In Erinnerung an Hans Bollhalder (7. August 1949 – 24. September 2015)

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Hans Bollhalder bei der Tanzvorführung «Hanzt» im Oktober 2005 mit den Tanztheater Beweggrund.
 (Bild: © Raphaël de Riedmatten)

Wen wundert’s, dass du müde geworden bist? Ein Leben in deinem verzwickten Körper hätte mich wohl schon viel früher erschöpft – obschon auch ich weiss, was es bedeutet, in einem behinderten Körper zu leben. Aber deiner, seit Jahren von Schmerzen bedrängt, zudem in hohem Mass hilflos, undienlich, aber dein Körper war eine Zumutung für den, der ihn bewohnt – für dich. Doch du hast ihn meist ohne Murren bewohnt. Wenn du gemurrt hast, dann gegen das Heimwesen, gegen die Betreuungsindustrie, der man als Schwerbehinderter nach wie vor ausgeliefert ist – und gegen Bevormundung und dass man als Schwerbehinderter immer wieder kämpfen muss, um ernst genommen zu werden.

Von deinen jungen Jahren weiss ich kaum etwas, bloss ein paar Bruchstücke: dass du schon als Kleinkind bei einer Pflegemutter und dann in Heimen aufwuchsest, heimatlos wegen deiner Behinderung. Als Jüngling und später als Erwachsener wurdest du in deiner Intelligenz immer wieder unterschätzt und warst in Ausbildung und Beruf letztlich unterfordert, vielleicht weil man sich nur schwer vorstellen konnte, dass in einem so versehrten Körper ein wacher Geist lebt. Vielleicht auch, weil für Schwerbehinderte keine berufliche Laufbahn vorgesehen war.

Du hast immer politisch gedacht und warst in jüngeren Jahren in der Bewegung für selbstbestimmtes Leben aktiv. Wohnen mit persönlicher Assistenz, also ausserhalb von Institutionen, war dein wichtigstes Anliegen. In frühen Jahren hast du damit experimentiert, danach jahrzehntelang vergeblich davon geträumt. Dass es dir letztlich nicht gelungen ist, auf Dauer ausserhalb von Heimen und selbstbestimmter zu leben, macht wohl die Tragik deines Lebens aus. Denn du musstest erfahren, dass trotz Fortschritten bei der Finanzierung eines Lebens mit persönlicher Assistenz Schwerbehinderte immer noch durch die Maschen fallen. Die aufwendige Assistenz wird von niemandem finanziert, es sei denn, man nimmt diese Unterstützung in einer bestehenden Institution in Anspruch. Wegen deinem hohen Pflegebedarf warst du in den Heimen gefangen. Und so hast du dich auch gefühlt, als Gefangener, der immer wieder und vergeblich versucht hat auszubrechen.

Kein Wunder, warst du ein unbequemer «Pflegling»! Deine Dickköpfigkeit kam dir zuweilen auch in die Quere. Mit Diplomatie wäre manchmal mehr zu erreichen gewesen. Doch was weiss ich? Vielleicht hast du ja die Diplomatie jahrelang ausgereizt – ohne Erfolg. In deiner Lage braucht es eine schöne Portion Mut, unbequem zu sein und nicht den braven, dankbaren Behinderten zu mimen. Du erinnerst mich in manchem an den schwerstbehinderten Kunstmaler und «Sozialflüchtling» Christoph Eggli, der nach Bali ausgewandert war, um den Schweizer Heimen zu entkommen, und den seine bekanntere, ebenfalls behinderte Schwester Ursula Eggli so charakterisiert hat: «… der mutige Kläffer Christoph, der alle verärgert, der alle angreift, der alle kritisiert, die um ihn herum leben, auch wenn er für jede Handreichung von ihnen abhängig ist.»

Nun, du warst zwar kein Kläffer. Aber dein Bedürfnis nach Autonomie war ähnlich ausgeprägt.

