Von der Kriminalisierung der Menschlichkeit …

Eine spätere Generation wird mit Entsetzen auf den heutigen Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen in Europa blicken. Die Flüchtlinge sind zum Spielball einer populistischen Politik geworden, um jene verängstigten Menschen hinter sich zu scharen, die von wirtschaftlichem Abstieg und Armut bedroht sind. Und das sind viele. Dass die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt, wird nicht nur in Kauf genommen, sondern ist Teil des Kalküls. – Die traurige Geschichte von Riace.

Kennen Sie Riace, das italienische Städtchen in Kalabrien, dem äussersten Süden Italiens? Die Gemeinde ist zweigeteilt in einen Ortsteil direkt am Meer und den anderen etwas zurückversetzt in den Hügeln. Seit langer Zeit leidet Riace wie viele umliegende Gemeinden unter Arbeitslosigkeit und Abwanderung. Warum also nicht versuchen, hier MigrantInnen aufzunehmen? Wen wundert’s, dass Ende der 1990er Jahre seitens verschiedener NGOs erste Projekte zur Aufnahme von Flüchtlingen in diesen Dörfern angestossen wurden?

Jenes von Riace wurde weitherum berühmt. Treibende Kraft bei der Wiederbelebung des Städtchens war Domenico Lucano, dessen Bürgermeister er später wurde. Zusammen mit regionalen, überregionalen und internationalen Initiativen gründete er den Verein «Città Futura» («Stadt der Zukunft») und organisierte die Aufnahme und sorgfältige Integration von Flüchtlingen. Das Leben kam zurück ins Städtchen, der Kleinhandel blühte auf, Schulen konnten offenbleiben, und manche Handwerksbetriebe erlebten eine Renaissance. Ganz zu schweigen von den Chancen, die sich den neu Angekommenen eröffneten.

Versammlung «Offene Grenzen» im Amphitheater von Riace

Internationale Anerkennung für Domenico Lucano

Mit der Zeit fanden bis zu achthundert MigrantInnen in Riace Aufnahme und eine Perspektive, hauptsächlich aus Tunesien, Senegal, Eritrea und Syrien. Und Domenico «Mimmo» Lucano wurde zur Ikone eines anderen Umgangs mit Flüchtlingen. Er erhielt Anerkennung weit über Italien hinaus, bis hin zum UNHCR, dem Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, welches das Projekt in Riace mit regelmässigen Beiträgen unterstützte. Die «Stadt der Zukunft» galt als Modell gerade für strukturschwache Gebiete, die von Abwanderung und wirtschaftlichem Niedergang bedroht sind.

Die Gegenreaktionen der Verfechter eines harten, abwehrenden Umgangs mit Flüchtlingen waren heftig. Lucanos Hunde wurden vergiftet, und auf ihn selbst wurde sogar geschossen. Auch der italienische Staat unter Matteo Salvini begann sein Projekt zunehmend zu sabotieren. Was nicht sein durfte, durfte nicht sein: die erfolgreiche Integration von Flüchtlingen und MigrantInnen in die italienische Gesellschaft.

Domenico Lucano

Anfang Oktober 2018 wurde Lucano unter dem Vorwurf der Begünstigung illegaler Einwanderung und finanzieller Unregelmässigkeiten festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Später wurde er wieder auf freien Fuss gesetzt, musste aber sein Amt als Bürgermeister abgeben und durfte Riace nicht mehr betreten. Von den ehemals achthundert Flüchtlingen verblieben nur wenige im Dorf. Die restlichen wurden umgesiedelt. Ganz offensichtlich sollte das Vorzeigemodell eines anderen Umgangs mit Flüchtlingen zerschlagen werden.

