Auroville, 27. Januar 2019

Ich sitze in meinem Schreibstübchen und lasse die letzten Wochen Revue passieren. Viel zu schnell vergeht die Zeit. Die Tage zerrinnen wie Sand im Stundenglas. Habe ich etwas vorzuweisen, von dem ich sagen kann: «Das hat sich in mir verändert, seit ich hier bin. Das werde ich als Errungenschaft mit nach Hause nehmen»? Ist da etwas, das sich in Worte kleiden lässt und irgend einem Zweck dient? Natürlich, da sind ein paar ebenso schöne wie hinfällige Begegnungen, ein paar stille Stunden unter dem Bagnan-Baum, ein paar kleine Entdeckungen in diesem grossen Waldgebiet, das sich Auroville nennt, einige abenteuerliche Fahrten in die Villages der Umgebung oder nach Pondicherry. Ist das alles?

Und doch bin ich nichts weniger als glücklich. Tag für Tag wird es etwas wärmer. Tag für Tag erblühen neue Bäume und Sträucher. Sie blühen in einer Fülle, die mich erstaunen lässt. Der Boden ist übersät mit frisch gefallenen Blüten in Karminrot, Zitronengelb und Königsblau. Als wäre eben eine grosse Hochzeitsgesellschaft vorbeigezogen. Es ist Frühling, Zeit des Aufbruchs in der Natur, Hochzeit der Blüte.

Vielleicht ist es auch das, was mich glücklich sein lässt: Während ich mich zu Hause von der inneren Disposition her und inspiriert von der zunehmenden Hinfälligkeit meines Körpers dem Lebensende zuneige – bedacht auf Sicherheit im Alter und abwartend, stillehaltend, mich auf einen möglichst passenden Lebensabend vorbereitend –, erfüllt mich hier Aufbruchstimmung, Abenteuerlust, reinste Freude. Und mein Leib fühlt sich gar nicht mehr so hinfällig an.

Life is just a game

Ist es der heitere Himmel, das ausgesprochen angenehme Klima, der südindische, subtropische Groove mit all den betörend Düften, den zauberhaften Tierstimmen, dem üppigen Pflanzenwuchs, mal hell durchsonnt, mal schattig bis hin zum dunklen Bambushain? Sind es die freundlichen, offenen Menschen, die mich hier wohl sein lassen? Sobald ich unterwegs bin, sind Begegnungen, Gespräche fast unausweichlich. Die Gesichter sind offen, interessiert, schauen dich an. Im Nu bist du im Gespräch oder verständigst dich in Körpersprache – eine Geste, ein Lächeln –, weil du kein Tamilisch kannst. Oder ist es das Experiment Auroville, das sich seit fünfzig Jahren im Aufbruch befindet, mal mit mehr, mal mit weniger Elan? Ist es schliesslich die offene spirituelle Suche – eine Suche, die sich zwar an Sri Aurobindo und Mira Alfassa, der «Mutter», orientiert, aber jegliches Sektiererische ablehnt –, ist es die Suche nach neuen Lebensformen, so unvollkommen und tastend sie auch ist, die mich inspiriert?

Ich bin verliebt in Auroville und weiss noch nicht, was das bedeutet. Zugleich eröffnet sich mir die Möglichkeit – und sie wird mit jedem Tag konkreter –, eine längere Zeit von vielleicht fünf, sechs Monaten in Auroville zu verbringen, und zwar in Form eines Freiwilligeneinsatzes. Konkret: Ich wurde angefragt, ob ich nicht mithelfen möchte, die Sache der Barrierefreiheit in Auroville (Accessible Auroville) einen Schritt vorwärts zu bringen.

Diesbezüglich ist in Auroville nur ein anfängliches Bewusstsein vorhanden. Und das nur Dank einer bereits bestehenden Arbeitsgruppe mit ein paar wenigen Kämpferinnen und Kämpfern, die sich seit Jahren höchst engagiert dafür einsetzen. Im restlichen Indien – ausser vielleicht in den grössten Metropolen – fehlt dieses Bewusstsein ganz. Als Rollstuhlfahrer hätte ich ein paar Trümpfe in der Hand und könnte zusammen mit den anderen Aktivisten womöglich etwas bewirken. Geld ist keines vorhanden. Ich müsste also den Aufenthalt selbst finanzieren.