Die letzten Jahre hast du hauptsächlich im Bett verbracht. Du warst zunehmend isoliert. Das Pflegepersonal war über weite Strecken dein einziger menschlicher Kontakt, der Fernseher dein Tor zur Welt. Doch seelisch bliebst du erstaunlich robust. Du konntest lachen ohne Bitterkeit. Und wenn du von den Frauen schwärmtest, huschte ein sanftes, sehnsüchtiges Lächeln über das Gesicht von Hans im Glück. Über den Lauf der schweizerischen Politik konntest du dich mächtig erzürnen. Statt dass du mit der Faust auf den Tisch schlugst, wölbte der Zorn deine Augenbrauen in beängstigender Weise, und es schlugen Blitze aus deinen Augen hervor, die womöglich in Herrliberg oder Bundesbern registriert werden konnten.

Doch deine Bettlägerigkeit war auch ein Rückzug. Du hast vor der unerbittlichen Wirklichkeit resigniert. Als sich das selbständige Leben mit Assistenz, ja, die freie Wahl einer Institution für den letzten Lebensabschnitt definitiv als Illusion erwies, hast du immer mehr deine Stimme verloren, dann deine Zuversicht und schliesslich dein Leben. Du bist müde geworden. Und nun bist du, wenn ich das richtig einschätze – frei.


Die Trauerfeier findet am Mittwoch, 14. Oktober 2015, um 10.15 Uhr auf dem Friedhof Fichten in 4153 Reinach, BL, statt.

Aiha Zemp (1953 – 2011): behindert – und unbequem

Am 14. Dezember 2011 ist Ahia Zemp 58-jährig an den Folgen ihrer Behinderung gestorben. Auf dem Trauerzirkular stand ein Sinnspruch von Mahatma Gandhi: «Mein Leben ist meine Botschaft.» Und tatsächlich ist ihr Leben eine starke und ermutigende Botschaft für alle Menschen mit Behinderung. – Die Skizze eines unbändigen Lebens.

Äusserlich betrachtet waren die Voraussetzungen für ihr Leben denkbar schlecht: Aiha Zemp wurde mit Arm- und Beinstümpfen in ein katholisches Bauerndorf im Kanton Luzern geboren. Sie selbst sagte dazu, ihre Behinderung sei eine Laune der Natur und nicht, wie viele vermuteten, die Folge von Contergan. Die Ursache ihrer Behinderung liess sich nicht restlos klären. Das war ihr auch nicht so wichtig. Sehr viel wichtiger war, dass sie als Frau mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben führen konnte – damals wie heute alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Schon als Jugendliche musste sie nicht nur um ihre grösstmögliche Selbständigkeit, also mit den behinderungsbedingten körperlichen Einschränkungen ringen, sondern mehr noch gegen gesellschaftliche Zwänge und Diskriminierung. So schaffte sie etwa die Matura nur mit Ach und Krach, nicht weil es ihr an Intelligenz oder Wissen fehlte, sondern wegen praktischer Hindernisse, zum Beispiel weil das Hantieren mit Zirkel, Dreieck und Massstab für sie einer Akrobatiknummer gleichkam, was ihr im Fach Mathematik schlechte Noten einbrachte. Es folgte das Studium der Journalistik und später der Psychologie, bevor sie über 15 Jahre lang als Psychotherapeutin mit eigener Praxis tätig war.

Wille und Heiterkeit
Dieser berufliche Weg ist ohne den starken Willen Aiha Zemps nicht vorstellbar. Doch nicht der reine, vielleicht gar verbitterte Wille ist es, der all das und noch vieles mehr in ihrem Leben ermöglichte. Hinzukommen muss die Lebensfreude, die Lebenslust – und die Gewissheit, dass ein Leben mit Behinderung genau so, wie es ist, dieselbe Berechtigung hat wie jedes andere Leben auch und dass es niemanden gibt, der einen diese Berechtigung absprechen kann. Aiha Zemp war von jung an politisch aktiv, in der Behindertenszene ebenso wie als Feministin.