Exempel gegen die Menschlichkeit

Im September 2021 wurde Domenico Lucano in erster Instanz wegen Amtsmissbrauchs, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Beihilfe zur illegalen Einwanderung sowie wegen Betrugs, Erpressung und Urkundenfälschung zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Mit dem drakonischen Urteil des Gerichts von Locri, Kalabrien, wird ein Exempel gegen die Menschlichkeit statuiert. Es ist nur der radikale Ausdruck einer Tendenz, die seit Jahren anhält und immer weniger in Frage gestellt wird: der Kriminalisierung der Menschlichkeit, damit Flüchtlinge möglichst von Europa ferngehalten werden. Es gibt Menschen, bei denen löst dies Entsetzen aus, bei anderen Gleichgültigkeit bis hin zu Genugtuung.


Bilder:
oben: Hiruka komunikazio-taldea CC BY-SA 2.0 via WikiCommons
darunter: Carlo Troiano CC BY-SA 4.0 via WikiCommons

Teil 2: «Gegen die Normalisierung des Unmenschlichen»

«Alle Staaten möchten die Menschen fernhalten, ob sie nun das Recht auf Asyl haben oder nicht.»

Je aufgeregter in Europa das Thema «Migration und Flüchtlinge» diskutiert wird, umso mehr scheinen die Verpflichtungen gegenüber internationalem Recht in den Hintergrund zu treten, etwa gegenüber der Genfer Flüchtlingskonvention. Daria Davitti, Rechtsprofessorin der Universität Nottingham in Grossbritannien und langjährige Kennerin der Migrationspolitik, nimmt Stellung zur Idee von «regionalen Auffangzentren» in Nordafrika. Mit ihr gesprochen hat Icíar Gutiérrez für eldario.es. Übersetzung aus dem Spanischen: Walter B.

Vor kurzem konnte man erfahren, dass die EU die Idee prüfe, sogenannte «regionale Ausschiffungsplattformen» in Nordaftrika zu schaffen. Was halten Sie von diesem Vorschlag, Zentren zu errichten, um ausserhalb Europas das Recht von MigrantInnen und Flüchtlingen auf Asyl zu prüfen?

Es besteht kein Zweifel, dass dieser Vorschlag, wenn er denn angenommen wird, die Externalisierung der Grenzen der Europäischen Union weiter vorantreibt und die EU und ihre Mitgliedsstaaten somit ihre internationalen Schutzverpflichtungen an Drittstaaten delegieren.

Wenn wir auch noch wenig über die in diesem Vorschlag vorgesehenen «regionalen Ausschiffungszentren» wissen, so ähneln sie doch sehr der Idee von Offshore-Verfahrenszentren, wodurch MigrantInnen und Schutzsuchenden nie wirklich europäisches Territorium betreten und in Drittländern ausserhalb Europas ein Verfahren durchlaufen. Das wird als Versuch dargestellt, im Mittelmeer Leben zu retten. Doch sterben die Menschen ja gerade im Mittelmeer, weil wir alle legalen Wege verschlossen haben, auf denen sie nach Europa kommen und Schutz suchen können.

In Ihrem letzten Bericht noch vor Bekanntwerden der neuesten Pläne geben Sie zu bedenken, dass solche Zentren ein «alter Plan» der EU seien. Seit wann werden solche Ideen erwogen?

Im letzten Bericht des Human Rights Law Centre, den Marlene Fries, Marie Walter-Franke und ich gemeinsam verfasst haben, stellen wir fest, dass dies eine «alte Idee» sei, weil die Mitgliedsstaaten der EU seit mindestens 1986 mit dem Gedanken von Verfahrenszentren ausserhalb Europas gespielt haben, damals noch auf Vorschlag der dänischen Regierung. 1993 brachte die niederländische Regierung die Idee ein und 1998 von neuem die österreichische.

Manche beziehen sich heute auf den Vorschlag von Tony Blair aus dem Jahr 2003, der «regionale Schutzzonen» näher der Herkunftsländer vorsah, möglicherweise unter der Verantwortung des UNHCR, des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge. Doch dies war nicht der erste Versuch, das einzuführen, was auch unter der Bezeichnung «exterritorialer Schutz» bekannt ist.

