und Domenico «Mimmo» Lucano wurde zur Ikone eines anderen Umgangs mit Flüchtlingen. Er erhielt Anerkennung weit über Italien hinaus, bis hin zum UNHCR, dem Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, welches das Projekt in Riace mit regelmässigen Beiträgen unterstützte. Die «Stadt der Zukunft» galt als Modell gerade für strukturschwache Gebiete, die von Abwanderung und wirtschaftlichem Niedergang bedroht sind.

Die Gegenreaktionen der Verfechter eines harten, abwehrenden Umgangs mit Flüchtlingen waren heftig. Lucanos Hunde wurden vergiftet, und auf ihn selbst wurde sogar geschossen. Auch der italienische Staat unter Matteo Salvini begann sein Projekt zunehmend zu sabotieren. Was nicht sein durfte, durfte nicht sein: die erfolgreiche Integration von Flüchtlingen und MigrantInnen in die italienische Gesellschaft.

Domenico Lucano

Anfang Oktober 2018 wurde Lucano unter dem Vorwurf der Begünstigung illegaler Einwanderung und finanzieller Unregelmässigkeiten festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Später wurde er wieder auf freien Fuss gesetzt, musste aber sein Amt als Bürgermeister abgeben und durfte Riace nicht mehr betreten. Von den ehemals achthundert Flüchtlingen verblieben nur wenige im Dorf. Die restlichen wurden umgesiedelt. Ganz offensichtlich sollte das Vorzeigemodell eines anderen Umgangs mit Flüchtlingen zerschlagen werden.

Exempel gegen die Menschlichkeit

Im September 2021 wurde Domenico Lucano in erster Instanz wegen Amtsmissbrauchs, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Beihilfe zur illegalen Einwanderung sowie wegen Betrugs, Erpressung und Urkundenfälschung zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Mit dem drakonischen Urteil des Gerichts von Locri, Kalabrien, wird ein Exempel gegen die Menschlichkeit statuiert. Es ist nur der radikale Ausdruck einer Tendenz, die seit Jahren anhält und immer weniger in Frage gestellt wird: der Kriminalisierung der Menschlichkeit, damit Flüchtlinge möglichst von Europa ferngehalten werden. Es gibt Menschen, bei denen löst dies Entsetzen aus, bei anderen Gleichgültigkeit bis hin zu Genugtuung.


Bilder:
oben: Hiruka komunikazio-taldea CC BY-SA 2.0 via WikiCommons
darunter: Carlo Troiano CC BY-SA 4.0 via WikiCommons

Teil 2: «Gegen die Normalisierung des Unmenschlichen»

Wenn der Kampf gegen den Terrorismus zu weit geht

Am 13. Juni dieses Jahres sind die Schweizer Stimmberechtigten aufgerufen, über gleich fünf Vorlagen zu befinden, die eine umstrittener als die andere. Die Vorlage mit den tiefgreifendsten Auswirkungen allerdings ist am wenigsten umstritten: das «Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus» (PMT). Diese Vorlage soll auf Kosten der Grund- und Menschenrechte die Terrorismusbekämpfung stärken. – Eine Bewertung.

Man kann sich schon fragen, ob wir den Kampf gegen den Terrorismus nicht als gescheitert betrachten müssen: Ganze Länder wie Afghanistan und der Irak wurden in seinem Namen verwüstet. Viele Jahre und Milliarden Dollar später sind sie ausgesprochene Brutstätten des Terrorismus. In den westlichen Ländern wurden – ebenfalls im Namen der Terrorismusbekämpfung – vielenorts die Grundrechte massiv eingeschränkt und die Überwachung ausgebaut. Sind wir dadurch besser geschützt? Weltweit stehen die Menschenrechte unter Druck, nicht zuletzt, weil illegitime Militäraktionen, aussergerichtliche Tötungen, gar Folter als notwendiger Teil des Kampfes gegen den Terrorismus betrachtet werden. Dessen ungeachtet wachsen gleich der Hydra dem Terrorismus neue Köpfe, wo einer abgeschlagen wird. Zudem erleben wir seit zwanzig Jahren geradezu eine Inflation des Begriffs Terrorismus, ohne dass man sich in der Staatengemeinschaft auf dessen genaue Bedeutung einigen könnte. Oft genug wird er als Kampfbegriff verwendet, um den politischen Gegner zu dämonisieren.[1]