Life is just a game. Ich tue mal so, wie wenn … Entschieden ist noch nichts. Doch ich kläre meine Möglichkeiten ab: Unterkunft, Aufenthaltsstatus (Visum), Fortbewegung (der Swiss-Trac ist für die weiten Distanzen in Auroville zu langsam) und mögliche Projekte.

Nun habe ich also doch etwas vorzuweisen, von dem ich sagen kann: Das hat sich in mir verändert, seit ich hier bin. Das werde ich als Errungenschaft mit nach Hause nehmen, das dient einem Zweck …

Kunst ohne Jöö-Effekt

Das Festival Wildwuchs, seit 2001 kontinuierlich und kraftvoll präsent, hat sich die soziale Inklusion aller Menschen auf die Fahne geschrieben. Erst eine vielfältige, farbige Gesellschaft, so die Überzeugung der Veranstaltenden, von der niemand aufgrund seiner Behinderung oder seiner Herkunft ausgegrenzt wird, ist eine gesunde, robuste Gemeinschaft. Wie in der Natur: je vielfältiger, desto kräftiger.

Da gibt es noch einiges zu tun – auch in der Schweiz. Was in England fast schon selbstverständlich ist – die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Kulturbetrieb, und zwar nicht nur im Zuschauerraum, sondern auch auf der Bühne –, braucht in der Schweiz besondere Förderung. Das Wildwuchs-Festival will genau dies tun. Mit Produktionen aus den Sparten Tanz, Theater, Performance, mit Konzerten, Podiumsgesprächen, Lesungen, mit geführten Spaziergängen und einer Vielzahl weiterer Formate – Wildwuchs eben – werden Brücken gebaut, die es nach wie vor braucht, damit Kunst von und mit Menschen mit Behinderung immer mehr selbstverständlicher Teil des Kulturbetriebs wird.

Wider die Schubladen

Gunda Zeeb, die künstlerische Festivalleiterin, hält gar nichts vom Etikett «Behindertenkunst» in Abgrenzung zur Kunst sogenannt Nichtbehinderter. «Der Künstler auf der Bühne tritt ja nicht unter einer einzigen Identität, etwa als Mensch mit Behinderung, auf und trägt diese wie eine Fahne vor sich her, sondern er macht einfach Kunst – um der Kunst willen. Seine Behinderung ist ein Merkmal unter vielen, z.B. dass er ein Mann mittleren Alters ist oder eine bestimmte Herkunft hat.» Gerade um Vorurteile abzubauen und das Schubladendenken aufzulösen, wurde dieses Kulturfestival ins Leben gerufen. Das Publikum soll packende Kunst erleben. Dass sie von und mit Kunstschaffenden mit Behinderung produziert wird, ist zwar nicht nebensächlich, wirkt sich aber in keiner Weise auf die Qualität aus. Bedenklich im Grunde genommen, dass dies in heutiger Zeit überhaupt erwähnt werden muss! Doch Schubladen sind eben langlebig.

Austausch und Ermächtigung

Keine Kunst mit Jöö-Effekt also am Wildwuchs-Festival. Vielmehr ein Mix aus professionellen regionalen Produktionen und internationalen Gastspielen. Unter den Letzteren sticht die südafrikanische «Unmute Dance Company» mit ihrem Tanzstück «Ashed» hervor. Darin werden die Grenzen zwischen den erstarrten Körpern, wie man sie in Pompeji nach der Vulkankatastrophe gefunden haben könnte, und höchst lebendigen Tanzenden mit und ohne Behinderung erkundet und überbrückt. Das Stück setzt sich mit dem heutigen Südafrika auseinander und ist hochpolitisch, indem es die zunehmende Erstarrung der südafrikanischen Gesellschaft seit der Abschaffung der Apartheid zum Thema macht.

Die Veranstaltungen mit und rund um die «Unmute Dance Company» stehen für ein wichtiges Merkmal des Wildwuch-Festivals, das neben den eigentlichen Produktionen Raum für Erfahrungsaustausch und Ermächtigung geben will, z.B. mit einem Podiumsgespräch über die «Zugänglichkeit im Kreationsprozess», in dem die Situation von Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung in Südafrika und der Schweiz verglichen werden soll – und was in der jeweiligen Gesellschaft Vielheit und Anderssein bedeutet. Zudem wird es einen Workshop für Tanzschaffende geben, geleitet vom Basler Choreografen und Tänzer Alessandro Schiattarella und seinem Berufskollegen Andile Vellem von der «Unmute Dance Company».