Und sie war eine heitere Frau. Von Verbitterung keine Spur, auch wenn sie einiges Bitteres zu schlucken hatte. So wurde sie wegen ihrer auffälligen Behinderung ab den 1990er Jahren auf der Strasse oder im Tram vermehrt und immer wieder angefeindet: «Gib dir die Kugel! Sonst geb ich sie dir.» Oder im scheinheiligen Mäntelchen des Mitleids: «Es ist doch schade, dass es die segensreiche Einrichtung dieser Untersuchungen vor der Geburt nicht damals schon gegeben hat; Ihr Schicksal wäre Ihnen doch erspart geblieben.»[1] Solch verbale Gewalt wäre laut Aiha Zemp noch zehn Jahre vorher nicht vorstellbar gewesen. Die pränatale Diagnostik und das damit verbundene eugenische Denken, das definieren will, was unwertes Leben ist, erlebte sie als unmittelbare Bedrohung ihrer eigenen Lebenswürde. Sie kämpfte deshalb politisch vehement dagegen an, zum Beispiel in der NOGERETE, der Schweizer Frauenorganisation gegen Fortpflanzungstechnologie.

In die Selbständigkeit ausgewandert
Im Jahr 1997 wandert Aiha Zemp nach Ecuador aus und kann dort nach umsichtigen Vorbereitungen ein Leben in einer Selbständigkeit führen, wie sie in der Schweiz damals nicht möglich gewesen wäre. Sie erfüllt sich damit einen Traum gleich in mehrfacher Hinsicht. Unter anderem kann sie dort ihre Bäuerinnenseele ausleben: «Auf meinem Gelände leben drei Angestellte mit ihren Kindern. Zwei Hunde, Enten und ein Gänsepaar, Hühner, mehrere Bienenvölker, Fische, Frösche und Kröten, wunderschöne Vögel, viele Libellen und nachts Glühfliegerchen beleben meine Umgebung. Der biologische Gemüse- und Blumengarten ist als Labyrinth angelegt. In vier Teichen sammelt sich das Regenwasser, mit dem wir in der Trockenzeit den Garten bewässern, der viele ernährt.»[2]

Doch sie gehorcht mit diesem Umzug auch einer Not. Denn in der Schweiz hätte sie sich die notwendige Assistenz unmöglich leisten können. Sie wäre dazu verurteilt gewesen, in einer Behinderteninstitution zu leben, was für Aiha nicht in Frage kam. In Ecuador hingegen konnte sie sich Angestellte leisten, die die Hilfeleistungen sicherstellten. Wenn es noch einen weiteren Beweis für ihre Lebenfreude und ihren Lebensmut bräuchte, so liefert ihn die Tatsache, dass sich Aiha öfters in einem speziell konzipierten Rucksack bis hoch in die Anden tragen liess, bis dorthin, wo keine Fahrzeuge mehr hinkommen und der Himmel nah ist.