Müssen wir nicht vielmehr konstatieren, dass der Terrorismus insofern an sein Ziel gelangt ist, als er neben der Gesellschaft auch die Rechtsordnung nachhaltig erschüttert hat, hin zu einer Stärkung des Autoritären, hin zu zunehmender Überwachung und Einschränkung der Grundrechte? Diese Zerrüttung war aber nicht möglich ohne das bereitwillige Einverständnis der betroffenen Staaten und Regierungen. Manche Regierung profitiert kräftig von der Bewirtschaftung von Bedrohungsszenarien und Angst. Gleichzeitig fehlt es am gemeinsamen Willen, die tatsächlichen Ursachen des Terrorismus anzugehen, dessen Antrieb und Motiven mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln zu begegnen. Denn Terrorismus lässt sich durchaus auch als politischer Konflikt verstehen, der mit entsprechenden Mitteln angegangen werden muss. Stattdessen stürzt man sich mit wehenden Fahnen in den «Krieg gegen den Terror» und verfolgt damit oft genug eine versteckte Agenda.

Von Gefährdern und einem dehnbaren Terrorismusbegriff

In dieses zugegeben etwas holzschnittartige Bild fügen sich die zur Abstimmung stehenden Polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (PMT) problemlos: Neu sollen mit dem Gesetz mögliche Straftaten sanktioniert werden, noch bevor sie begangen wurden. Ein sogenannter terroristischen Gefährder kann mit Massnahmen unterschiedlicher Intensität bis hin zum Hausarrest belegt werden, ohne dass er eine Straftat begangen hat und ohne dass die Massnahmen – ausser dem Hausarrest – richterlich angeordnet werden müssen. Das unterläuft die Gewaltentrennung und öffnet staatlicher Willkür Tür und Tor. Auch handelt es sich hier um einen fragwürdigen Paradigmenwechsel im Rechtsleben.

Kommt hinzu, dass in der Gesetzesvorlage, die zur Abstimmung kommt, der Terrorismusbegriff äusserst schwammig und interpretationsbedürftig gehalten ist. Dort steht – und jetzt wird’s ein bisschen detailversessen:

Als terroristische Aktivität gelten Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen.[2]

Es reicht also, dass eine Beeinflussung der staatlichen Ordnung durch Verbreitung von Furcht und Schrecken begünstigt wird, um als terroristische Aktivität kategorisiert zu werden, ohne dass damit eine schwere Straftat verbunden sein muss. Das Wörtchen oder macht den entscheidenden Unterschied im Gesetzestext. Wäre an dessen Stelle ein Und, müssten beide Kriterien, die Begehung oder Androhung einer schweren Straftat und die Verbreitung von Furcht und Schrecken gegeben sein, um Sanktionen auszulösen. Es steht aber ein Oder. Entweder das eine oder das andere Kriterium kann bei dieser Vorlage zu Sanktionen führen.

Kritik von vielen Seiten

Das ist nur eine der juristischen Unstimmigkeiten, die diese Gesetzesvorlage aufweist. Von berufener Seite wird sie denn auch heftig kritisiert, unter anderem

Hinzu kommt, dass die Zwangsmassnahmen bereits bei Kindern ab 12 Jahren angeordnet werden können, der Hausarrest ab 15 Jahren. Damit verstösst das Gesetz gegen die Kinderrechtskonvention.

Bei allem Verständnis für das Sicherheitsbedürfnis der Schweizer Bevölkerung und das Bemühen der Regierenden, diesem zu entsprechen, bin ich doch der Auffassung, dass entsprechende Massnahmen immer verhältnismässig sein und sich widerspruchsfrei ins bestehende Recht einfügen müssen. Umso mehr, wenn sie ein so wichtiges Gut wie die Grundrechte tangieren.

Ich werde deshalb zu dieser Vorlage ein doppelt unterstrichenes Nein einlegen.