Bereichernde Vielfalt

Es lohnt sich, die ganze Bandbreite des Festivals zu nutzen, also nicht nur die Bühnenproduktionen anzusehen, sondern etwa auch am Audio-Walk «Widerhall an der Grenze» mitzumachen, der durch Basels Volta-Quartier führt und für die Diversität der Schweizer Migrationsgesellschaft sensibilisiert – mit überraschenden Live-Interventionen der Quartierbevölkerung. Nicht erst seit diesem Jahr sind Produktionen rund um Flucht und Migration ein zweiter Schwerpunkt des Festivals.

Das Abschlusswochenende findet in der UPK, der Universitären Psychiatrischen Klinik in Basel statt. Mit Ausstellungen, einer Mach-Bar, Hörspaziergängen und verschiedenen Performances von Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung, entstanden unter Anleitung von professionellen Kunstschaffenden, soll das Publikum an einem Ort willkommen geheissen werden, der mit einigen Tabus belegt ist. Ein idealer Ort also, um das Wildwuchs-Festival, das sich dem Brückenbau verschrieben hat, ausklingen zu lassen.


Das Wildwuchs-Festival findet vom 1. bis 11. Juni in der Kaserne Basel und an weiteren Orten statt.

Dieser Artikel erscheint in der «ProgrammZeitung», der monatlichen Kulturzeitschrift für Basel und die Region.

Bilder: Unmute Dance Company, ⓒ Betalife Productions

Leise Hoffnung für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in Basel-Stadt

Soll man sich auf Signale aus der Politik abstützen? Oder lässt man das nicht vielleicht doch lieber bleiben – zumal in Wahlen anstehen? Im Vorfeld des zweiten Stammtisches des Aktionskomitees Behindertengleichstellung und auch am Stammtisch selbst waren jedenfalls Signale erkennbar, die Anlass zu der leisen Hoffnung sein können, die Wiedereinführung der verwaltungsinternen Fachstelle für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in Basel-Stadt komme wieder aufs Tapet. – Ein Gastkommentar von Christoph Meury.

Das Aktionskomitee für den Erhalt der Fachstelle für Gleichstellung von Menschen mit Behinderung hat am 28. September zu einem weiteren Stammtisch eingeladen. Die zweite öffentliche Runde war ein Stammtisch mit PolitikerInnen der Grünen, BastA!, GLP, LDP, SP und FDP. Kurz vor den Herbstwahlen war dies eine spannende Ausgangslage mit einer hohen Politikerdichte. Die potentiellen Regierungsrätinnen, respektive Stadtpräsidentinnen – Heidi Mück, Martina Bernasconi, Elisabeth Ackermann – drängten förmlich ans Mikrophon. Die Botschaften waren erfreulich. Alle hatten sie großes Verständnis für die Anliegen behinderter MitbürgerInnen. Auch die anwesenden GrossratskandidatInnen: Anna Götensted (LPD), Béatrice Alder (BastA!), Luca Urgese (Präsident der Basler FDP) und Michaela Seggiani (Vizepräsidentin SP Basel-Stadt) konnten positive Signale aussenden. Das kam bei den Anwesenden gut an und hätte auch den Abwesenden Freude gemacht. Schade, dass in dieser Stammtisch-Runde der Aufmarsch der Menschen mit einer Behinderung spärlich war. Persönlich verstehe ich dies zwar durchaus, ist es doch mühsam und leicht deprimierend, wenn man zum x-ten Mal seine Anliegen öffentlich darlegen und um Verständnis bitten muss. Trotzdem, eine direkte Konfrontation mit PolitikerInnen ist natürlich eine einmalige Gelegenheit mit den zukünftigen Entscheidungsträgern auf Augenhöhe zu kommunizieren. Sonja Häsler und Walter Beutler haben diese Möglichkeit stellvertretend genutzt. Die beiden RollstuhlfahrerInnen fungieren diesbezüglich als Sprachrohr für die 25’000 behinderten Menschen in Basel-Stadt. Auch Xaver Pfister hat mit einem engagierten Votum für die Anliegen von psychisch beeinträchtigen Menschen geworben. Stephan Settelen, der Gastgeber der Stammtischrunde und Geschäftsführer und Mitinhaber der Settelen AG, konnte anhand der Berufsintegration seines Sohnes zeigen, dass eine solche Integration, trotz Widerständen (oder eher Verwaltungsträgheiten) möglich und nötig ist. Alle Direkt- oder Indirektbetroffenen können anhand von Beispielen zeigen, dass es bis zur alltäglichen und ungehinderten Inklusion behinderter Menschen noch ein weiter Weg ist. Aber immerhin, man ist auf dem Weg. Soweit eine erste Zwischenbilanz.