Behinderung und Sexualität
Der Traum in Ecuador findet im Jahr 2002 ein unvermitteltes Ende, als in der Schweiz beschlossen wird, künftig weder Hilflosenentschädigung noch die Finanzierung von Hilfsmitteln ins Ausland zu transferieren. Aiha Zemp muss aus wirtschaftlichen Gründen in die Schweiz zurückkehren. Sie sagt dazu lapidar: «Mein Leben ist eine Karawanserei», tritt aber, nachdem sie sich in Basel niedergelassen hat, beruflich bald die Flucht nach vorne an und baut ab 2003 die «Fachstelle Behinderung und Sexualität» (fabs) auf. Das Thema ist für sie nicht neu, hat sie dazu doch bereits mehrere Studien verfasst, etwa für das österreichische Familienministerium zum Thema: Sexuelle Gewalt an Menschen mit Behinderung. Die erschreckende Erkenntnis: Ein grosser Teil der Mädchen und jungen Frauen und in etwas geringerem Ausmass der Jungen und jungen Männer in Behinderteninstitutionen haben sexuelle Gewalt am eigenen Leib erfahren. Für Aiha Zemp ist klar: Je selbstbestimmter die Menschen mit Behinderung leben können, gerade auch in ihrer Sexualität, umso weniger Chance hat sexuelle Gewalt. Fortan transportiert sie als Geschäftsleiterin der fabs diese Erkenntnisse in die Gesellschaft und die Institutionen und trägt durch Aufklärung, Weiterbildung, Forschung sowie Öffentlichkeitsarbeit dazu bei, dass Menschen mit Behinderung ihre Sexualität selbstbestimmt leben können. In dieser Aufgabe strömen laut Aiha mehrere Bäche ihres Lebens in einem See zusammen, und sie schätzt sich glücklich, die letzten Berufsjahre mit dieser spannenden Aufgabe zu verbringen. Allerdings muss die Fachstelle im Jahr 2010 mangels Geld aufgegeben werden. Offensichtlich will es sich die Gesellschaft nicht leisten, das Thema Sexualität und Behinderung mit einer eigenen Fachstelle so zu vertiefen, dass die Selbstbestimmung der Behinderten weiter gefördert und die sexuelle Gewalt zurückgedrängt wird …

Innere Weiten
Eine wenig bekannte Facette Aiha Zemps ist ihr innerer Reichtum, ihre Spiritualität. Eine Ahnung davon erhielt ich bei einer kurzen Begegnung wenige Monate vor ihrem Tod. Wir sahen uns zufällig am Kleinbasler Rheinufer. Auf meine Frage, wie es ihr gehe, antwortete sie: «Mir geht es gut. Doch mein Körper will nicht mehr.» Und dies sagte sie in einer heiteren Gelassenheit, die überzeugte. So kann nur jemand sprechen, der in Kontakt ist mit den inneren Dimensionen des Daseins, die weit über das rein Körperliche hinausgehen.

Nicht von Religion ist hier die Rede – und schon gar nicht von der Kirche. Zu dieser hatte Aiha – gelinde gesagt – ein gespaltenes Verhältnis, wurde ihr doch nach ihrer Geburt zunächst die kirchliche Taufe verweigert. Erst nachdem ihr Vater darum kämpfte, durften die Eltern sie taufen lassen – allerdings nicht auf den Namen Maria, der ihr zugedacht war – so hiess ihre Mutter –, sondern auf den Namen Theresia. Begründung des Vikars: Dem Namen Maria, die Empfangende und Gebärerin, könne ein Mädchen mit solch einer Behinderung nie gerecht werden. Der kirchlich aufgezwungene Name Theres blieb Aiha zeitlebens fremd, weshalb sie ihn später ablegte.

Trotz der widrigen Umständen lebte Aiha Zemp ein reiches, geradezu unbändiges Leben. Sie war kämpferisch und selbstbewusst, für viele auch herausfordernd und unbequem. Sie war aber auch tiefgründig, weich und heiter. Und sie verkörperte in schöner Weise die Erkenntnis: Es ist nicht so wichtig, was für ein Schicksal dich trifft. Wichtiger ist, was du daraus machst.

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Anmerkungen:

[1] werft_die_prothesen_weg.pdf ((Link nicht mehr verfügbar))

[2] zu_meiner_person ((Link nicht mehr verfügbar))

Quellen:

UNO-Behindertenkonvention: Jetzt unterzeichnen!

Warum bloss ist mir das Thema unters Eis geraten? Vielleicht, weil das Ringen um die aktuellen IV-Revisionen viele andere Diskussionen im Behindertenbereich übertönt? Oder gar, weil die UNO, die Vereinten Nationen, so weit weg sind, dass man sich fragt, ob eine solche Konvention für uns Rollifahrer und für andere Behinderte in der Schweiz überhaupt bedeutsam ist, also konkret etwas in unserem Leben zu verändern vermag?