Anmerkungen:

[1] In einem Interview zum Terrorismus-Begriff und den weltweiten wie schweizerischen Massnahmen gegen den Terrorismus bringt Patrick Walder, ehemaliger Delegierter für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und heute Kampagnenleiter bei Amnesty International, aus reicher Erfahrung Licht in ein dunkles und verworrenes Kapitel der Gegenwart. Das Gespräch ist im Onlinemagazin Republik erschienen: https://www.republik.ch/2021/05/14/terrorismus-ist-zum-kampfbegriff-geworden-um-den-politischen-gegner-zu-daemonisieren.

[2] Art. 23e, Abschnitt 2 des vorgeschlagenen Gesetzes, Hervorhebung durch den Verfasser

Quellen:

Bild von Stafford GREEN auf Pixabay

Freihandel mit einem Unrechtsstaat?

Soll man internationale Handelsbeziehungen unabhängig von der Menschenrechtslage und den ökologischen Rahmenbedingungen eingehen? Oder besteht zwischen Wirtschaftsbeziehungen sowie Menschenrechts- und Nachhaltigkeitspolitik ein zwingender Zusammenhang? Diese Frage stellt sich anlässlich der Referendumsabstimmung zum Wirtschaftsabkommen zwischen der Schweiz und Indonesien. – Eine Auslegeordnung.

Fragwürdiger Bau eines Korridors in den Dschungel von Sumatra, Indonesien.

Am 7. März 2021 stimmen die Schweizer Stimmberechtigten über das Wirtschaftsabkommen zwischen der Schweiz und Indonesien ab. Die kleine, aber aktive Bauerngewerkschaft Uniterre hatte zusammen mit einem Genfer Biowinzer dagegen das Referendum ergriffen. Ökologische und menschenrechtliche Bedenken gaben den Ausschlag dazu. Im Zentrum der Kritik steht das Palmöl, ein Rohstoff, der in der Nahrungsmittelindustrie und als Agrotreibstoff eine wachsende Rolle spielt und in den tropischen Erzeugerländern zu massiver Abholzung von Primärwäldern und zu grossflächigen Monokulturen führt, verbunden mit massiven Umweltschäden.

Ökologische Bedenken

Zwar bleibt im Abkommen mit Indonesien die Importmenge des Palmöls kontingentiert, eine Konzession an die Schweizer Speiseölwirtschaft. Und die Einfuhr ist mit Nachhaltigkeitskriterien verknüpft: Nur zertifiziertes und rückverfolgbares Palmöl soll von Zollerleichterungen profitieren. Ein Novum in der Geschichte der Schweizer Handelsverträge, das hoch gefeiert wird und auch links der politischen Mitte für Sympathien sorgt. Das Referenumskomitee stellt allerdings das Zertifizierungssystem in Frage und spricht von einem Etikettenschwindel. Die Palmölindustrie kontrolliere sich selbst, indem die Zertifizierung durch die private Gesellschaft RSPO (Roundtable on Sustainable Palm Oil) geschehe, die wiederum von Palmölproduzenten dominiert werde.

Wo einst tropischer Regenwald war, entstehen Plantagen.

Gibt es überhaupt nachhaltig produziertes Palmöl? Natürlich! Aber kaum auf dem internationalen Markt. Denn dieses müsste kleinräumig angebaut werden. Grosse Monokulturen sind per se eine ökologische Katastrophe, gerade in den Tropen. Palmöl und Soja sind wohl die grössten Treiber der Zerstörung tropischer Wälder. Nur der Bergbau kann ihnen diesbezüglich das Wasser reichen und vielleicht noch die Fleischwirtschaft. Palmöl besitzt den grossen Vorteil, dass pro Anbaufläche deutlich mehr Ertrag erzielt werden kann als mit anderen Ölsaaten, im Vergleich zu Soja sechsmal mehr. Das geht nur mit massivem Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden, unter anderem von Paraquat, dem Pflanzenschutzmittel, das in vielen Staaten verboten ist, auch in der Schweiz – nicht aber in Indonesien.