Zweiter Stammtisch des ak Behindertengleichstellung mit PolitikerInnen der Grünen, BastA!, GLP, LDP, SP und FDP.

Zweiter Stammtisch des ak Behindertengleichstellung mit PolitikerInnen der Grünen, BastA!, GLP, LDP, SP und FDP.

 

Zurück zu den PolitikerInnen. Bei der Nachfrage um die Abschaffung der Fachstelle für Gleichstellung von Menschen mit Behinderung war das Unbehagen greifbar. Martina Bernasconi von den Grünliberalen hat gegen die Weiterführung der Fachstelle und für die mickrige Sparübung im Grossen Rat votiert, ist aber nachträglich der Meinung, dass sie schlecht beraten wurde und den Beteuerungen von Guy Morin leider blind vertraut habe. Durch die Vehemenz des Widerstandes sensibilisiert, würde sie zukünftig anders entscheiden. Das ist doch immerhin löblich. Nicht von der Hand zu weisen ist der Hinweis, dass der Streichungsentscheid von Guy Morin ziemlich unprofessionell vonstatten ging. Es wurde moniert, dass es über die Arbeit der Fachstelle nie einen verbindlichen Rechenschaftsbericht gegeben hat. Das hat Nachwirkungen bis heute. Noch immer wissen die PolitikerInnen nicht genau wofür diese Stelle steht, respektive stand. Die Wahrnehmung ist sehr diffus. Martin Haug, der ehemalige Leiter der Fachstelle, war anwesend und hätte auf Nachfrage Klärung verschaffen können. Etwas konsterniert wirkte lediglich Luca Urgese. Er ist dezidiert der Meinung, dass in der Behindertenhilfe bereits sehr viel getan wird und daher nicht alle Wünsche erfüllbar seien.

Apropos diffuse Wahrnehmungen. Das gilt auch für die entsprechenden verfassungsmäßigen Verpflichtungen. Gesetzliche Vorgaben, welche Diskriminierungen aufgrund einer Behinderung auf allen staatlichen Ebenen verbieten und Vorgaben welche Bund, Kantone und Gemeinden gesetzlich verpflichten Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung zu beseitigen, werden von den PolitikerInnen nicht oder nur bedingt als rechtsverbindlich und verpflichtend wahrgenommen. Das gilt auch für die UNO-Behindertenrechtskonvention, welche beispielsweise die Schaffung von Anlaufstellen vorschreibt. Anmerkung: Die Fachstelle für die Gleichstellung von Menschen wäre prädestiniert gewesen, diese völkerrechtlich verbindliche Aufgabe zu übernehmen. Martin Haug hat nochmals eindringlich auf die vorhandenen gesetzlichen Rahmenbedingungen verwiesen und konnte damit auch aufzeigen, dass eine entsprechende, departementsinterne Stelle notwendig ist.

Die PolitikerInnen und die Verwaltung haben auf dem Papier entsprechend den gesetzlichen Vorgaben eine Bringschuld. In der Theorie und auf dem Papier ist der Umgang mit Fragen zur Integration und Inklusion von behinderten Menschen soweit fortschrittlich. In der Praxis ist dies alles aber offensichtlich noch nicht angekommen. Den anwesenden PolitikerInnen scheinen die vorhandenen gesetzlichen Verpflichtungen nicht wirklich bewusst zu sein. Eine Dringlichkeit scheint nicht gegeben. Sie sehen sich lieber in der Rolle des geduldigen und verständnisvollen Zuhörers. Die Anliegen der Behinderten würden wohlwollend entgegengenommen, je nach politischer Couleur werden diese Anliegen dann eher im Bereich der Wünsche und als ein «Nice-to-have» abgebucht, oder im Grundsatz akzeptiert und umgesetzt. Sehr rasch (viel zu rasch) werden die bösen Finanzen als Hinderungsgrund für reale Umsetzungen genannt. Was für Basel ja nicht wirklich stimmen kann. Zur Zeit «schwimmt» die Stadt förmlich im Geld. Die Überschüsse bewegen sich im dreistelligen Millionenbereich.