Seither wurden weitere Vorschläge in dieser Richtung eingebracht. Wann immer die Zahl der Menschen ansteigt, die nach Europa gelangen, scheint die Idee von Offshore-Verfahren wieder auf den Tisch zu kommen. Doch bis heute wurden sie nicht eingeführt. Und das aus gutem Grund: Es ist praktisch unmöglich, ein Verfahren solcher Art einzuführen, ohne gegen internationales Recht zu verstossen.

Glauben Sie, dass die Idee nun an Fahrt gewinnt und die europäischen Regierungschefs sogar definitiv vereinbaren könnten, sie in die Tat umzusetzen?

Ich hoffe, das wird nicht geschehen. In der Folge einer solchen Entscheidung würden höchstwahrscheinlich das UNHCR und die IOM, die Internationale Organisation für Migration, mitwirken – zumindest zu Beginn. Allerdings würden sie sich bald wieder zurückziehen, ebenso bald, wie die Verletzung internationalen Rechts offensichtlich würde. In so etwas werden sie nicht verwickelt sein wollen.

Momentan sind die Mitgliedsstaaten der EU nicht bereit, Personen aus Drittstaaten anzusiedeln. Menschen aus den Hotspots in Griechenland und Italien werden schon heute nicht konsequent umverteilt, ebensowenig solche aus der Türkei. Die Zahl der in den Mitgliedsstaaten der EU angesiedelten Personen unter internationalem Schutz [die sogenannten Kontigentsflüchtlinge] ist äusserst gering. Woher sollen wir die Gewissheit nehmen, dass das Vorgehen anders sein wird, wenn es um die Ansiedlung aus den Verfahrenszentren ausserhalb Europas geht?

Aus Sicht des Verfahrens selbst gibt es viele weitere Fragen: Wie wird garantiert, dass das vorgeschriebene Verfahren zur Klärung der Schutzbedürftigkeit eingehalten wird? Wie steht es um eine angemessene Rechtsvertretung und ein Berufungsverfahren? Wie wird ein System geschaffen, das gerecht und fähig ist, die Verletzlichsten zu identifizieren, also die Kinder, die Opfer von Menschenhandel, von sexueller Gewalt oder Folter, um nur einige zu nennen?

Die sogenannten «Salvaguardias» [Schutzgarantien] sind in keinem der Offshore-Systeme, die wir kennen, respektiert worden, weder in den australischen Zentren noch in jenen, die von den USA für die Boatpeople eingerichtet wurden, die HaitianerInnen, die auf unsicheren Wegen übers Meer kamen. Alle Staaten möchten die Menschen fernhalten, ob sie nun das Recht auf Asyl haben oder nicht.

Sie haben betont, dass die Argumente zugunsten eines Verfahrens ausserhalb der EU nicht haltbar sind. Warum sind sie Ihrer Meinung nach falsch?

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Javier de Lucas: «Die EU ist de facto im Kriegszustand gegen MigrantInnen»

Internationale Organisationen rechnen mit etwa 3’800 Flüchtlingen und MigrantInnen, die letztes Jahr beim Versuch, das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren, umgekommen sind. Die Europäische Union ist an dieser Tragödie mitschuldig. Ist eine andere Migrations- und Asylpolitik möglich? Amador Fernández-Savater, spanischer Journalist, hat Javier de Lucas, Professor für Rechts- und politische Philosophie in Valencia, zum Gespräch über Migrations- und Flüchtlingspolitik, Widerstandsformen gegen staatliche Gewalt und die Veränderungen der globalen Landschaft nach den Attentaten von Paris getroffen. Übersetzung aus dem Spanischen: Walter B.

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Javier de Lucas

Javier de Lucas arbeitet seit 2004 im Institut für Menschenrechte der Universität von Valencia. Er ist Professor für Rechts- und politische Philosophie mit Schwerpunkt Menschenrechte, Migrationspolitik, Multikulturalität und Demokratie.