Menschenrechtliche Bedenken

Es stellt sich somit grundsätzlich die Frage, ob unter solchen ökologischen Voraussetzungen die Schweiz Indonesien überhaupt einen privilegierten Zugang zu ihrem Markt gewähren soll. Dazu später mehr. Nicht weniger dringlich sind die Bedenken, was die Menschenrechtslage in Indonesien anbelangt. Zwischen dem verbrecherischen Suharto-Regime der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und den heutigen Machthabern in Indonesien besteht eine ungebrochene Kontinuität. Zwar hat es seit dem Rücktritt von Präsident Suharto im Jahr 1998 einige Verbesserungen bei den Bürgerrechten gegeben. Doch diese Verbesserungen bleiben mehrheitlich formaler Art. Eine Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Suharto hat es nicht gegeben. Insbesondere der militärisch-industrielle Komplex wird von denselben Leuten und deren Nachkommen kontrolliert. Entsprechend kritisch bleibt die Menschenrechtslage in Indonesien.

Damals wie heute steht die indigene Bevölkerung den expansiven Gelüsten der Rohstoffkonzerne und der Palmölindustrie im Wege. Damals wie heute werden ihre Landrechte mit Füssen getreten. Repression und Vertreibung gehen oft von staatlichen Organen aus und bleiben straffrei. Exemplarisch zeigt sich das in Westpapua, wo laut einem kürzlich erschienenen Artikel in der WOZ «die Palmölkonglomerate eine neue Front im Regenwald eröffnen». Die Pressefreiheit wird gemäss Reporter ohne Grenzen gerade in diesem Landesteil massiv verletzt. Lokalen wie ausländischen Journalisten «droht Verfolgung oder Verhaftung, wenn sie Übergriffe durch das Militär dokumentieren oder sogar nur über humanitäre Themen berichten».

Pro und Contra

Angesichts dieser Tatsachen muss die Frage gestellt werden, ob mit einem Unrechtsstaat ein Handelsvertrag überhaupt eingegangen werden soll. Legen wir diese sowie die ökologischen Bedenken im Zusammenhang mit dem Palmöl und anderen Rohstoffen auf die eine Waagschale und das Zückerchen der Umweltauflagen für Zollerleichterungen beim Palmöl auf die andere, so dürfte die Entscheidung gegen das Handelsabkommen klar sein.

Nun wollen wir es uns aber nicht allzu leicht machen. Denn wenn die Umweltauflagen – und in Zukunft womöglich auch soziale Auflagen – in Handelsverträgen Schule machen würden, wäre viel gewonnen. Dies ist wohl der Grund, weshalb die freihandelskritische Organisation Public Eye sich nicht für ein klares Nein ausspricht, sondern «Stimmfreigabe» beschlossen hat. Sie betrachtet «das Abkommen mit Indonesien ungeeignet, um mittels eines Referendums ein Exempel gegen Freihandel zu statuieren».

Auch die EU steht in Verhandlungen für einen Handelsvertrag mit Indonesien. Die Chance, dass auch in diesen Vertrag Nachhaltigkeitsbestimmungen aufgenommen werden, ist durchaus intakt – und würde wohl durch ein entsprechendes «Vorpreschen» der Schweiz gestärkt. Womöglich würde dadurch gar ein Paradigmenwechsel bei den Handelsverträgen eingeläutet. Die beiden Waagschalen für und wider das Freihandelsabkommen mit Indonesien sind dadurch also wieder deutlich ausgeglichener.

Das Zünglein an der Waage

Zum Schluss und als Zünglein an der Waage wäre für mich auch wichtig zu wissen, ob von einem Freihandelsvertrag auch die einfache Bevölkerung Indonesiens profitiert. Das würde die Waagschale meines Erachtens in Richtung Zustimmung zum Wirtschaftsabkommen Schweiz–Indonesien bewegen. Und ich könnte nach einigem Zögern doch dazu Ja sagen.