Das Aktionskomitee für den Erhalt der Fachstelle für Gleichstellung von Menschen mit Behinderung hat im Vorfeld der Wahlen bei den KandidatInnen aller Parteien (Regierung & Stadtpräsidium) eine Umfrage lanciert: Interessant sind die brieflichen Antworten der fünf amtierenden RegierungsrätInnen und der zwei neu Kandidierenden. In der Theorie sind die Anliegen von Menschen mit Behinderung auf der Regierungsebene präsent. Alle Befragten haben adäquate Antworten und großes Verständnis für die Anliegen für Menschen mit Behinderung. [Siehe inbesondere die Antwort des Stadtpräsidenten Guy Morin im Anhang. Anm. Walter B.] Das ist gut so. Fazit der 2. Stammtischrunde: Jetzt gilt es diese Anliegen in die Praxis umzusetzen und im Alltag zu implementieren. Konsequent und ohne wenn & aber. Aber auch nicht irgendwann, sondern hier & jetzt.

Christoph Meury
Kulturprojekte & journalistische Arbeiten
Projektberater «Impulszentrum Holdenweid» bei Hölstein
Mitglied des AK Behindertengleichstellung

Antwort des Stadtpräsidiums auf die Anfrage des ak Behindertengleichstellung:

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Dialog über Inklusion in der «TagesWoche»

In den letzten Wochen hat sich zwischen Christoph Meury und mir ein Dialog per E-Mail zum Thema Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderung ergeben. In der «TagesWoche» vom 4. September 2015 wurde dieser veröffentlicht. Hier ein paar Müsterchen daraus:

Das Bild des Behinderten, der zwar unsere Unterstützung verdient, aber nicht ganz für voll genommen wird, ist in den Hinterköpfen noch vorhanden. Und das wirkt sich eben zum Beispiel so aus, dass man zwar den Zuschauerraum von Barrieren befreit, nicht aber die Bühne. Oder dass in höheren Positionen in Wirtschaft und Verwaltung recht wenige Behinderte anzutreffen sind. Das hat hauptsächlich mit Barrieren im Kopf zu tun – durchaus auch im Kopf der Betroffenen selbst.

Ohne tabulose Inklusion werden sich Behinderte und Nichtbehinderte stets zunächst fremd gegenüberstehen, wie Bewohner zweier verschiedener Welten. Entsteht trotzdem eine Beziehung, ein Austausch auf Augenhöhe, der vielleicht weiter gepflegt wird, so verschwindet das Fremde nach und nach – und damit auch das verkrampfte Bemühen, ja nicht in ein Fettnäpfchen zu treten oder den Behinderten irgendwie zu verletzen. Als ob Behinderte besondere Sensibelchen wären.

Wie können behinderte Menschen ein eigenständiges und unabhängiges Leben führen, wenn sie von zahlreichen Hilfestellungen abhängig sind?

Selbstverständlich ist es schwieriger, eigenständig zu bleiben, wenn man stark auf Unterstützung angewiesen ist. Wer beisst schon die Hand, die ihn füttert? (…) Es braucht da einen ziemlich störrischen Geist. Der Kunstmaler Christoph Eggli oder die Psychologin Aiha Zemp waren solche Charaktere – und sie haben es beide ziemlich weit gebracht. Ansonsten sind unsere Heime voll von Menschen, die weit unter ihrem Potenzial leben – weil ihnen oft aus gutem Willen viel zu viel abgenommen und erspart wird. Das kann man Hospitalismus nennen.