Von neuem auf das Thema gestossen bin ich durch eine dürre Agenturmeldung in der Basler Zeitung – ja, ich lese sie noch, die SVP-BaZ –, wonach die Ratifizierung (und wohl auch die vorgängige Unterzeichnung) der UNO-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderung durch die bürgerlichen Parteien abgelehnt würde. Das Thema begann mich zu interessieren … Denn begründet wird die Ablehnung damit, „dass das Abkommen ein Recht auf Arbeit vorsehe, das die Schweiz nicht kenne“.

Als Beobachter, der selbst im Rollstuhl sitzt, kann ich mir ein mildes Lächeln nicht verkneifen. Aha, nun haben also die Wirtschaftslobbyisten bürgerlichen Politiker ein Haar in der Suppe gefunden und möchten diese am liebsten grad ganz in den Ausguss schütten. Bestimmt gibt es noch andere Haare in dieser Suppe, vielleicht gar büschelweise – zumindest aus der Ego-Shooter-Sicht. Denn die UNO-Konvention soll die Position der Behinderten stärken, nicht nur rechtlich, sondern auch gesellschaftspolitisch, indem das Abkommen von einem ausgesprochen modernen Begriff für Behinderung ausgeht. Nach diesem ist der Ausschluss von Behinderten nicht so sehr eine Folge der persönlichen Defizite und Einschränkungen der Betroffenen selbst, sondern Ausdruck einer ungenügenden Berücksichtigung der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Etwas einfacher gesagt: Menschen mit Behinderung werden, womöglich schon als Kind, gesellschaftlich ausgeschlossen, weil die Gesellschaft auf ihre besonderen Bedürfnisse nicht eingehen will oder kann. Später werden dann von beiden Seiten teils teure (Re-)Integrationsmassnahmen erforderlich, die den Ausschluss zumindest teilweise wieder rückgängig machen. Dem steht das Konzept der Inklusion gegenüber – wie sie von der UNO-Behindertenkonvention gefordert wird. Inklusion schliesst Menschen mit Behinderung gar nicht erst aus der Gesellschaft aus. Das hilft unnötiges Leid verhindern – und auch Kosten sparen …

Zurück zu den bürgerlichen Politikern: Das Argument der Kostenersparnis sollte ihnen eigentlich das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Doch der Spareffekt durch die Inklusion von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft wird, so fürchte ich, eher ein Generationenprojekt denn ein solches der Legislaturperiode. Und einen so weiten Blick darf man den bürgerlichen Politikern nicht abverlangen – vielleicht überhaupt keinen Politikern … (Ups! Jetzt wettere ich über die Politiker schon wie ein richtiger SVP-Anhänger. Wie konnte es so weit kommen?)

Doch zumindest kann man versuchen, den PolitikerInnen in Bundes-Bern etwas Beine zu machen. Das Zentrum für Selbstbestimmtes Leben (ZSL) sammelt zu diesem Zweck – nein, kein Geld, sondern Unterschriften für eine entsprechende Petition … Nicht nur stimmberechtigte Schweizer BürgerInnen und Bürger, auch AusländerInnen, ja sogar Kinder und Jugendliche dürfen unterschreiben. (Dafür ist eine Petition für die Politik nicht wahnsinnig verbindlich. Trotzdem entfaltet sie, je nach Anzahl der Unterschriften, ihre Wirkung.) Zur Online-Petition geht es hier lang. Die Petition soll den Bundesrat dazu animieren, die UNO-Behindertenkonvention im Namen der Schweiz zu unterzeichnen und im Parlament ratifizieren zu lassen.

Doch gibt es noch andere Gründe, die Petition zu unterschreiben, als nur um den PolitikerInnen einzuheizen? – Aber sicher.