Als er im Dezember 2015 an der Buchmesse von Guadalajara in Mexiko eingeladen war, sein neustes Buch El mediterráneo: el naufragio de Europa [Das Mittelmeer: Der Schiffbruch Europas] vorzustellen, gab Javier de Lucas an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko zudem ein Seminar über Migrationspolitik. Amarela Varela, Forscherin und Professorin, Aktivistin und meine gute Freundin, hatte ihn zum Seminar eingeladen.

Bei dieser Gelegenheit führten Amarala Varela, Javier de Lucas und ich das folgende Gespräch über Migrations- und Flüchtlingspolitik, Widerstandsformen gegen staatliche Gewalt und die Veränderungen der globalen Landschaft nach den Attentaten von Paris.

Flüchtlingskrise?

  1. Javier, was möchtest du, in kurze Worte gefasst, mit deinem Buch erreichen?

Javier de Lucas: Ja, ich erkläre das ganz kurz. Das wichtigste Ziel des Buches ist, aus der Sicht der Migrations- und Asylpolitik aufzuzeigen, dass die Europäische Union als politisches Projekt gescheitert ist, nämlich als Projekt eines gemeinsamen Raumes von Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit auf der Grundlage der Menschenrechte. Tatsächlich erleben wir im Gegensatz dazu besonders in den letzten zehn Jahren eine Renationalisierung der Migrationspolitik. Der Vorwand lautet, die Migration betreffe die Souveränität der Einzelstaaten. Gewiss! Aber es ist davon auszugehen, dass die EU ein politisches Projekt war, das gerade diese je eigene Handlungslogik der Nationalstaaten überwinden wollte.

  1. In jüngster Vergangenheit spricht man von einer «Flüchtlingskrise» und einer noch nie dagewesenen humanitären Herausforderung für Europa.

Javier de Lucas: Ich bin mir sicher, dass eine Flüchtlingskrise besteht, seit es Flüchtlinge gibt. Wenn wir zurzeit vermehrt darüber sprechen, so nicht, weil sie neu ist, sondern weil es nun ganz in unserer Nähe einen Faktor gibt, der Fluchtbewegungen auslöst: der unsägliche Bürgerkrieg in Syrien. Es gibt vier Millionen sechshunderttausend syrische Staatsangehörige, die das Land notgedrungen verlassen mussten.

Aber es trifft nicht zu, dass Europa bei der Aufnahme von Flüchtlingen an eine Kapazitätsgrenze gestossen ist. 85 Prozent der syrischen Flüchtlinge wurden von vier Ländern aufgenommen, die an das Konfliktgebiet angrenzen: Libanon, Jordanien, Irak und die Türkei, die allein zweieinhalb Millionen Menschen aufgenommen hat. In diesen Ländern herrscht tatsächlich eine Notsituation. Die EU hat nur angeboten, 160’000 Personen aufzunehmen.

Die institutionelle und mediale Botschaft, wir seien von einem Flüchtlingsstrom bedroht, der unsere Aufnahmekapazität überschreitet, ist eine demagogische Lüge und sehr gefährlich. Sie ist auch ethnozentrisch und kurzsichtig. Es geht nicht um eine Flüchtlingskrise, sondern um eine Krise des politischen Projektes der EU.

Permanenter Ausnahmezustand

  1. In welchem Sinne sprichst du im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise von einem «Scheitern» der EU?

Javier de Lucas: Wenn die EU mehr ist als bloss das Projekt eines Marktes, um gemeinsame Gewinne zu erzielen, wenn sie nicht minder ein politisches Projekt auf der Grundlage des Rechtsstaates darstellt, so muss laut und deutlich gesagt werden, dass als erstes in dieser Krise die Menschenrechte Schiffbruch erlitten haben, und zwar nicht nur die Menschenrechte «der anderen», sondern die Rechtskultur der Achtung der Menschenrechte und der institutionellen Architektur, die diese garantieren.