Ich sehe nur, dass im Behindertenwesen, in dem, was manche vielleicht nicht ganz zu Unrecht «Betreuungsindustrie» nennen, eine schwer durchschaubare Gemengelage von halbbewussten und gänzlich unbewussten – vielleicht teilweise auch voll bewussten – Eigeninteressen besteht, die das Potenzial der Behinderten irgendwie einzäunt und nicht voll zur Geltung kommen lässt.

Ich glaube, Inklusion kommt nicht von selbst, sondern ist ein emanzipatorischer und damit gesellschaftspolitischer Prozess. (…) Auch die Gesellschaft hat ein natürliches Bedürfnis nach Diversität, nach Farbigkeit – oder sollte es zumindest haben. Denn sie ist so robuster, weniger anfällig auf Krankheiten. Vielleicht kann man analog zur Biodiversität von Soziodiversität sprechen, welche die Gesellschaft stärkt. Ausgrenzung und Ghettoisierung waren noch nie fruchtbar.

Das ganze Gespräch ist auch online erschienen, angereichert durch eine Fotostrecke zur Zugänglichkeit des Basler Rathauses für Rollstuhlfahrer – mit mir als Fotomodell. Auch hier ein Müsterchen.

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Gespräch im Rathaussaal mit Herrn Zumbach, Abwart. Im Hintergrund Christoph Meury (Bild: Hans-Jörg Walter, TagesWoche).

Inklusion – ein Paradigmenwechsel im Sozialen

Die Reife einer Gesellschaft zeigt sich darin, wie weit sie das Faustrecht, das Recht des Stärkeren hinter sich gelassen hat. Gerade der Umgang mit den schwächsten Mitgliedern einer Gesellschaft, mit den Kindern, den Alten, den Behinderten, ist hier ein Gradmesser. Ein wichtiger Schritt bei der Überwindung des Rechts des Stärkeren ist die Inklusion, die selbstverständliche gesellschaftliche Zugehörigkeit auch von Menschen, die nicht der Norm entsprechen, zum Beispiel von Menschen mit Behinderung. – Ein Rückblick und ein Ausblick.

Es ist gar noch nicht so lange her, da sonderte man Behinderte aus dem sogenannt normalen Leben aus. Und oft genug steckte dahinter sogar so etwas wie guter Wille. Ich habe das am eigenen Leib erfahren. Als ich im Jahr 1959 im Kinderspital Basel mit Kinderlähmung angesteckt wurde und danach an den Beinen gelähmt war, behielt man mich bis ins Schulalter, also gut fünf Jahre, im Spital. Zu Beginn war das medizinisch begründet. Doch danach befand man, ich hätte im Spital doch die bestmögliche Betreuung, genau das, was ich bräuchte. Zudem würde ich mit meinen besonderen Bedürfnissen meine angestammte Familie – neben den Eltern waren da noch drei ältere Geschwister – zu sehr belasten. In diesem Sinn wurden meine Eltern bearbeitet – bis sie nachgaben. Das war im letzten Jahrhundert …

Aussonderung statt Eingliederung
Später sprach man von der Eingliederung der Behinderten. Eine ganze Betreuungsindustrie entstand und schrieb sich dies auf die Fahne. Eingliederungsstätten, Ausbildungsheime und Wohnzentren entstanden. Sie entsprachen offenbar einem Bedürfnis. Allerdings blieb die Eingliederung – sei es bei der Arbeit oder beim Wohnen – eher die Ausnahme. Nicht nur das gesellschaftliche Umfeld war noch nicht so reif, dass es die Menschen mit Behinderung in seiner Mitte willkommen heissen konnte, nein, auch entwickelte der Betreuungssektor, inzwischen zu einem namhaften, staatlich subventionierten Wirtschaftsfaktor angewachsen, eine Eigendynamik, die teilweise dem Bedürfnis der Behinderten nach Selbständigkeit zuwiderlief. Böse Zungen sprachen von einer Aussonderungsindustrie.