Nun ist es leider so, dass Handelsabkommen zwischen westlichen Ländern und Schwellenländern, wie es Indonesien darstellt, immer noch von alten Mustern geprägt sind: Den Schwellenländern wie auch den Entwicklungsländern steht die Rolle der Rohstoffexporteure zu, während die westlichen Länder ihre hochentwickelten Produkte auf einen wachsenden Markt werfen möchten, mit der Folge, dass die Wertschöpfung zu einem guten Teil im eigenen Land geschieht. Wenn diese ins Zielland ausgelagert wird, so hauptsächlich wegen der billigen Arbeitskräfte.

Von einem Abkommen «auf Augenhöhe», wie es die BefürworterInnen des Abkommens behaupten, kann deshalb keine Rede sein. Für mich ist deshalb klar: Ich werde ein Nein in die Urne legen.

Palmölplantagen soweit das Auge reicht.


Quellen:

Alle Bilder: Rain Forest Action Network (RAN)

Javier de Lucas: «Die EU ist de facto im Kriegszustand gegen MigrantInnen»

Internationale Organisationen rechnen mit etwa 3’800 Flüchtlingen und MigrantInnen, die letztes Jahr beim Versuch, das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren, umgekommen sind. Die Europäische Union ist an dieser Tragödie mitschuldig. Ist eine andere Migrations- und Asylpolitik möglich? Amador Fernández-Savater, spanischer Journalist, hat Javier de Lucas, Professor für Rechts- und politische Philosophie in Valencia, zum Gespräch über Migrations- und Flüchtlingspolitik, Widerstandsformen gegen staatliche Gewalt und die Veränderungen der globalen Landschaft nach den Attentaten von Paris getroffen. Übersetzung aus dem Spanischen: Walter B.

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Javier de Lucas

Javier de Lucas arbeitet seit 2004 im Institut für Menschenrechte der Universität von Valencia. Er ist Professor für Rechts- und politische Philosophie mit Schwerpunkt Menschenrechte, Migrationspolitik, Multikulturalität und Demokratie.

Als er im Dezember 2015 an der Buchmesse von Guadalajara in Mexiko eingeladen war, sein neustes Buch El mediterráneo: el naufragio de Europa [Das Mittelmeer: Der Schiffbruch Europas] vorzustellen, gab Javier de Lucas an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko zudem ein Seminar über Migrationspolitik. Amarela Varela, Forscherin und Professorin, Aktivistin und meine gute Freundin, hatte ihn zum Seminar eingeladen.

Bei dieser Gelegenheit führten Amarala Varela, Javier de Lucas und ich das folgende Gespräch über Migrations- und Flüchtlingspolitik, Widerstandsformen gegen staatliche Gewalt und die Veränderungen der globalen Landschaft nach den Attentaten von Paris.

Flüchtlingskrise?

  1. Javier, was möchtest du, in kurze Worte gefasst, mit deinem Buch erreichen?

Javier de Lucas: Ja, ich erkläre das ganz kurz. Das wichtigste Ziel des Buches ist, aus der Sicht der Migrations- und Asylpolitik aufzuzeigen, dass die Europäische Union als politisches Projekt gescheitert ist, nämlich als Projekt eines gemeinsamen Raumes von Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit auf der Grundlage der Menschenrechte. Tatsächlich erleben wir im Gegensatz dazu besonders in den letzten zehn Jahren eine Renationalisierung der Migrationspolitik. Der Vorwand lautet, die Migration betreffe die Souveränität der Einzelstaaten. Gewiss! Aber es ist davon auszugehen, dass die EU ein politisches Projekt war, das gerade diese je eigene Handlungslogik der Nationalstaaten überwinden wollte.

  1. In jüngster Vergangenheit spricht man von einer «Flüchtlingskrise» und einer noch nie dagewesenen humanitären Herausforderung für Europa.

Javier de Lucas: Ich bin mir sicher, dass eine Flüchtlingskrise besteht, seit es Flüchtlinge gibt. Wenn wir zurzeit vermehrt darüber sprechen, so nicht, weil sie neu ist, sondern weil es nun ganz in unserer Nähe einen Faktor gibt, der Fluchtbewegungen auslöst: der unsägliche Bürgerkrieg in Syrien. Es gibt vier Millionen sechshunderttausend syrische Staatsangehörige, die das Land notgedrungen verlassen mussten.