Anlässlich der Krise wurde das geschaffen, was einige Juristen den «permanenten Ausnahmezustand» des rechtlichen Status der Zuwanderer und Flüchtlinge nennen. Hierbei handelt es sich um ein Ausnahmeregime, das den Anforderungen eines Rechtsstaates in keiner Weise genügt. Denn die Gültigkeit der gemeinsamen Regeln wird damit aufgehoben und die Figur der «Rechtssubjekte zweiter Klasse» eingeführt, welche in einem administrativrechtlichen Labyrinth hängen bleiben. Das ist eine diskriminierende Ungleichbehandlung und strafrechtliche Stigmatisierung.

  1. Was für konkrete Auswirkungen hat dieser Ausnahmezustand auf die Flüchtlinge und MigrantInnen?

Javier de Lucas: Grundsätzliche Elemente des Rechtsstaates – das Prinzip der Unschuldsvermutung, das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz usw. – werden aufgehoben, aber nicht vorläufig, sondern als künftige Rechtspraxis, gültig für alle MigrantInnen und – als Gipfel der rechtlichen Perversion – auch für Flüchtlinge. Einerseits werden auf diese Art die Rechte missachtet, welche MigrantInnen haben, und zwar ebenso ihre Persönlichkeitsrechte wie ihre Rechte als MigrantInnen. Anderseits wird der besondere rechtliche Status der Flüchtlinge missachtet, der für alle Staaten verbindlich ist, welche Teil des internationalen Rechtssystems sind, das mit der Genfer Konvention (1951) und dem Protokoll von New York (1966) geschaffen wurde.

Welche Auswirkungen hat das? Zum Beispiel werden die ankommenden Flüchtlinge bezüglich ihrer Nationalität, Religion und Herkunft unterschieden. Bei den einen wird der Flüchtlingsstatus voll anerkannt, und bei den anderen wird um den rechtlichen Status gefeilscht, bis hin zur Rückschaffung, besser gesagt: bis hin zur Ausweisung in eben das Land, das sie verfolgt. Der grösste Teil der ankommenden Flüchtlinge ist dieser zweiten Behandlung ausgesetzt.

Reisefreiheit und die Pflicht auf Hilfeleistung

  1. Ausserdem wird, wie du im Buch erklärst, ein perverser Weg beschritten, um den Flüchtlingen das Recht auf Asyl zu verweigern: die «Politik der Auslagerung». Worin besteht diese Politik der Auslagerung?

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Sans-Papiers: Die «Unberührbaren» Europas

Die niederste Kaste in Indien sind die Unberührbaren, auch Dalits genannt. Sie werden diskriminiert und ausgebeutet – und ermöglichen so den höheren Kasten ein Leben in Bequemlichkeit und Wohlstand. Ähnliche Verhältnisse sind in Europa – und der Schweiz – zu beobachten: Hier bilden die Papierlosen oder Sans-Papiers die unterste soziale Schicht, die einerseits verteufelt und anderseits gnadenlos ausgebeutet wird. – Eine Spurensuche mit Schwerpunkt in der Schweiz.

Ihre Anzahl ist umstritten: Während zurückhaltende Schätzungen von 1,9 Millionen Sans-Papiers oder Papierlosen in der Europäischen Union des Jahres 2005 (mit damals 25 Mitgliedsstaaten) ausgehen, sprechen andere Schätzungen von 3,8 Millionen Menschen, die sich in jenem Jahr ohne staatliches Wissen und Genehmigung in diesen Ländern aufhielten.[1] In der Schweiz schwanken die Schätzungen zwischen 70’000 und 300’000 Sans-Papiers, wobei eine gfs-Erhebung im Auftrag des Bundesamtes für Migration[2] von 90’000 Papierlosen im Jahr 2005 ausgeht. Neuere plausibilisierte Zahlen sind nicht verfügbar.