Die Unterzeichnung der UNO-Konvention stärkt tendenziell die Behinderten in verschiedenen Bereichen ihres Lebens – kulturell, wirtschaftlich, politisch und sozial –, indem entsprechende Grundrechte – zunächst – proklamiert werden. Diese Rechte gehen nicht über die allgemeinen Menschenrechte hinaus, sind also keine Sonderrechte. Vielmehr sind sie die „einfache, klare Anwendung der allgemeinen Menschenrechte auf den Teil der Bevölkerung mit einer Behinderung. Eine Nicht-Unterzeichnung kommt einer Aberkennung der Menschenrechte für diesen Teil der Bevölkerung gleich.“ (Zitat ZSL) Als klare Rechte sind etwa definiert:

Das Recht auf selbstbestimmte Lebensführung
Das ist alles andere als selbstverständlich … Denn dazu gehört etwa das Recht aller Menschen mit Behinderung, ihre Lebens- und Wohnform ebenso frei wählen zu dürfen, wie dies für die anderen Menschen – ich nenne sie zuweilen etwas salopp: die scheinbar Nichtbehinderten –, wie sie für andere Menschen eine Selbstverständlichkeit ist.

Barrierefreiheit
Meint den gleichberechtigten Zugang zu Angeboten der Öffentlichkeit, also zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschliesslich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind oder bereitgestellt werden.

Recht auf Bildung
Die Vertragsstaaten müssen ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslange Fortbildung gewährleisten.

Recht auf Arbeit und Beschäftigung
Die Vertragsstaaten müssen das gleichberechtigte Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit anerkennen. Hierzu müssen die Vertragsstaaten insbesondere Rechtsvorschriften erlassen, welche Diskriminierung auf Grund einer Behinderung in allen Fragen der Beschäftigung jeder Art verbieten, einschliesslich der Bedingungen in Bezug auf Rekrutierung, Einstellung und Beschäftigung, Weiterbeschäftigung, Aufstieg sowie sichere und gesunde Arbeitsbedingungen.

Die paar wenigen Beispiele machen einerseits deutlich, wie viele Selbstverständlichkeiten für Menschen mit Behinderung eben alles andere als selbstverständlich sind, z.B. die Selbstbestimmung. Anderseits zeigen die Beispiele, wie weitreichend und modern die UNO-Konvention die Themen angeht und benennt.

Seit dem Jahr 2008 ist die UNO-Behindertenkonvention in Kraft, denn im April jenes Jahres hatten zwanzig Staaten die Konvention ratifiziert. Inzwischen haben 147 Staaten unterzeichnet und deren 99 die Konvention ratifiziert, darunter die Europäische Union, aber auch Staaten wie Äthiopien, Haiti, Indien (eine vollständige Liste gibt es hier). Die Schweiz gehört nicht zu den Unterzeichnern – bis jetzt … Sie ist diesbezüglich unter den „zivilisierten Ländern“ in einer Aussenseiterposition. Was die Dominanz der bürgerlichen Parteien nicht alles für Folgen hat …

***

Nochmals: Die Online-Petition zugunsten der UNO-Behindertenkonvention kann hier unterschrieben werden. Kleiner Aufwand – (womöglich) grosse Wirkung! – Und die Zeit drängt.

Christoph Eggli (1952 – 2010)

Nicht dass ich Christoph Eggli persönlich gekannt hätte. Doch am Horizont meines Lebens als Rollstuhlfahrer ist er immer wieder aufgetaucht – zunächst als Bruder seiner wohl bekannteren Schwester Ursula Eggli, Schriftstellerin und für kurze Zeit meine Zimmernachbarin im Wohnheim Rossfeld, später als Poltergeist der Behindertenszene und bekennender Homosexueller. Er und seine Schwester waren beide an Muskelschwund erkrankt. Beide waren in hohem Masse auf Assistenz und Pflege angewiesen. Und beide hatten die Prognosen ihrer Ärzte wohl um Jahrzehnte überlebt. Sie starb im Jahr 2008 mit 64 Jahren, Christoph im Sommer 2010.