Der nächste grosse gesellschaftliche Schritt war das hehre Ziel der Integration, was zunächst nur ein moderneres Wort für Eingliederung war, also von der Idee her eigentlich nichts Neues. Doch diesmal war der gesellschaftliche Boden besser bereitet. Zum Beispiel war ab 2004 in der Schweiz das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft, worüber vorgängig landesweit abgestimmt wurde. Es handelte sich dabei um den moderateren Gegenvorschlag des Bundesrates zur Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte», die in ihren Forderungen nach Gleichstellung und gesellschaftlicher Teilhabe wesentlich weiter ging. Das Bewusstsein der Menschen ohne Behinderung war diesbezüglich also bereits etwas geschärft. Die Behinderten begannen nun die Gesellschaft zu infiltrieren. Man sah sie vermehrt auf öffentlichen Plätzen und auch an verantwortlichen Stellen. Sie traten selbstbewusster auf und forderten mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Vom Zweiklassensystem …
Doch das Konzept der Integration geht immer noch von einem Zweiklassensystem aus: Es gibt die (noch) nicht Dazugehörigen, die in die «normale» Gesellschaft eingegliedert werden sollen und – das hingegen ist neu – von der Gesellschaft nun auch faktisch willkommen geheissen werden, indem sie sich für die Aufnahme der Behinderten in ihrer Mitte fit macht. Ziel der Integration ist die Normalisierung der Lebensumstände der Menschen mit Behinderung. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, eine Arbeitsstelle einzunehmen. Sie sollen die Wahl haben, auch ausserhalb eines Heimes wohnen zu können. Der öffentliche Raum soll auch für sie uneingeschränkt zugänglich sein. Parallel dazu wird der Gesellschaft auch bewusst, dass Behinderte nicht so sehr wegen ihres Defizits behindert sind, sondern in vielfältiger, oft subtiler Weise von ihrer gesellschaftlichen Umgebung behindert werden.

… zur Inklusion
Der Boden ist nun vorbereitet für einen sozialen Paradigmenwechsel. Oder ist es eine stille Revolution? Der Massstab für gesellschaftliche Teilhabe ist nicht mehr eine Norm – etwa körperliche Unversehrtheit oder Selbständigkeit bei den täglichen Verrichtungen, aber auch ein bestimmter sprachlich-kultureller Hintergrund oder die soziale Herkunft. Vielmehr wird jeder Mensch in seiner Individualität und mit seinen besonderen Fähigkeiten, aber auch Einschränkungen grundsätzlich akzeptiert und als Erweiterung der Gesellschaft wahrgenommen. Vielfalt macht eine Gesellschaft farbiger – und robuster. Ein besonderer Mensch wird gar nicht erst – aus lauter Angst und unter der Behauptung eines «Normalen», das es so gar nicht gibt – ausgegrenzt, um ihn dann mit einigem Aufwand wieder zu integrieren. Vielmehr wird er von Beginn weg willkommen geheissen und die Gesellschaft genau um diese Individualität erweitert. Das nennt sich Inklusion. Und das braucht Mut – und ist vorläufig Zukunftsmusik, ein Ideal … Doch es ist auch ein logischer Schritt in der gesellschaftlichen Entwicklung. Denn die Ausgrenzung führt zu einer Schwächung des Einzelnen und der Gesellschaft als Ganzes. Ein ungeahntes Potenzial liegt brach, solange die Gesellschaft nicht eine Gesellschaft für alle ist. Ich wiederhole: für alle. Denn die Ausgegrenzten sind so oder so Teil unserer Gesellschaft, zumindest physisch, aber meistens und zum Glück auch darüber hinaus – aber eben kein vollwertiger Teil.

UNO-Konvention geht in die richtige Richtung
Nun muss das Ideal der Inklusion mit Leben gefüllt werden – ein langer Prozess, der nicht einfach verordnet werden kann. Inklusion wird an den Brennpunkten des Lebens verwirklicht und nirgendwo sonst: in der Schule, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Verkehr, in den Museen, den Kinos, in den Quartieren und den Verwaltungen. Inklusion lebt nur von Mensch zu Mensch. Trotzdem müssen die gesellschaftspolitischen Weichen in die entsprechende Richtung gestellt werden. Die «UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung» kann diesen Prozess anregen, da ihre Kernforderungen genau in diese Richtung gehen: Nichtdiskriminierung, Chancengleichheit, volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Barrierefreiheit. (Eine Arbeitsübersetzung ins Deutsche als Gegenvorschlag zur teilweise irreführenden offiziellen Übersetzung findet man hier [PDF, 180 KB, 25 S.].) In Deutschland wurde die Konvention unterzeichnet und ratifiziert, in der Schweiz noch nicht