Dass die Anzahlen der Papierlosen nur grob geschätzt werden können, liegt in der Natur der Sache, da diese Menschen selbstredend in keinem Register auftauchen. Und über die Entwicklung der Zahlen in den letzten zehn Jahren lässt sich ebenfalls nur spekulieren. Doch es ist von einer Zunahme auszugehen. Mitverantwortlich dafür sind – zumindest in der Schweiz – die Verschärfungen im Asylwesen, was viele Schutzsuchende dazu bringt, gar nicht erst ein Asylgesuch zu stellen oder nach dessen Ablehnung unerkannt in der Schweiz zu bleiben. Trotzdem ist davon auszugehen, «dass Personen aus dem Asylbereich weiterhin nur eine Minderheit der Sans-Papiers stellen, ihr Anteil aber tendenziell steigend ist»[3].

Nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts
Es sind also nicht so sehr die Asylsuchenden, die das Gros der Papierlosen darstellen, sondern laut der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen ist «die Entwicklung der irregulären Migration […] konjunkturabhängig und eng mit der Arbeitsmarktsituation verbunden»[4]. Die Mehrheit der Sans-Papiers ist erwerbstätig, und zwar im Niedriglohnsektor: in der Baubranche, der Gastronomie und Hotellerie, in der Landwirtschaft und zunehmend auch in der Hauswirtschaft und Versorgungsarbeit.

Diese Niedriglohnbereiche sind für SchweizerInnen und EU-BürgerInnen wenig attraktiv. Der sogenannte Arbeitsmarkt schreit deshalb geradezu nach «flexiblen», in ihren Ansprüchen bescheidenen Arbeitskräften. Und die Sans-Papiers verkörpern diesen Typus in geradezu idealer Weise: Als praktisch rechtlose Arbeitnehmer können sie je nach Bedarf eingestellt und problemlos wieder entlassen werden. Ihre Lohnforderungen sind entsprechend bescheiden. Die Papierlosen stellen im neoliberalen Wirtschaftsmodell den Idealtypus des Angestellten dar und sind so etwas wie das Schmiermittel im Wirtschaftsmotor. Gleichzeitig sind sie ein Konjunkturpuffer. Sie werden als erste entlassen, wenn der Motor stottert.

Ausgegrenzt und ausgebeutet
Hier zeigt sich einer der vielen Widersprüche in der Migrationspolitik – in der Schweiz ebenso wie in ganz Europa: Im selben Mass, wie die Papierlosen in der Wirtschaft als billige Arbeitskräfte und Manövriermasse missbraucht werden, werden sie ausgegrenzt und als sogenannte Illegale verteufelt. Und das könnte durchaus System haben: Je mehr man sie ausgrenzt und entrechtet, umso billiger sind sie zu haben. Sie sind die Sklaven der Moderne – die Unberührbaren Europas.

Diese widersprüchliche Haltung – auf der einen Seite die manchmal restriktive, manchmal eher lasche Ahndung ihres aufenthaltsrechtlichen Verstosses, anderseits die Bedürfnisse der modernen Wirtschaft nach möglichst billigen Arbeitskräften – führt zur paradoxen Situation, dass in Europa und der Schweiz erstaunlich viele Menschen zwar ausländerrechtlich illegal anwesend sind, aber trotzdem gebraucht werden. Und das ist nicht etwa eine völlig neue Entwicklung, die unsere Gesellschaften gleichsam überrumpelt hat, sondern ein Zustand, der seit Jahrzehnten anhält – mit ausgesprochen unmenschlichen Folgen: Kinder, die von Geburt her in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität leben müssen; langjährige äusserst prekäre Arbeitsverhältnisse, teilweise nahe der Sklaverei; ebenso prekäre Wohnverhältnisse mit wenig sozialer Einbindung; erschwerter Zugang zur Gesundheitsversorgung usw.