Unbeugsamer Geist

Christoph in jungen Jahren

Aus der Entfernung bewundert an Christoph habe ich seinen unkonventionellen, unbeugsamen Geist. Er passte einfach in keine Schublade. Ohne ihn und seine MitstreiterInnen würden die Schweizer vielleicht heute noch glauben, Behinderte hätten keine Sexualität und wären Wesen eines anderen Planeten, nämlich Bewohner von Heimen, wo sie auch am besten aufgehoben seien … Er muss mit den Behörden, insbesondere mit der Invalidenversicherung und anderen Exponenten der institutionalisierten Behindertenhilfe, in ewigem Kampf gelegen haben. In der damaligen Zeit war es für einen Schwerstbehinderten, der praktisch rund um die Uhr auf Hilfestellungen und Pflege angewiesen war, ein Ding der Unmöglichkeit, selbstbestimmt und ausserhalb einer Behinderteninstitution zu leben. Keine Versicherung finanzierte das, die IV schon gar nicht.

„Der mutige Kläffer Christoph“

In den 1980er Jahren entstanden die ersten selbstverwalteten Wohngemeinschaften für Menschen mit einer Körperbehinderung, gedacht als Gegenentwurf zu den konventionellen Wohn- und Beschäftigungsheimen. Doch auch solche Selbsthilfe-Einrichtungen entwickelten sich bald zu behäbigen Institutionen und waren ihm auf die Dauer zu eng. Der Anspruch auf Selbstbestimmung und ein eigenes Zuhause war letztlich für ihn nicht verhandelbar. Offensichtlich war er auch für seine nächste Umgebung alles andere als der anspruchslose und dankbare Behinderte. So beschrieb ihn Ursula, seine Schwester, als „… der mutige Kläffer Christoph, der alle verärgert, der alle angreift, der alle kritisiert, die um ihn herum leben, auch wenn er für jede Handreichung von ihnen abhängig ist.“

Auszug nach Bali

Besuch in Bali von Schwester und Freunden

Im Mai des Jahres 2000, nach einer 41-jährigen Karriere in den unterschiedlichsten Heimen und WGs, ist Christoph nach Bali ausgewandert – als „Sozialflüchtling des Schweizer Invalidenheims“. Dort baute er sich eine Existenz auf – nun weitgehend selbstbestimmt und mit minimalster finanzieller Unterstützung aus der Schweiz. Als Geburtsbehinderter wurde ihm keine IV-Rente ins Ausland ausbezahlt. Statt dessen musste er von der Sozialhilfe für AuslandschweizerInnen leben. Unbeirrt richtete er sich in Bali häuslich ein, unterstützt und gepflegt von balinesischen Assistenten und in Gemeinschaft mit Ida, seiner späteren Frau. Um sie zu heiraten, konvertierte er zum Islam und nannte sich fortan Muhammad Adi Putra (Christoph Eggli). Offenbar hatte er mit der Hinwendung zum Islam nicht nur der Form Genüge getan, sondern fand in der neuen Religion auch einen gewissen Halt. Doch auch in dieser Hinsicht wäre es falsch, ihn mit einem süffisanten „Aha“ zu schubladisieren.

Aus Bali hat er sich immer wieder über seinen Blog „Christoph in Bali“ ((Link nicht mehr verfügbar)) bemerkbar gemacht: tagebuchartige und zuweilen spitze Wortmeldungen zu seinem Leben dort und zur Politik im allgemeinen sowie zur Schweizer Behindertenpolitik. Der letzte Eintrag stammt vom 5. Juni 2010, wenige Tage bevor er im Spital Surya Husadha in Denpasar mit 58 Jahren an einer Lungenentzündung starb.

Quelle Bilder: www.ursulaeggli.ch