Aber es trifft nicht zu, dass Europa bei der Aufnahme von Flüchtlingen an eine Kapazitätsgrenze gestossen ist. 85 Prozent der syrischen Flüchtlinge wurden von vier Ländern aufgenommen, die an das Konfliktgebiet angrenzen: Libanon, Jordanien, Irak und die Türkei, die allein zweieinhalb Millionen Menschen aufgenommen hat. In diesen Ländern herrscht tatsächlich eine Notsituation. Die EU hat nur angeboten, 160’000 Personen aufzunehmen.

Die institutionelle und mediale Botschaft, wir seien von einem Flüchtlingsstrom bedroht, der unsere Aufnahmekapazität überschreitet, ist eine demagogische Lüge und sehr gefährlich. Sie ist auch ethnozentrisch und kurzsichtig. Es geht nicht um eine Flüchtlingskrise, sondern um eine Krise des politischen Projektes der EU.

Permanenter Ausnahmezustand

  1. In welchem Sinne sprichst du im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise von einem «Scheitern» der EU?

Javier de Lucas: Wenn die EU mehr ist als bloss das Projekt eines Marktes, um gemeinsame Gewinne zu erzielen, wenn sie nicht minder ein politisches Projekt auf der Grundlage des Rechtsstaates darstellt, so muss laut und deutlich gesagt werden, dass als erstes in dieser Krise die Menschenrechte Schiffbruch erlitten haben, und zwar nicht nur die Menschenrechte «der anderen», sondern die Rechtskultur der Achtung der Menschenrechte und der institutionellen Architektur, die diese garantieren.

Anlässlich der Krise wurde das geschaffen, was einige Juristen den «permanenten Ausnahmezustand» des rechtlichen Status der Zuwanderer und Flüchtlinge nennen. Hierbei handelt es sich um ein Ausnahmeregime, das den Anforderungen eines Rechtsstaates in keiner Weise genügt. Denn die Gültigkeit der gemeinsamen Regeln wird damit aufgehoben und die Figur der «Rechtssubjekte zweiter Klasse» eingeführt, welche in einem administrativrechtlichen Labyrinth hängen bleiben. Das ist eine diskriminierende Ungleichbehandlung und strafrechtliche Stigmatisierung.

  1. Was für konkrete Auswirkungen hat dieser Ausnahmezustand auf die Flüchtlinge und MigrantInnen?

Javier de Lucas: Grundsätzliche Elemente des Rechtsstaates – das Prinzip der Unschuldsvermutung, das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz usw. – werden aufgehoben, aber nicht vorläufig, sondern als künftige Rechtspraxis, gültig für alle MigrantInnen und – als Gipfel der rechtlichen Perversion – auch für Flüchtlinge. Einerseits werden auf diese Art die Rechte missachtet, welche MigrantInnen haben, und zwar ebenso ihre Persönlichkeitsrechte wie ihre Rechte als MigrantInnen. Anderseits wird der besondere rechtliche Status der Flüchtlinge missachtet, der für alle Staaten verbindlich ist, welche Teil des internationalen Rechtssystems sind, das mit der Genfer Konvention (1951) und dem Protokoll von New York (1966) geschaffen wurde.

Welche Auswirkungen hat das? Zum Beispiel werden die ankommenden Flüchtlinge bezüglich ihrer Nationalität, Religion und Herkunft unterschieden. Bei den einen wird der Flüchtlingsstatus voll anerkannt, und bei den anderen wird um den rechtlichen Status gefeilscht, bis hin zur Rückschaffung, besser gesagt: bis hin zur Ausweisung in eben das Land, das sie verfolgt. Der grösste Teil der ankommenden Flüchtlinge ist dieser zweiten Behandlung ausgesetzt.

Reisefreiheit und die Pflicht auf Hilfeleistung

  1. Ausserdem wird, wie du im Buch erklärst, ein perverser Weg beschritten, um den Flüchtlingen das Recht auf Asyl zu verweigern: die «Politik der Auslagerung». Worin besteht diese Politik der Auslagerung?

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