Kollektive Regularisierung versus Härtefallregelung
Wie darauf antworten? Die einen sehen in der kollektiven Stärkung der Grundrechte der Sans-Papiers die sinnvollste Lösung, zum Beispiel in ihrer offiziellen Regularisierung. Europaweit wurden zwischen 1973 und 2008 68 Regularisierungsprogramme durchgeführt, die 4,3 Millionen Menschen zu einer Niederlassungsbewilligung in ihrem Gastland verhalfen. Dass diese Regularisierungen einen zusätzlichen Strom von irregulären Migranten zur Folge hatte – die vielseitig gefürchtete sogenannte Magnetwirkung –, konnte wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden.[5] Die Stärkung ihrer Grundrechte könnte hingegen dazu führen, «die Schattenwirtschaft und die Bildung rechtsfreier Räume zu begrenzen und so längerfristig illegale Migration wirksamer zu bekämpft als mit repressiven Massnahmen allein»[6].

Obwohl diese Lösung von der Sache her angezeigt wäre – und vom in der Schweiz gerne hervorgehobenen humanitären Standpunkt her sowieso –, hat sie hier politisch zurzeit nicht den Hauch einer Chance. Die Vorurteile sind einmal mehr stärker als die sachlichen Überlegungen … Stattdessen setzt man auf individuelle Härtefallregelungen – die so individuell sind, dass ihr Ausgang entscheidend davon abhängt, in welchem Kanton das Gesuch gestellt wird … Die derzeitig äusserst restriktive Handhabung zeigt zudem, dass mit der Härtefallregelung dem sozialen Missstand in Sachen Sans-Papiers nicht beizukommen ist: Gerade mal 88 Gesuchen nach Ausländergesetz (und 429 nach Asylgesetz) wurde im Jahr 2009 stattgegeben – bei geschätzten 100’000 Sans-Papiers in der Schweiz.[7]

Es ist offensichtlich: Solange die Frage der Papierlosen als rein rechtliches Problem aufgefasst wird und nicht als soziale Herausforderung, wird es keine sinnvolle Lösung geben. Eine solche Lösung kann also nicht technokratisch erfolgen, sondern muss das Ergebnis eines demokratischen Prozesses, einer gesellschaftlich breiten Auseinandersetzung sein. Und ehe diese nicht wirklich stattfindet, muss sich die Schweiz und ganz Europa den Vorwurf gefallen lassen, sie seien eine Gesellschaft mit einem ausgesprochenen Kastensystem, kaum besser als Indien.


Anmerkungen:

[1] http://irregular-migration.net//fileadmin/irregular-migration/dateien/4.Background_Information/4.2.Policy_Briefs_EN/ComparativePolicyBrief_SizeOfIrregularMigration_Clandestino_Nov09_2.pdf (PDF, 180 KB).
[2] ((Link nicht mehr verfügbar))
[3] «Leben als Sans-Papiers in der Schweiz» (PDF, 1,5 MB), Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen EKM, 2010, S. 26.
[4] Ebenda S. 6.
[5] «Regularisations in Europe – Study on practices in the area of regularisation of illegally staying third-country nationals in the Member States in the EU», Martin Baldwin-Edwards und Albert Kraler, Wien 2009 (PDF, 4,1 MB, 576 S.) , siehe auch die Zusammenfassung der Studie in Deutsch (PDF, 182 KB).
[6] Siehe Anmerkung 3, S. 79.
[7] Ebenda S. 47.

Nein zu Ausschaffungsinitiative und Gegenvorschlag

Meine Ablehnung der Ausschaffungsinitiative und des Gegenvorschlags ist grundsätzlicher Art: Beide Vorlagen sind Ausdruck einer menschenverachtenden Haltung, nämlich dass man Menschen einfach entsorgen kann. Fort mit ihnen! Schliesslich sind es Kriminelle – und erst noch Ausländer, wobei die Reihenfolge beliebig gewechselt werden kann. Die Initiative der SVP wünscht das unverhohlen und ohne Rücksichten auf irgendwelche Empfindlichkeiten, der Gegenvorschlag wünscht dasselbe, aber völkerrechtskonform. Das zum Grundsätzlichen – und nun zu den Details:

Nein zur Ausschaffungsinitiative

  • weil sie eine Blendgranate ist. Denn sie ist nicht umsetzbar. Das Ansinnen verstösst gegen das Völkerrecht (z.B. gegen das Non-Refoulement-Prinzip, nach dem Menschen nicht in ein Land zurückgeschafft werden dürfen, wo sie an Leib und Leben bedroht sind). Sie verstösst auch gegen das Freizügigkeitsabkommen mit der EU, sofern der betroffene Ausländer ein EU-Bürger ist.
  • weil die Diskriminierung von Ausländern in der Verfassung festgeschrieben würde, z.B. ihre doppelte Bestrafung: zusätzlich zur Bestrafung der Tat selbst käme die Ausweisung aus der Schweiz, was einer Apartheid-Justiz gleichkäme und ein ganz grundsätzliches Rechtsgut – die Gleichheit vor dem Gesetz – aushebeln würde.
  • weil alle Ausländer ohne Schweizer Pass von einer Ausschaffung bedroht wären, selbst Secondos, die in der Schweiz geboren sind.
  • weil bereits heute einem bestraften Ausländer die Aufenthaltsbewilligung entzogen werden kann, wenn der Schutz der Öffentlichkeit schwerer wiegt als das private Interesse des Täters, in der Schweiz zu bleiben.

Nein zum Gegenvorschlag

  • weil er das menschenverachtende und falsche Anliegen der SVP in eine Form giesst, die völkerrechtskonform ist. Der Gegenvorschlag verhilft somit dem Anliegen womöglich zum Durchbruch, während sich die Ausschaffungsinitiative selbst bei einer Annahme voraussichtlich an die (rechtliche) Wand fahren würde. Einmal mehr biedern sich die bürgerlichen Kräfte, aus deren Mitte der Gegenvorschlag kommt, als Vollzugsgehilfen der SVP an und helfen mit, die enge Verknüpfung von Kriminalität, Migration und Ausschaffung definitiv in den Köpfen zu verankern.
  • weil auch der Gegenvorschlag die Sippenhaft stillschweigend akzeptiert: Die Ausschaffung einer straffälligen Einzelperson betrifft indirekt auch deren Familie: Meistens haben Kinder und Ehefrauen keine eigenständige Aufenthaltsbewilligung, so dass auch sie das Land verlassen müssten. Oder wenn straffällige Jugendliche ausgewiesen werden, können die Eltern die Erziehungsfunktion nur dann wahrnehmen, wenn sie zusammen mit dem verurteilten Jugendlichen das Land verlassen.
  • weil der Katalog der Strafen, die zu einer Ausweisung führen sollen, gegenüber der Ausschaffungsinitiative selbst sogar noch erweitert würde. So können laut Gegenvorschlag die Strafen der letzten zehn Jahre zusammengezählt und allenfalls zum Ausschaffungsgrund werden, und zwar auch Geld- und bedingte Strafen. Das zielt explizit nicht mehr nur auf Schwerkriminelle.
  • weil rein taktische Überlegungen – z.B. Annahme des Gegenvorschlags, um die Initiative zu verhindern – ein (taktisches) Eigentor wäre. Man würde damit den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.
  • weil der Integrationsartikel, der Teil des Gegenvorschlags ist, ohne wirkliche Substanz ist und so nicht einmal als Zückerchen zur Versüssung der bitteren Ausschaffungspille taugt. So ist es zum Beispiel eine Selbstverständlichkeit – und muss nicht nochmals in einem Integrationsartikel festgeschrieben werden –, dass die Verfassung und die öffentliche Ordnung respektiert werden müssen.

Die Ausschaffungsinitiative und der Gegenvorschlag atmen einen Geist, der meines Erachtens irrationale Züge trägt. Nicht mehr die Bekämpfung der Kriminalität, sondern die Eliminierung des Fremden wird als Hauptziel der Politik akzeptiert. Doch weder Menschen noch die Kriminalität kann und soll man einfach entsorgen.

Quellen und weiterführende Links:

  1. Text der Ausschaffungsinitiative
  2. Text des Gegenvorschlags
  3. Komitee Ausschaffungsinitiative 2 x Nein
  4. Komitee Pro „Volksinitiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)“